Sand im Getriebe sein

Frits ter Kuile. Foto: Privat

Frits ter Kuile, 56, lebt seit 1996 im Gemeinschaftshaus der Catholic Worker in Süd-Ost-Amsterdam. Zwischen 22und 30 Menschen – die Zahl schwankt - haben sich dort zusammengefunden, rund die Hälfte sind Geflüchtete ohne Papiere. Es ist ein „Haus der Gastfreundschaft“ in der Tradition der US-amerikanischen christlichen Anarchistin Dorothy Day. CONTRASTE-Redakteurin Ariane Dettloff hat mit Frits über sein Engagement im Gemeinschaftsprojekt der Catholic Worker-Gruppe gesprochen.

Du bezeichnest dich als christlichen Anarchisten und Pazifisten und lebst in einer „Catholic Worker“-Gemeinschaft. Bist du katholisch?

Ein bisschen bin ich katholisch wegen der schönen Liturgie, aber ich bin im Herzen ein Quäker und ein bisschen Mennonit. Ich bin aber auch bourgeois, denn ich habe auch einen Ausweis und ein Bankkonto. Ich bin sehr froh, dass es mit der Catholic Worker-Bewegung so eine Nische gibt, wo man christlich anarchistisch pazifistisch leben kann.

Wie bist du dazu gekommen?

Ich hatte nach dem Abitur zunächst angefangen, Genetik zu studieren. Aber ich habe sehr schnell bemerkt, dass die Universitäten den Zug zum Abhang immer effizienter und schneller machen. Sie zielen vor allem darauf ab, dass die Menschen gute Produzenten und Konsumenten werden. Da spürte ich: Gott ruft mich, um Sand im Getriebe zu sein. Nach einem Semester habe ich die Uni zum großen Schreck meiner Eltern verlassen und habe versucht, Sand zu werden. Das war 1983.

Wie sah das aus?

Ich ging ins Peace Camp nach Woensdrecht, dem Standort der US-Atomwaffen Cruise Missiles in Holland – sozusagen unser Mutlangen. Dort habe ich vier Jahre lang gelebt. Wir haben dort immer wieder blockiert und Mahnwachen abgehalten.

Okay – du hast in dieser Zeit aber auch im Gefängnis gesessen. Warum?

Das Militär wollte mich einberufen. Aber ich habe gesagt: „Ich habe Wichtigeres zu tun! Ich habe mich auch nicht vor so eine Kommmission gestellt, die dann dein Gewissen prüft. Denn ich finde es widersinnig, dass wenn ein Mensch eine Uniform anzieht und bereit ist, Menschen zu töten, die er ja gar nicht kennt, dass dessen Gewissen nicht geprüft wird, aber dass mein Gewissen, wenn ich sage: bei so etwas mache ich nicht mit, geprüft werden soll. Ich hätte Zivildienst machen können. Aber Gesetzen, die auch den Atomtod, die Raketen und Atomkraftwerke und Rüstungsexporte absichern, denen beuge ich mich nicht. Deswegen wurde ich zu neun Monaten Haft verurteilt.

Und heute lebst du im Jeannette-Noel-Haus. Nach wem ist es benannt?

Jeannette Noel war eine Anhängerin der Catholic Worker in den USA. Sie hat ihr Haus für Obdachlose geöffnet. Als das eines Tages abgebrannt war, zog sie zu Dorothy Day, der Gründerin der Bewegung nach New York. Dort hat unser Mitbewohner Gerhard sie kennengelernt. Als er nach Amsterdam zurückkehrte und hier ein „Haus der Gastfreundschaft“ nach dem New Yorker Vorbild gründete, hat er es nach ihr benannt, weil er sie so gern gehabt hat.

Wie hat das Jeannette-Noel-Haus sich entwickelt?

