Der Jahrhundertaufstand von 1918

100 Jahre ist es nun her, dass an den Grundfesten des deutschen Kapitalismus heftigst gerüttelt wurde. Vergeblich, wie wir Nachgeborenen täglich hautnah erfahren müssen. Die Zeiten haben sich geändert, das Kapital regiert allerdings nach wie vor die Welt. Nicht wenige bangen, dass die blinde Profitgesellschaft die Menschheit gar noch in die Vernichtung treibt. Schauen wir zurück, wie die Menschen vor einem Jahrhundert Hunger, Krieg und kaiserliche Diktatur hinter sich lassen wollten.

HEINZ WEINHAUSEN, REDAKTION KÖLN

»Ich erkläre Ihnen offen: Ich habe für die Revolution mein Leben aufs Spiel gesetzt, ich werde es wieder tun. Die Nationalversammlung (Bürgerliches Parlament -hw) ist der Weg zur Herrschaft der Bourgeoisie. Der Weg zur Nationalversammlung geht über meine Leiche.«, so Richard Müller in der Versammlung der Berliner Arbeiterräte am 19. November 1918. (1) Hämisch wurde er seitdem von seinen Gegnern »Leichenmüller« genannt. Müller war einer der führenden Köpfe der revolutionären Rätebewegung. Selbst arbeitete er als Dreher in Berlin und war seit Jahren aktiv im Netzwerk betrieblicher Obleute (vergleichbar mit heutigen gewerkschaftlichen Vertrauensleuten). Mit achtzig revolutionären Obleuten bildete er den vor den Behörden geheimgehaltenen Führungskern der Berliner Arbeiterbewegung.

Dagegen trat die damalige SPD vehement für die Nationalversammlung ein. Sie hatte 1914 beim Kriegsausbruch ihre sozialistischen Prinzipien aufgegeben, wurde selbst zur Kriegspartei. Sie hatte den kaiserlichen Burgfrieden akzeptiert, in dem es keine Parteien, sondern nur noch Deutsche geben könne. Deutsche Arbeiter hatten demnach ihre französischen oder russischen Kollegen zu morden. Für die Unternehmerschaft bedeutete dies den Freischein für die Verlängerung der Arbeitszeit bei Realsenkung der Löhne. Andererseits hatten die Kapitalisten zu festgesetzten Preisen zu produzieren, was an der Front gebraucht wurde. Deutschland wurde zur staatskapitalistischen Militärdiktatur.

Die anfängliche Kriegsbegeisterung flaute innerhalb der Armee wie bei den Arbeiter*innen dann doch schnell ab, nachdem immer mehr Soldaten schwerst verwundet wurden oder als Leichen zurückkamen. Wer aber den Befehl verweigerte, wer gar desertierte, konnte standrechtlich erschossen werden. Wer in der Fabrik für mehr Brot aufstand, musste mit Gefängnis oder Fronteinzug rechnen. Wer öffentlich für ein Ende des Krieges eintrat, ebenfalls. So wurden u.a. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht jahrelang festgesetzt. Sie waren die führenden Köpfe des im Krieg neugegründeten marxistischen Spartakusbundes.

Die Kriegsstimmung drehte sich dann endgültig, seitdem im Jahre 1916 bekannt geworden war, dass die deutschen Generäle entgegen ihrer Propaganda eines Verteidigungskrieges tatsächlich einen Angriffskrieg führten, um das deutsche Reich auf Kosten anderer Völker zu vergrößern. Nun fragten sich immer mehr, warum und wofür sie all die Kriegsstrapazen und das tägliche Elend auf sich nehmen sollten.

