15 Jahre sind seit dem Kongress vergangen

Das Original-Titelbild der CONTRASTE zum Kongress


Foto: Olaf Ramcke/Umbruchbildarchiv

Anders Arbeiten - oder gar nicht?!

Vor 15 Jahren, im April 1999, fand an der Berliner Humboldt-Universität der Kongress "Anders Arbeiten - oder gar nicht!?" statt. Veranstaltet von Netzwerk Selbsthilfe und CONTRASTE, dem RefRat der Humboldt Uni (ReferentInnen-Rat, der die Beschlüsse des StudentInnenparlaments umsetzt) und der eigens zu diesem Zweck gegründeten "Initiative anders arbeiten".

 

Elisabeth Voß, Redaktion Solidarische Ökonomie Ein halbes CONTRASTE-Leben ist der Anders-Arbeiten-Kongress nun her. In dieser Zeit hat sich die Gesellschaft in einem Maße verändert, das wir uns damals auch nicht annähernd haben träumen lassen. 1998 endete nach 16 Jahren die Ära Helmut Kohl. Eine rot-grüne Bundesregierung weckte selbst bei regierungskritischen Linken und Alternativen leise Hoffnungen auf Veränderung. Hoffnungen unter anderem auf einen wachsenden Dritten Sektor, jenseits von Markt und Staat, in dem die Wirtschaft lokal, genossenschaftlich und selbstverwaltet organisiert sein sollte, und in dem die Menschen selbstbestimmt und sinnvoll tätig sein könnten. Wir gingen davon aus, dass die Zeit der Vollbeschäftigung endgültig vorbei sei. Diejenigen, die keine Erwerbsarbeit finden, sollten in einem dauerhaft finanzierten, demokratisch ausgestalteten Öffentlich Geförderten Beschäftigungssektor (ÖBS) auf freiwilliger Basis und tariflich entlohnt arbeiten. Die dort geleisteten gesellschaftlich notwendigen Arbeiten im Betreuungsbereich verstanden wir auch als einen Schritt zu mehr Geschlechtergerechtigkeit. Arbeitszeitverkürzung und ein Bedingungsloses Grundeinkommen standen auch auf der Wunschliste.

Netzwerk Selbsthilfe hatte die Initiative zum Kongress im Herbst 1998 ins Leben gerufen, nicht zuletzt, um die neue Bundesregierung kritisch-solidarisch zu begleiten. Im März 1999 erschien in der taz eine 4-seitige CONTRASTE als Kongressbeilage: "Die Zeit, in der Erwerbsarbeit eine allgemeingültige Lebensperspektive darstellte, ist unwiederbringlich vorbei. Nichts spricht bisher dafür, dass die rot-grüne Regierung die Fantasie, den Mut und die Kraft hätte zu einer Politik, die diesem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel in emanzipatorischem Sinne gerecht wird." Der Kongress sollte die Frage behandeln "wie ein in materieller und sozialer Hinsicht befriedigendes, selbstbestimmtes Leben und Arbeiten für alle erreicht werden kann." Mit einer aus heutiger Sicht erstaunlichen Naivität stellten wir fest: "Nach Überzeugung der 'Initiative anders arbeiten' birgt dieser sogenannte '3. Sektor' ungeahnte Potentiale kreativer Entfaltung und auch Möglichkeiten der Existenzsicherung für Menschen, die gewollt oder ungewollt aus der Erwerbsarbeit herausfallen."

Als der Kongress vom 23. bis 25. April 1999 stattfand, war ein anderes Thema brennend aktuell: Genau einen Monat zuvor hatte der NATO-Krieg gegen Serbien begonnen, ohne Mandat der Vereinten Nationen, mit aktiver Beteiligung der Bundeswehr. Zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg war Deutschland aktiv an einem Angriffskrieg beteiligt, 58 Jahre, nachdem Serbien von Nazi-Deutschland angegriffen worden war. Zur Podiumsdiskussion auf dem Anders Arbeiten-Kongress waren auch PolitikerInnen von SPD und Grünen eingeladen - nach kontroversen Diskussion entschieden wir, sie nicht auszuladen, uns aber gleich zu Beginn des Kongresses klar zu positionieren. Dino Laufer von Netzwerk Selbsthilfe eröffnete den Kongress mit der Erklärung: "Bevor Forderungen zu 'Anders arbeiten - oder gar nicht?!' gestellt werden können, gibt es eine viel zentralere Forderung, nämlich die nach sofortiger Beendigung der Bombardierung Jugoslawiens durch die Nato", und verlas eine entsprechende Erklärung serbischer Organisationen und Friedensgruppen. Die April-Ausgabe der CONTRASTE hatte als Schwerpunkt den Kongress, und setzte sich auch kritisch mit dem Begriff "Dritter Sektor" auseinander. Denn "'3. Sektor' bedeutet einzig und allein, daß es sich weder um Wirtschaftsbetriebe mit Gewinnerzielungsabsicht noch um staatliche Einrichtungen handelt. Weitere formale oder gar inhaltliche Kriterien sind damit nicht benannt, und die Arbeitsverhältnisse im '3. Sektor' reichen von hochdotierten Geschäftsführungsposten bis zu unbezahltem Engagement." Der Leitartikel auf Seite eins titelte jedoch "Stoppt die NATO! Hände weg von Jugoslawien!"