Es ist kein einzelnes Haus, sondern ein Teil in einem großen Sozialwohnungsblock in Südost-Amsterdam. In unserer Nachbarschaft standen in den 90er Jahren viele Häuser leer, weil Holländer dort nicht wohnen wollten. Gerhard hat damals ein Appartement hier in Südost gemietet und dann hat er ein Zimmer als „Zimmer für Christus“, also für einen bedürftigen Gast, hergerichtet (nach der Bibelstelle Matthäus 25: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“). So hat das alles angefangen.

Dann hat die Wohnungsgesellschaft gesagt: Wenn Sie wollen, können Sie auch drei Wohnungen mieten, aber dafür müssen Sie einen Verein gründen. Das tat er. Nach etlichen Umzügen, weil die Hochhäuser der Reihe nach abgerissen wurden, landeten wir 2005 in einer anderen Ecke dieses Viertels. 2013 konnten wir einen Teil unserer Wohnungen kaufen. Fünf Appartements wurden zusammengefasst. An einem 35 Meter langen Flur haben haben wir eine große Küche, ein Spielzimmer für die Kinder, ein Büro, das wir auch als Treffpunkt nutzen.

Wir nennen es auch ironisch den Salon, denn so, wie es früher sogenannte Salonsozialisten gab, so sind wir ein bisschen Salonanarchisten (weil wir ja doch unsere Ausweise und Bankkonten haben, was sich für „echte“ Anarchist*innen nicht gehört). Es ist auch eine Kapelle da und ganz am Ende noch ein Wohnzimmer, in dem meine Frau und ich privat Ordnung bewahren. Ein Teil der Wohnung gehört Projektmitgliedern, und dann mieten wir noch zwei Appartements und ein Studio dazu. Gerhard hat mittlerweile auch ein Appartement gekauft. Diese liegen ein Stockwerk höher, und alle sind in einem Block von ca. 400 Sozialwohnungen integriert. Auf seinen Schlappen kann man von einem zum anderen gehen - wir sind so eine Art Termitenhaufen.

Wer gehört denn alles dazu?

Zunächst die illegalisierten geflüchteten Menschen, die öfter auch wechseln. Zur holländischen Kerngruppe gehören Gerhard (58) und ich (56) mit meiner Frau (54) und meinem Sohn (14), weiterhin sechs Frauen und vier Männer (zwischen 26 und 70) sowie vier Kinder (1 bis 8).

Ihr wohnt nicht nur zusammen, sondern seid auch aktivistisch unterwegs –welche Aktionen macht ihr zum Beispiel?

Wir haben 25 Jahre Mahnwachen beim Abschiebeknast veranstaltet. Der ist aber jetzt nach Rotterdam umgezogen. Gestern war eine Klima-Demonstration, an der wir uns beteiligt haben. Wir waren auch bei „Ende Gelände“ im rheinischen Braunkohle-Tagebau. Und wir protestieren gegen die Modernisierung der US-Atombomben im niederländischen Fliegerhorst Volkel. Wir sind auch immer wieder in Büchel in der Eifel bei den dort stationierten Atomwaffen.

Wie finanziert ihr euren Lebensunterhalt?

Es gibt in der Catholic Worker-Bewegung zwei Linien. Die eine richtet sich nach dem Apostel Paulus, der sagt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen! Gerhard zum Beispiel vertritt diese Richtung. Also er arbeitet immer und schmeißt dann in unseren Gemeinschaftstopf, was er verspeist. Auch einige andere sind auf dieser Linie. Es gibt aber auch die Auffassung Jesus´, der sagt: Ach, kümmere dich nicht um Essen und Kleidung, sondern kümmere dich um Frieden und Gerechtigkeit, und Gott wird sich darum kümmern, dass du Essen und Klamotten hast. Diese Linie habe ich sehr stark vertreten, als ich 1996 kam. Jetzt denke ich aber, dass beide Auffassungen berechtigt sind. Meine Frau zum Beispiel putzt, damit die Kinder Schwimmunterricht bekommen können. Also Essen und Wohnen können wir ohne einzuzahlen, aber um ein Taschengeld und Krankenversicherung soll sich schon jeder selbst bisschen kümmern.