Von der russischen zur deutschen Revolution

Die russischen Revolutionen im Februar und im Oktober des Jahres 2017 zeigten anschaulich, dass es nicht bleiben muss, wie es ist. Die arbeitende Bevölkerung kann durchaus aufstehen und ihre Peiniger in der Fabrik und an der Front abschütteln. Sie kann sich in gewählten Räten selbst organisieren, und sogar die Geschicke der ganzen Gesellschaft in die Hände nehmen. Die russischen Arbeiter*innen zeigten deutlich, dass sie für eine friedliche und eine solidarische Welt eintraten. Sie wollten den Krieg sofort beenden. Das antikapitalistische Virus namens »Sozialistische Räterepublik« infizierte auch in Deutschland immer mehr. Die Hoffnung wuchs, dass auf diesem Weg der Frieden kommen und aus dem wilhelminischem Deutschland ein sozialistisches Land werden könne. Vielen Aktivist*innen war klar, dass dazu nichts weniger als ein Umsturz des Bestehenden, dass dazu eine grundlegende Umwälzung, eine Revolution vonnöten wäre.

Im Laufe des Jahres 1918 wurde aus der Hoffnung die reale Chance. Es gärte immer mehr in den Fabriken, die Forderungen nach Brot, Frieden und der Abdankung des Kaisers wurden lauter. Soweit möglich demonstrierte die Spartakusgruppe unentwegt dafür.

Die Dynamik hin zur Revolution begann Ende Oktober in Kiel. Obwohl ein Waffenstillstand in Aussicht stand, befahl die Marineadmiralität das Auslaufen der Flotte zur Schlacht gegen die britische Marine. Eine Meuterei begann, Matrosen landeten im Gefängnis. Schließlich wurden am 3. November nach einer großen Demonstration von Werftarbeiter*innen und Soldaten die Offiziere abgesetzt und die Gefangenen befreit. In Kiel hatten nun Arbeiter- und Soldatenräte das Sagen. Hamburg und viele andere Städte folgten.

In der Reichshauptstadt Berlin hatten die revolutionären Obleute den Oktober hindurch den Aufstand geplant. Sie hatten den Eindruck gewonnen, dass die Arbeiter*innen der großen Betriebe mitziehen würden. Noch vor den Kieler Ereignissen, legten sie den 11. November dafür fest. Es kam zu einer heiklen Lage. Kaisertreue Truppen waren nach Berlin eingezogen worden. Würden diese zusammen mit der Polizei ein Massaker anrichten oder würden sie sich mehrheitlich weigern, auf die Bevölkerung zu schießen. Die Arbeiterschaft selbst war so gut wie unbewaffnet. Immerhin war abzusehen, dass ein Teil der schon stationierten Soldaten mit ihnen war.

Das war der Plan: »Sobald das Signal zum Kampf gegeben wurde, sollten die Arbeiter der an der Peripherie Groß-Berlins liegenden Betriebe in geschlossenen Zügen nach dem Inneren der Stadt marschieren. Dabei war die Einteilung so getroffen, dass alle großen Zugangsstraßen durch Arbeitermassen abgesperrt wurden. Die Arbeiter der Betriebe im Inneren der Stadt waren auf alle Hauptstraßen und Plätze verteilt, so dass in wenigen Stunden ganz Groß-Berlin mit riesigen Menschenmassen gefüllt war.« (2)

Natürlich hatte auch die Heeresleitung ihren Plan zur Abwehr. Am 8.November begann das Militär, sich auf Plätzen und Straßen zu postieren. Veranstaltungen wurden verboten. Einer der führenden Obleute, Ernst Däumig, wurde verhaftet. Nun ging es wie ein Lauffeuer durch die Betriebe, dass schon morgen der Tag X wäre.

Am 9. November war es tatsächlich so weit. Seit dem frühen Vormittag zogen Hunderttausende in die Innenstadt. Das Unfassbare geschah. Die Polizei machte sich aus dem Staub und die Soldaten schossen nicht. Nur vereinzelt schossen Offiziere mit ihren Maschinengewehren, sie wurden überwältigt. Es gab »nur« 15 Tote auf Seite der Aufständischen, auf der Gegenseite noch weniger. Schon am Nachmittag war es soweit: Ämter, Bahnhöfe, Polizeistationen, Kasernen und sogar der Reichstag waren in der Hand der Aufständischen. Noch am selben Tage dankte der Kaiser ab. Liebknecht (Spartakusbund) und Scheidemann (SPD) riefen parallel die Republik aus.

