Here’s to you – Nicola and Bart

Neue Dokumentation über Sacco & Vanzetti im Kino

Vor 90 Jahren, am 22. August 1927,  wurden drei Männer im amerikanischen Bundesstaat Massachusetts unter enormen Medienrummel auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. Sie sollen gemeinsam mit einem vierten Komplizen am 15. April 1920 einen Geldtransporter überfallen haben, wobei es auch Tote gab. Ihre Namen lauteten Celestino Madeiros, Nicola Sacco und Bartholemeo Vanzetti. Erstgenannter bekannte sich schuldig, die anderen beiden beteuerten ihre Unschuld, was auch von Madeiros Aussagen vor Gericht bestätigt wurde. Dennoch wurden auch sie hingerichtet. Sie wurden erst posthum – im Jahre 1977 – offiziell von Massachusetts Gouverneur Michael Dukakis von jeglicher Schuld freigesprochen.

Maurice Schuhmann, Berlin

Das Verfahren gegen die beiden italienischen Anarchisten Sacco (1891-1927) und Vanzetti (1888-1927) war aber nicht »lediglich« ein Justizirrtum, sondern ein politisches Verfahren. Sie wurden augenscheinlich nicht für die Tat, sondern für ihre politische Einstellung verurteilt. Die beiden Migranten, die 1908 mit großen Hoffnungen ins »Land der Freiheit« zogen, waren Vertreter des insurrektionalistischen beziehungsweise illegalistischen Anarchismus, den zu jener Zeit ein anderer italienischstämmiger Anarchist vertrat – Luigi Galleani, dem sie inhaltlich nahestanden. Zudem spielte in das Verfahren gegen die beiden aber auch die, in jener Zeit durch die Presse geschürte Xenophobie gegen italienische Einwanderer, die man sowohl mit sozialrevolutionären Ideen als auch mit der Mafia assoziierte, mithinein. Historisch fiel das Verfahren in die erste Red Scare-Periode (1917-1920) in Amerika, die durch eine irrationale Furcht vor Sozialist*innen geprägt war und ihren Ausdruck in einer Vielzahl politischer Repressalien fand. Im Zuge der red scare (roten Furcht )kam es zu zahlreichen Ausweisungen und Deportationen (vermeintlich) kommunistischer, sozialistischer und anarchistischer Migrant*innen. Betroffen davon waren unter anderen »Red Emma« Goldman und Alexander Berkman.

Trotz mangelnder Beweise und schwacher Indizien verurteilte der Richter die beiden Italiener zum Tode. Alle Versuche, sie zu retten – sei es durch ein Gnadengesuch oder durch Proteste auf der Straße scheiterten.

Das (politische) Verfahren gegen Sacco und Vanzetti reiht sich dabei in eine ganze Geschichte von politischen Verfahren ein – angefangen bei den Verfahren gegen die vermeintlichen Haymarket-Attentäter († 1886), den Wobbly-Liedermacher Joe Hill († 1915), dem kommunistischen Ehepaar Ethel und Julius Rosenheim († 1953) oder den, immer noch in Gefängnissen einsitzenden Aktivisten Leonard Peltier (seit 1977) und Mumia Abu-Jamal (seit 1982).

Der Fall Sacco und Vanzetti hat damals weltweit für Aufsehen gesorgt. In jeder europäischen Großstadt, aber auch in Asien und Afrika, gingen die Menschen auf die Straße, um gegen diese Todesurteile zu demonstrieren. Wie kein zweites Verfahren fand der Protest aber auch im Wirken von Kulturschaffenden seinen Niederschlag – Erich Mühsam schrieb sein Theaterstück »Staatsräson« basierend auf dem Fall und der amerikanische Sozialist Upton Sinclair griff in seiner Geschichte »Boston«, die kürzlich in einer deutschen Neuauflage erschien, das Thema auf, außerdem bildeten die Vorkommnisse den Kontext für Andre Bretons Roman »Nadja« und mit Joan Baez’ Lied »Here’s to you - Niccola and Bart«, welches auch die Grundlage für die erweiterte Fassung von Franz Josef Degenhardt wurde, wurde der Fall auch musikalisch unsterblich. Baez’ Beitrag erschien ursprünglich als Soundtrack zu Giuliano Montaldos’ Spielfilm »Sacco & Vanzetti« (F/I 1971). Baez hatte in ihrem Lied Originalbriefe von Vanzetti aufgegriffen, die dieser während seiner Inhaftierung schrieb. Selbst heute tauchen die Namen der beiden noch vereinzelt in der Popkultur auf – wie etwa in der amerikanischen TV-Serie »Sopranos«, einer Serie über eine Mafiafamilie.

Nun kommt endlich eine, wenn auch nicht mehr ganz so neue Dokumentation von Peter Miller als Originalversion mit Untertiteln in deutschsprachige Kinos. Diese entstand bereits 2006. Peter Miller hat sich in Italien und Amerika auf Spurensuche begeben. Er hat dabei Zeitgenossen der beiden Anarchisten, den bekannten amerikanischen Aktivisten Howard Zinn, Historiker*innen, Arlo Guthry, Sohn des berühmten Folksängers, und selbst die Nichte von Sacco zu Wort kommen lassen. Sie vermitteln ein sehr lebendiges Bild der beiden Männer und ihres Falls, der bis heute für Empörung sorgt. Zur Illustration der Dokumentation werden historische und aktuelle Aufnahmen mit Spielfilmsequenzen aus der oben erwähnten Verfilmung von Giuliano Montaldos ergänzt. Dabei verbleibt der Regisseur nicht lediglich in einer historischen Perspektive verhaftet, sondern stellt eine Verbindung zu heutigen Erscheinungsformen des Rassismus in den USA her. Obwohl die Dokumentation keine neuen Erkenntnisse präsentiert, ist es eine sehr gute und sehenswerte Dokumentation.

Sacco und Vanzetti (OmU), USA 2006, 80 min, Regie: Peter Miller

Weitere Informationen (auf Englisch): https://www.fandor.com/films/sacco_and_vanzetti

 

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