Reicht denn das, was die eine „Linie“ einbringt oder braucht ihr auch Spenden?

Das reicht nicht. Aber zum Glück gibt es Menschen, die sagen: „Das Wort wird Fleisch“, aber mein Mann oder meine Frau will es nicht. Oder aber: „Ich wohne allein, habe aber doch ein bisschen Schiss, meine Tür zu öffnen. Aber euch gebe ich einen Sack Kartoffeln oder 100 Euro oder Kleidung.“ Durch solche Spenden können wir dann auch zum Beispiel die Stromrechnung bezahlen.

Außerdem haben wir einen großen Gemüsegarten auf legalem Land. Die Kirche lässt uns das nutzen. Und auf dem Bahngelände in der Nähe, das die Bahn nicht nutzt, haben wir angefangen einen Hochstamm-Obstgarten anzulegen mit Äpfeln, Birnen und Pflaumen – alte Sorten. Und irgendwann kommen auch Schafe drunter, aber die Bäume müssen zunächst noch etwas stärker werden. Mit den Nachbarn zusammen wird jetzt auch auch ein Hühnerstall gebaut.

Und wie trefft ihr Entscheidungen?

Wir machen jeden Montagabend ein Haustreffen. Da werden die Putzarbeiten verteilt: Wer macht den Flur, wer putzt die Klos, wer die Duschen… Da regeln wir auch den Kochplan. Jeder Tag hat einen anderen Koch. Ich bin nur alle 14 Tage dran. Das finde ich herrlich. Ich kann mich einfach an den Tisch setzen und lasse mich überraschen, was es gibt.

Die Holländer möchten eher vegetarisch oder vegan essen, aber unsere Gäste finden: Fleisch muss auch sein. So wird dann vegan und mit Fleisch gekocht, damit alle ein bisschen froh bleiben.

Die schwierigen Entscheidungen sind, wer wann kommen und wann gehen soll. Da suchen wir einen Konsens, und das kann manchmal langwierig sein.

Oder: Wir haben eine Erbschaft bekommen und konnten drei Heizungskessel erneuern. Jetzt haben wir ganz gute Öko-Kessel. Danach war noch ein bisschen Geld übrig. Ich wollte gern die Duschräume renovieren. Aber die Anderen sagten; Nein nein, wir sollen nicht alles für uns selbst nehmen, sondern auch etwas weitergeben an Menschen, die nie eine Erbschaft kriegen. Und so spendeten wir für ehemalige Hausgenoss*innen, die nach Afrika deportiert wurden. Wir spendeten auch für einen Migranten-Friedhof am Mittelmeer und für eine LGBT-Migrant*innen-Gruppe und ein Projekt gegen Rüstungsexporte

Welche Vorteile bietet so ein Leben in Gemeinschaft für dich?

Dass ich meine Berufung leben kann. Ich habe Talente und viele Privilegien bekommen, und mit so einem Leben kann ich mit illegalisierten Menschen, die so unglaublich wenig haben, teilen. Sie werden eher unterdrückt als dass sie privilegiert sind. Und dass aktive Gewaltlosigkeit hier geteilt wird und dass ich das hier leben kann, das ist super.

Was machst du heute?

Briefe schreiben, Kompost zum Garten bringen. Und ich muss packen, denn morgen fahre ich ins Kloster, um einen Artikel zu schreiben. Heute Abend ist ein Treffen des Eigentumsvereins dieser 400 Wohnungen hier, da bin ich in der Nachhaltigkeitskommission. Wir versuchen den Block energetisch sustainable zu machen und müssen das in die Finanzen hineinmassieren sozusagen.

Kontakt: fritstk(at)gmail(dot)com

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