Die Zeitung der Journalist*innen

Foto: Lenkeit/Lässig

Nach der Schließung ihrer Tageszeitung haben Journalist*innen eine eigene Zeitung gegründet, in der alle Mitarbeitenden eine Stimme haben und das gleiche Gehalt erhalten. Wir besuchen die Redaktion in Athen und sprechen über die Hintergründe und den Alltag.

Anja Lenkeit und David Klässig, Köln

Auf einer Speakerstour 2012 in Köln haben wir Dina als Vertreterin der Journalist*innen kennengelernt, als sie von der Lage in Griechenland berichtete. Als Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise lichtete sich der üppige griechische Blätterwald, welcher stark konservativ geprägt ist. Zu den wichtigen linken Zeitungen zählte auch »Eleftherotypia«, welche 1975 als kollektive und selbstorganisierte Zeitung gegründet, später aber durch die Brüder Tegopoulos übernommen wurde. Dina und ihre Kolleg*innen konnten im Zuge der Krise nicht mehr bezahlt werden, arbeiteten trotzdem aus idealistischen Gründen für die Zeitung weiter.

In Athen wollten wir uns mit ihr treffen und fragen, wie es mit der Zeitung und den Kolleg*innen weiter gegangen ist. Schnell war klar: Dina arbeitet weiterhin engagiert – das erste Treffen musste sie wegen eines Journalist*innenstreiks absagen, beim zweiten Versuch kündigte das kanadische Unternehmen Eldorado den Rückzug aus Griechenland an, und sie musste zur Pressekonferenz. Doch beim dritten Versuch haben wir sie und Kolleg*innen in der Redaktion ihrer neuen Zeitung »Efimerida Syntakton« (EFSYN – Zeitung der Journalist*innen) treffen können.

Viele der Journalist*innen von EFSYN waren bei »Eleftherotypia« angestellt und standen nach der endgültigen Schließung vor der Frage, wie es weitergehen soll. Eine ähnliche Zeitung existierte nicht, und sie konnten sich nicht vorstellen, in einem der konservativen Häuser angestellt zu sein. Also wählten sie einen anderen Weg und gründeten 2012 ihre eigene Zeitung. Nun, im siebten Jahr, können von dem Medienerzeugnis 150 Personen leben. Wobei alle Mitarbeiter*innen das gleiche Gehalt bekommen, mit Ausnahme des Chefredakteurs. Dieser arbeitet ehrenamtlich und kam für das Projekt aus dem Ruhestand zurück: Nicholas Voulelis, dessen unbequemer Geist ihm politische Gefangenschaft während der Militär-Junta (1967 bis 1974), einbrachte.

Dina erläutert, dass es für selbstorganisierte, kollektive Unternehmen in Griechenland keine passende Rechtsform gibt, sodass sich die Zeitung offiziell als »Limited« firmierte, ähnlich einer GmbH. Die interne Organisationsform sei jedoch kollektiv, d.h. die Mitarbeiter*innen bestimmen die allgemeinen Grundsätze der Zeitung und wählen Vertreter*innen aus ihren Reihen, welche das Tagesgeschäft händeln und die offiziellen Positionen besetzen. Mindestens einmal, meistens zweimal im Monat finden Versammlungen statt, bei denen jede*r Mitarbeiter*in eine Stimme hat und Konsensentscheidungen angestrebt werden. Unter bestimmten Umständen können Mitarbeiter*innen außerordentliche Versammlungen einberufen.

Dem höheren organisatorischen Aufwand und der größeren Eigenverantwortung stehe eine unglaubliche Freiheit der journalistischen Arbeit gegenüber, berichteten uns Mitarbeiter*innen. Es gebe keine Haltelinien oder Denkverbote, jede Person sei völlig unabhängig in ihrer Berichterstattung. Zwar kann in der Zeitung auch Werbung geschaltet werden, doch die Mitarbeiter*innen entscheiden gemeinsam, wer in ihrer Zeitung werben darf.

Das Projekt war nicht immer einfach – vor allem der Anfang war schwierig, resümiert Dina. Es mussten Entscheidungen getroffen werden, an die in der Anfangseuphorie niemand dachte: »Wie und wo drucken wir, wie gehen wir mit möglichen Sponsor*innen um, usw.?« Auch die heterogenen Lebensläufe waren herausfordernd – von mitte-links bis zu anarchistischen Ansichten, von ideologischer Überzeugung bis zu reiner Angst vor Arbeitslosigkeit als Beweggrund für die Zusammenarbeit, von Erfahrungen in demokratischen linken Strukturen bis zu Neulingen mit diesen Abläufen. Dass nun alle gemeinsam verantwortlich sind und es keinen Chef, d.h. notfalls auch keinen entscheidungstragenden Intermediär, gibt, birgt natürlich Konfliktpotential. So müssen organisatorische Aufgaben kollektiv von Journalist*innen übernommen, werden, die sicherlich kompetent in ihrem jeweiligen Ressort sind, jedoch nie eine Zeitung gemanagt haben.

Zudem kommt die Frage auf, wie sich Sanktionen bei Fehlverhalten einrichten lassen, die für die Arbeit notwendige, für die zwischenmenschlichen Beziehungen aber nachteilige Auswirkungen nach sich ziehen. Es gibt keine Möglichkeit, Mitarbeitende zu entlassen oder neue einzustellen. Eine weitere Schwierigkeit, gerade in der Anfangszeit, war die Akzeptanz in der Wirtschaft und manchen politischen Kreisen, ausgenommen der rechtsradikalen Parteien, denn mit denen redet EFSYN aus Prinzip nicht. So kam und kommt es schonmal vor, wie zuletzt bei Eldorado, dass »vergessen« wird, eine Einladung zu Pressekonferenzen auszusprechen. Doch die Journalist*innen von EFSYN sind hartnäckig und erscheinen trotzdem.

Trotzdem oder vielleicht auch deswegen, gehört EFSYN inzwischen zu den Top 5 Tageszeitungen und findet sich in der Top 3 der meistgelesenen Sonntagszeitungen, erzählt Dina, mit Recht ein wenig stolz. Aufgrund ihrer Unabhängigkeit von Geldgeber*innen erhalten sie teilweise eine größere Zustimmung als die etablierten Zeitungen, die für viele ein interessenpolitisches Instrument der Oligarchie darstellen. Aus diesem Grund würde auch wenig Geld in investigativen Journalismus investiert. Somit füllt die Zeitung, die ihren Journalist*innen gehört, eine Lücke und stellt als selbstverwaltetes Projekt eine Besonderheit dar, weil es aus einer absoluten Notwendigkeit entstanden ist.

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