Draußen, Theater, Festival

Die at.tension und vier Tage selbstorganisiertes schönes Leben

Festivals sind Spektakel, sie sind fantasiereich, bunt, vielfältig, laut, aber auch leise – und klar, im Sommer draußen. Doch über sie zu berichten ist schwer: vorher gibt es vielleicht vollmundige Ankündigungen und im Nachhinein zu berichten ist auch etwas unfair den Lesenden gegenüber, denn war das Festival gut, müssen sie mindestens ein Jahr warten, ehe sie selbst teilnehmen könnten. Das zweijährlich stattfindende Theaterfestival at.tension vom 31. August bis 03. September 2017 war aber der Anlass, hinter die Kulissen der Festivalorganisation zu schauen. Und um es vorweg zu nehmen: Festivals können Räume sein, wo die Grenzen zwischen Produzenten und Konsumenten fließend werden und die auch im Umgang miteinander ein Experimentierfeld für eine Gesellschaft von morgen sein können.

Daniel Häfner, Cottbus

Wer in Lärz (bei Neustrelitz, Mecklenburg-Vorpommern) auf dem Gelände des Kulturkosmos Müritz e.V. ankommt, findet zunächst eine riesige Zeltstadt. Die rund 8.000 Gäste des Festivals wollen untergebracht werden, und so sind Wasseranschlüsse, Duschen und Kompost-Toiletten vorbereitet.

Hinter dem Tor führt eine alte Betonstraße in die Ferne und alles wirkt irgendwie leicht staubig. Nach wenigen Metern öffnet sich der Blick und langsam wird klar, was diesen Ort so besonders macht: die Straße ist links und rechts gesäumt von alten Hangars, in denen zu DDR-Zeiten Militärflugzeuge stationiert waren. Damals zur Tarnung und dann über die Jahre des Alterns sind diese mit Gras, kleinen Bäumen und Sträuchern bewachsen; rote Fahnen wehen über ihnen, auf manchen gibt es Aussichtsplattformen.

Die Eingänge der Hangars sind liebevoll gestaltet, sie wurden bemalt, manche sind mit Holzterrassen bebaut, einige mit Fenstern versehen, manche sind im hinteren Teil mit einer Bühne ausgestattet und im vorderen Teil mit einer Bar. Sie heißen Casino, Cabaret, Salon de Baile oder Datscha und sind die wichtigsten Veranstaltungsorte auf dem Gelände. Zwischen den Hangars finden sich Installationen und Holzbauten, die ästhetisch irgendwo zwischen professionellen Ständen, liebevoll gestalteten Bretterbuden und futuristischen Jahrmarktsständen schwanken.

Der zentrale Platz des ehemaligen Militärflugplatzes ist die Landebahn. Sie ist gefüllt mit schlendernden Menschen und überraschend vielen Kindern. Darunter auch viele Interessierte aus der Region. Die Atmosphäre ist beinahe familiär, zumindest aber freundlich und offen. Ein Trampolin ragt am Rande des Platzes rund 10 Meter in die Höhe und wird abends von Akrobaten bespielt. Zirkuszelte stehen am Horizont und wer auf sie zuläuft, findet weitere kleine Bühnen und Gestelle für Akrobatik­aufführungen und Performances, für Clownerie und Artistik.

Vor einzelnen Theatervorstellungen bilden sich lange Schlangen. Die Leute warten manchmal mehr als eine Stunde auf die nächste Vorstellung – in der normalen Theaterwelt ist das wohl eher selten. Mehr als 260 Vorstellungen mit rund 500 Theaterschaffenden gibt es an den vier Tagen auf über 50ha des Geländes zu sehen. Die Darbietungen reichen von eher politischen und monologischen Veranstaltungen wie der »Situation mit ausgestrecktem Arm« und die NSU-Monologe über Vorstellungen des Neuen Zirkus bis hin zu Kabarett. Mit dem CONTI:NU wurde erstmals auch ein expliziter Raum für die politische Debatte geschaffen, der laut Veranstaltern dem gesprochenen Wort, dem Dialog und auch der Revolution vorbehalten war. Es gab es Veranstaltungen zum Circus im Nationalsozialismus, aber auch die politischen Aktionsgruppen der Kommunikationsguerilla von Zentrum für Politische Schönheit und Peng! stellten sich vor. Im Workshop­hangar wurde DIY groß geschrieben mit Puppen- und Maskenbau bis hin zum Bike Yoga. Gerade diese Ebene und auch die Diskussion hebt den Gegensatz von Organisierenden und Konsumierenden kurzfristig auf.