Sozialistische Räterepublik oder Bürgerliche Demokratie

Kaiser und Regierung waren gestürzt, die politische Macht errungen. Wie sollte nun neu regiert werden? Räterepublik oder Bürgerliche Demokratie – das wurde zur bestimmenden Auseinandersetzung in den nächsten Wochen und Monaten. Sollten von nun an einzig die Arbeiter- und Soldatenräte – basisdemokratisch gewählt in den Betrieben und Kasernen - die Geschicke von Deutschland bestimmen und leiten? Oder sollte nun bei allgemeinen Wahlen ein bürgerliches Parlament einberufen werden, wo auch Parteien vertreten sein würden, in denen die Konzerne und Banken maßgeblichen Einfluss hatten.

Die Erfahrungen der bisherigen Aufstände zeigten, dass die Unterdrückten die Revolution machen, danach aber Konterrevolutionäre früher oder später ihre alte Macht durch Putsche wieder zu errichten suchen. So geschehen bei der bei der Pariser Kommune 1871, wo dann Zehntausende niedergemacht wurden. Auch bei der Russischen Revolution hatte im August 1917 die Konterrevolution gerüstet und wollte unter General Kornilow das revolutionäre Petrograd einnehmen. Dieser Angriff konnte abgewehrt werden.

Der Spartakusbund, aus dem die spätere KPD hervorging, die revolutionären Obleute und Teile der neu entstandenen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) traten für die Regierung der bisher ausgegrenzten Arbeiterklasse ein, um dauerhaften Frieden zu schaffen, um genügend »Brot« für alle zu haben, um Schulbildung für alle durchzusetzen und nicht zuletzt die große Industrien zu sozialisieren. Erst wenn dies alles gegen die Kapitalinteressen durchgesetzt und gesichert wäre, dann waren sie bereit, die politische Macht an ein von allen gewähltes Parlament zu übergeben.

Das Scheitern der Revolution

Die SPD-Führung unter Friedrich Ebert war dagegen strikt für eine bürgerliche Demokratie und setzte auf ein diffuses allmähliches Hinüberwachsen in eine sozialistische Gesellschaft. Ebert wurde im November 2018 paradoxerweise in die neue Räteregierung gewählt. Er benutze dann seine Position, um sie von innen zu zerstören. Dazu schloss er einen Geheimpakt mit der alten Generalität (Gröner-Ebert-Pakt). Schon im Dezember 2018 gab es zwei Putschversuche in Berlin, die noch abgewehrt werden konnten. Anders als in Russland gelang es der revolutionären Bewegung in Deutschland aber nicht, sich trotz vieler Opfer, trotz großen Massenmobilisierungen und Massenstreiks sich der Militaristen zu erwehren. Immerhin konnte das Wahlrecht für alle erkämpft werden, die diktatorische Monarchie war Geschichte.

Hundert Jahre sind seitdem ins Land gegangen.Die Misere ist geblieben, dass die parlamentarische Demokratie keine wirkliche ist. Die These vom Hinüberwachsen hat sich blamiert. Hinter den Kulissen der Parlamente herrschen wie eh und je Strukturen, die Millionäre und Milliardäre immer reicher und einflussreicher werden lassen. Hundert Jahre später zeigt sich: Keine Revolution ist auch keine Lösung.

(1) Müller hat 1924 als Insider eine bemerkenswerte und aufschlussreiche Geschichte der Novemberevolution geschrieben. Im Anhang finden sich viele Originaldokumente.

Richard Müller: Die Geschichte der Novemberrevolution, Die Buchmacherei, Berlin 2017 – 11. Aufl., 24 Euro. Zitiert nach S. 310.

(2) siehe oben, S.146.

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