Die Ergebnisse des Kongresses wurden in einem "Berliner Frühlingspapier" veröffentlicht, in dem sich so schöne Sätze fanden wie: "Angesichts der Massenerwerbslosigkeit kann die kollektive, autonome Organisation des Lebens und Arbeitens eine Form sein, finanzielle Sicherheit und soziale Einbindung auch für Menschen außerhalb der traditionellen Selbstverwaltungsszene zu realisieren. Um selbstverwaltete und selbstorganisierte Formen des Lebens und Arbeitens dauerhaft zu ermöglichen, müssen sich die materiellen Grundlagen dieser Projekte im gemeinschaftlichen Besitz befinden. Für Menschen, die nicht über die Mittel zum Aufbau tragfähiger Projekte verfügen, soll der Staat entsprechende Möglichkeiten bereitstellen."

Weil wir die Diskussionen so spannend fanden, beschlossen wir, nach dem Kongress weiterzumachen. Sieben Jahre lang arbeiteten in der "Initiative anders arbeiten" Menschen aus selbstverwalteten Zusammenhängen, politische AktivistInnen und VertreterInnen der Erwerbslosenbewegung zusammen. Im Vergleich zu heute waren die Krisenfolgen in Deutschland relativ harmlos. Politisch denkenden ZeitgenossInnen war durchaus bewusst, wie global privilegiert auch ihr eigenes Leben war. Bereits in den 1980er Jahren wurden öffentliche Finanzierungen für kulturelle und soziale Einrichtungen abgebaut und durch Beschäftigungsmaßnahmen ersetzt. Diese waren anfangs mit tariflicher Entlohnung recht auskömmlich ausgestattet, die jedoch schrittweise gesenkt wurde. Die anfänglichen Hoffnungen, damit alternativökonomische Strukturen aufbauen zu können, waren 1999 längst enttäuscht: "Überwiegend aus Teilen der alternativen Szene, die trotz der Staatsknetedebatten der 80er Jahre keine Scheu hatten, öffentliche Fördermittel anzunehmen, ist die heute unüberschaubare Fülle von Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften erwachsen. Mittlerweile oft ohne eigene Ideen und Ideale am Tropf der verschiedenen staatlichen Finanziers hängend, haben sie ihre selbstverwalteten Ursprünge fast vollständig aufgegeben. Die Beschäftigten werden auf befristeten, untertariflich bezahlten Arbeitsplätzen vor allem in sozialen und ökologischen Arbeitsfeldern eingesetzt. Dabei verhindert die Kurzfristigkeit der Maßnahmen qualitative fachliche Entwicklungen, während durch mehr oder weniger sinnvolle Zwangsqualifizierungen suggeriert wird, fehlende Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt wären durch individuelle Bildung abzumildern."

Trotzdem gab es noch ein gewisses utopisches Potential und eine Hoffnung, dass sich manches durch den Regierungswechsel zum Besseren wenden könnte. Doch bald fielen wir von einem Entsetzen ins nächste. Wir erlebten, wie der Sozialstaat systematisch abgebaut wurde. Zuerst wurde die Arbeitslosenhilfe abgeschafft und statt dessen Hartz IV eingeführt. Dann ging es der paritätischen Altersvorsorge an den Kragen. Die Unternehmen wurden entlastet, während die Beschäftigten mit der Riester-Rente genötigt wurden, privat vorzusorgen und sich damit auch am Kapitalmarkt zu beteiligen. Geförderte Arbeitsstellen wurden schon immer zugewiesen, statt sie frei auszuschreiben. Aber mit Hartz IV begann eine Arbeitsmarktpolitik, die in bislang ungekanntem Maße entwürdigend und von Verfolgungsbetreuung gekennzeichnet war. Mit Begriffen wie "Eigeninitiative" und "Selbstverantwortung" wurde die Individualisierung und Privatisierung der Lebensrisiken so vermarktet, als handele es sich um eine Befreiung aus den Fesseln staatlicher Fürsorge. Die Initiative Anders Arbeiten versuchte über viele Jahre, gegen diesen Sozialabbau zu kämpfen. Wir schrieben Offene Briefe, organisierten Aktionen und Veranstaltungen, oft gut besucht und mit großer öffentlicher Resonanz, und letztlich doch hilflos. Den Funken des Widerstands gelang es nicht, auf größere Bevölkerungskreise überzuspringen.

Die einzigen Punkte des Frühlingspapiers, die umgesetzt wurden - vielleicht nicht, oder zumindest nicht nur unseretwegen, aber immerhin - waren die Forderungen zum Thema Genossenschaften:

  • "Novellierung des Genossenschaftsgesetzes: Absenkung der Mindestmitgliederzahl bei Genossenschaften auf drei Mitglieder. Die bisherige Mindestgröße von sieben Mitgliedern ist die größten Hürde für diese Art von Betrieben. Diese Beschäftigtenzahl wird oft erst nach mehrjähriger Geschäftstätigkeit erreicht. Da die Betriebe anfangs meist noch kleiner sind, können sich 60 % bis 70 % allein wegen ihrer Größe nicht als eingetragene Genossenschaft gründen.