Abends wurde gefeiert – überwiegend zu elektronischer Musik und bis in den Morgen. Eine der Veranstaltungsoasen des Festivals war das »Karl Kutter« – tagsüber gab es Performances und Konzerte, nachts wurde im Sand getanzt. Auf dem umschlossenen Platz gab es Essensstände, Bars und eine Bühne, auf der sich eine schwarz-weiße Spirale in die Unendlichkeit drehte. Ein alter Kran schwenkt über die Tanzfläche und ein sich drehendes Schaufelrad mit Spiegeln schickte Lichtstrahlen über die Tanzfläche. Am benachbarten Hangar reihte sich Terrasse an Terrasse. Der Ort lebte von der Energie der Tanzenden und von Kreativität und Engagement der Schaffenden. Hier war die at.tension dann dem Musikfestival Fusion doch ein klein wenig ähnlich, das auf demselben Festivalgelände stattfindet.

At.tension und Fusion – herrschaftsfrei?

Überhaupt ist das at.tension ohne die Fusion wohl kaum zu denken, auch wenn es mit dem Theaterschwerpunkt und den »nur« 8.000 Gästen natürlich deutlich entschleunigter ist. Das Publikum ist ähnlich, wenn auch vielleicht etwas älter und mit Kindern unterwegs, aber auch viele der Helfenden unterstützen beide Festivals. Finanziert wird das at.tension mit bis zu 40 Prozent aus den Einnahmen der Fusion.

In unseren Gefilden ist die Fusion mit bis zu 70.000 Feiernden wohl so etwas wie die Mutter aller elektronischen Musikfestivals. Von ihr gehen Impulse und Innovationen aus, die schnell auch auf den anderen und vermehrt organisierten Open-Air-Festivals aufgegriffen werden. Ästhetik, Organisation oder Angebote – viele andere Festival beziehen sich positiv auf die Fusion – oder grenzen sich davon ab. Natürlich hat auch die Fusion Vorbilder wie ehemals Woodstock oder das Burning Man Festival in den USA. Der Name Fusion ist Programm, und so verschmelzen verschiedene Szenen und Subkulturen miteinander: Hippies, die mit dem Akkuschrauber noch schnell die Installationen reparieren, Antifas, Ökos und Fans der elektronischen Musik feiern dort zusammen. Kreativität und Innovation kommen aus den verschiedenen alternativen Nischen der Gesellschaft, häufig sind es Kunst-Kollektive und Kulturgruppen der linken und alternativen Szene, die die verschiedenen Veranstaltungsräume ausgestalten.

Ziel der Fusion ist ein Ferien- oder Partykommunismus, wie es die Veranstalter nennen – eine kurzfristige positive Parallelgesellschaft, die die Möglichkeiten jenseits von Herrschaft und Kontrolle aufzeigen soll. Die Fusion soll als soziale Plastik aber über die wenigen Tage des Feierns hinaus wirken – sie soll den Menschen ein Gefühl geben, wie eine andere Gesellschaft sein könnte. Es gilt, das mögliche Morgen im Hier und Jetzt erlebbar zu machen, jenseits der Theorie als reine lebensfrohe Praxis.

Das ist eine alte Idee der Techno­szene der 1990er Jahre in Berlin, wo elektronische Musik und das offene Lebensgefühl in besetzten Häusern und auch spontan besetzten Locations vor allem in Ostberlin stattfand. Dies war möglich, weil der Staat dort in der Ostberliner Mitte (noch) nicht so gut organisiert war, weil Polizei und Ordnungsamt das Stadtgebiet eben nicht bis in jede Nische hinein kontrollieren konnten. Dies ließ Raum für die Entfaltung einer kreativen Szene jenseits des Mainstreams. Doch mittlerweile sind viele der alten Locations abgerissen, kommerzialisiert oder weg-gentrifiziert. Die Fusion - die erste fand 1997 statt - ist ein Kind dieser relativ freien Zeit. Auf dem ehemaligen Militärflugplatz in Mecklenburg-Vorpommern ist sie Kontrolle und Gentrifizierung bisher entgangen. Im letzten Jahr sperrte die Polizei dann nach dem Festival die Autobahn Richtung Berlin und kontrollierte alle Fahrenden auf Alkohol und Drogen – und wurde wohl gelegentlich auch fündig. Der Staat kontrollierte also auch hier, wenn auch (noch?) in großem Abstand zum Festivalgelände.

Doch auch die Fusion selbst ist nicht frei von Kontrolle. So gab es größere Debatten darüber, als 2013 ein zweiter Zaun errichtet wurde, um Leute ohne Ticket draußen zu halten. Die Tickets waren ausverkauft, der Platz war voll – knapp 70.000 Menschen feierten auf dem 100ha großen Gelände. Einige, die dennoch über den Zaun kletterten, verloren einen Finger, als sie beim Hinunterspringen an der Zaunspitze hängen blieben. Verschiedene politische Gruppen und Einzelpersonen, die den Zaunbau ablehnten, verließen daraufhin die Organisation des Festivals. Einen Zaun bauen, um eine angestrebt herrschaftsarme Veranstaltung zu schützen? Da offenbarten sich die Spannungsfelder und Grenzen einer sozialen Plastik im Hier und Jetzt.

Die Grenze zwischen Produzenten und Konsumenten

In diesem Jahr setzte das Fusion-Festival das erste Mal aus – für eine kreative Verschnaufpause, um die Infrastruktur auf dem Gelände auszubauen, aber auch, weil die OrgansiatorInnen vom Kulturkosmos das Gefühl hatten, dass sie »nur noch liefern mussten« und keine Zeit mehr blieb um zu reflektieren, was sie da eigentlich wie machen. Die at.tension hat davon profitiert – das Büro des Kulturkosmos konnte sich auf eine Veranstaltung konzentrieren und seit November letzten Jahres waren sechs Leute auf verschiedenen Theatertreffen und dutzenden Vorstellungen, um das Festival zu kuratieren. Auch wurden die vorhandenen Räume neu erschlossen, mit neuen Inhalten besetzt und so zu einer Überraschung auch für diejenigen, die das Gelände seit langem kennen.

Und sie mussten auch organisieren. Um den Aufwand deutlich zu machen: allein am »Karl Kutter« halfen in den vier Tagen des Festivals 130 Menschen bei Auf- und Abbau, an den Bars und als DJs. Sie organisierten sich mit Listen und Plena, E-Mails und wenn es nicht anders ging auch durch Selbstausbeutung – für das Gelingen des Festivals und die Feiernden. Doch auch hier gab es ein Spannungsverhältnis zwischen der notwendigen langfristigen Organisation und spontanen Wünschen, zur Frage wer, wann, wieviel Verantwortung übernimmt oder auch abgibt. Das Plenum des Kulturkosmos besteht aus 23 Menschen, zwei Drittel davon arbeiten ehrenamtlich, und so bleibt zumindest der Anspruch, Verantwortung und Arbeit auf möglichst viele Schultern zu verteilen.

Das at.tension wäre ohne die insgesamt rund 1.400 Helfenden nicht zu denken. Häufig melden sie sich in den mehr als 70 Crews zum Helfen und stammen aus politischen Zusammenhängen und verschiedenen Subkulturen. Es sind diese Netzwerke, die at.tension und die Fusion möglich machen. Die Hilfe reicht dabei von der Barschicht über den Umgang mit der Veranstaltungstechnik bis hin zur kompletten Gestaltung unterschiedlicher Veranstaltungsräume. Insgesamt gibt es ein Gefühl des Mitgestaltens und wer mag, kann spontan mithelfen – und muss es manchmal auch.

Und so verweisen at.tension und Fusion darauf, dass der Übergang zwischen Produktion und Konsum ein fließender sein kann, gelebt wird dies aber auf anderen kleineren Festivals intensiver. Festivals mit 8.000 oder 70.000 Teilnehmenden können aber wahrscheinlich auch nur der Verweis auf das ganz Andere sein – gelebt werden muss dies draußen, in kleineren Zusammenhängen und im Alltag. Was bleibt sind die Erlebnisse, Bilder und das Gefühl einer gewissen Leichtigkeit.

Die at.tension

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