  • Recht auf Wahlfreiheit von Aufsichtsräten: Heute muß eine Genossenschaft neben der Generalversammlung und dem Vorstand als drittes Pflichtorgan einen Aufsichtsrat haben. In den existierenden kleinen Produktivgenossenschaften ist der Aufsichtsrat praktisch funktionslos. Deshalb müssen künftig durch die Satzung sämtliche Aufgaben des Aufsichtsrates bei Genossenschaften bis 20 Mitgliedern auf die Generalversammlung übertragbar sein.

  • Anpassung des Steuerrechtes: Gemeinnützigkeit muß auch für Genossenschaften ermöglicht werden. Dies bedeutet eine Gleichstellung mit anderen Rechtsformen wie den eingetragenen Vereinen oder die gemeinnützigen GmbHs."

Alle drei Forderungen sind mittlerweile erfüllt. Einen Genossenschaftsgründungsboom hat es trotzdem nicht gegeben, insbesondere ist nach wie vor kein Trend zur Entstehung von Produktivgenossenschaften auszumachen, in denen sich die Mitglieder eigene Arbeitsplätze schaffen. Ein halbherziges Programm der Berliner Senatsverwaltung und der IBB (Investitionsbank Berlin) zur Förderung von Genossenschaftsgründungen aus der Erwerbslosigkeit mit zinsverbilligten Darlehen vor etwa zehn Jahren wurde wieder eingestellt, nachdem es überhaupt nicht nachgefragt wurde. Auch die Ergebnisse der Bemühungen der innova eG, die eigens zur Unterstützung von Selbsthilfegenossenschaften Erwerbsloser gegründet wurde, blieben bescheiden. Die Befreiung von der Pflichtprüfung für kleine Genossenschaften, wie sie heute zum Beispiel vom ZdK (Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften) gefordert wird, war damals noch kein Thema.

Fünfzehn Jahre nach dem Kongress Anders Arbeiten haben sich die gesellschaftlichen Widersprüche und sozialen Spaltungen verschärft. Die zunehmende materielle Not und die Entstehung eines Niedriglohnsektors kündigten sich damals schon an, waren aber noch nicht so deutlich sichtbar und beherrschten nicht die Diskurse. Anders zu arbeiten bedeutet heute meist, unter prekären Bedingungen zu versuchen, irgendwie über die Runden zu kommen. Ob als NiedriglöhnerIn, FreiberuflerIn oder in selbstverwalteten Projekten - oft reicht das Geld nicht zum Leben, und muss beim Jobcenter aufgestockt werden. Existenzsichernde kollektive Strukturen sind selten, eher Ausnahmeerscheinungen in Nischen als gesellschaftliche Perspektiven aufzeigend.

Der nächste große Event, an dem sich CONTRASTE beteiligte, war der Kongress Solidarische Ökonomie im Dezember 2006 an der TU Berlin. Diskurstechnisch war er erfolgreicher als der Anders Arbeiten-Kongress. Der Begriff "Solidarische Ökonomie" hat seither mit Veranstaltungen und Publikationen einen erstaunlichen Bekanntheitsgrad erreicht. Die Arbeit selbst, diese menschliche Fähigkeit, aus natürlichen Ressourcen das herzustellen, was Menschen zum Leben brauchen, diese Quelle der Produktion und Reproduktion, die viel zu oft entwürdigt, be- und vernutzt wird - diese Arbeit hätte sicher viel mehr Aufmerksamkeit verdient, als ihr in den meisten Anders-Wirtschaften-Debatten zukommt.

Die Initiative Anders Arbeiten hat sich nach einigen Konflikten 2006 als ruhend erklärt. Einige ihrer Mitglieder nutzen weiterhin das Initiativenbüro von Netzwerk Selbsthilfe im Kreuzberger Mehringhof für ihre verschiedenen Vorhaben. Von dort aus wird nun auch CONTRASTE koordiniert.

Die Autorin Elisabeth Voß hat für CONTRASTE in der Kongress-Vorbereitungsgruppe mitgearbeitet und war bis zuletzt aktives Mitglied der Initiative anders arbeiten. Beim NETZ für Selbstverwaltung und Selbstorganisation hat sie im Rahmen des innova-Projektes versucht, Genossenschaftsgründungen von Erwerbslosen zu initiieren.

Mehr Infos:

Zum Kongress 1999, mit den Texten der taz-Beilage und dem Berliner Frühlingspapier:

http://www.contraste.org/AlteHomepage/kongress_berlin_1999.htm

CONTRASTE 175, April 1999:

http://www.contraste.org/AlteHomepage/Archiv/april1999.htm

Alle Zitate sind in diesen Veröffentlichungen erschienen.

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