KLIMACAMP IM RHEINLAND WAR EIN LABOR FÜR NEUE AKTIONS- UND KOMMUNIKATIONSFORMEN

Dem Braunkohlerevier neues Leben einhauchen

Leere Straßen und vernagelte Fenster: das ist der Anblick, den Alt-Immerath meistens bietet. Nur noch drei Familien wohnen in dem Dorf, das RWE 2017 für den nur wenige hundert Meter entfernt gelegenen Tagebau Garzweiler II abreißen möchte.

JOSTA VAN BOCKXMEER, KLIMACAMP RHEINLAND

In der Ferne sind der tiefe Lärm der Bagger und das hohe Quieken des Förderbandes zu hören, vor allem in der Nacht erinnern sie die verbliebenen Bewohner daran, dass auch ihr Haus nicht lange mehr stehen wird. Doch letzte Woche kam wieder Leben nach Immerath: Aktivist*innen des Klimacamps im nahegelegenen Lützerath besetzten die alte Schule in Immerath. Die Straße war plötzlich mit einem bunten Demozug gefüllt, eine Sambatruppe sorgte für die richtige Stimmung und am Haus erschienen immer mehr Luftballons, Zeichnungen und Fähnchen. Zwischen den Workshops in Yoga, Tischlern und Capoeira servierte die Aktionsküche leckeres Essen. Ziel der Wiedereröffnung war es, »dem Dorf neues Leben einzuhauchen«, meint Aktivist Platano, »Auch wenn dieses Dorf schon fast leer ist, bedeutet das nicht, dass wir die Situation nicht mehr ändern können.« Für den 31-Jährigen ist die Besetzung auch eine Form des direkten Widerstandes. »Solange hier Menschen wohnen, kann das Dorf nicht abgerissen werden.«

Experimentieren mit neuen Aktionsformen

Die Besetzung der alten Schule in Immerath war Teil des sogenannten »Aktionslabors für innovativen Widerstand«, das von Mittwoch bis Montag auf dem Klimacamp stattfand. Beim Aktionslabor ging es darum, neue Aktionsformen zu entwickeln und auszuprobieren. Neben der besetzten Schule gab es etwa eine Luftballonblockade auf den Gleisen zwischen dem Tagebau Garzweiler I und dem Kraftwerk Frimmersdorf und protestierten zehn Aktivist*innen nackt am Rande des Tagebaus, mit dem Text auf ihren Bäuchen: »Life ist vulnerable« – »Das Leben ist verletzlich«. Beim Aktionslabor ging es auch darum, Menschen mit einzubeziehen, die sich bisher noch nicht als Aktivist_innen verstehen. Für 2017 ist geplant, die erprobten Aktionen in einem sogenannten »Flächenkonzept«, in dem ähnlich zum »Streckenkonzept« im Wendland Aktionen mit verschiedenen legalen Risiken parallel stattfinden, umzusetzen. Auch die Kommunikation mit der lokalen Bevölkerung soll dabei gestärkt werden. Auf dem diesjährigen Klimacamp fanden bereits erste Gespräche mit Vertretern der IG Bergbau, Chemie, Energie statt, die laut den Klimaaktivist*innen eine wichtige erste Annäherung bedeuten.

Neue Formen der Kommunikation

Die Kommunikation mit verschiedenen Interessengruppen, aber auch untereinander, war ein zentrales Thema des Klimacamps. Nicht wenige Redebeiträge im Plenumszelt begannen damit, dass der Redner oder die Rednerin erzählt hat, wie nervös er oder sie ist, vor so vielen Menschen zu sprechen. Das führte nicht selten zu lautem Klatschen, und es trauten sich einige, die das noch nie gemacht hatten, auch mal ein Plenum zu moderieren. Auch gab es viele Workshops zu Gruppenprozessen und wie man sie besser gestaltet. In der Organisation der Degrowth Sommerschule, die vom 19. bis zum 23. August auf dem Gelände des Klimacamps stattfand, gab es sogar eine Gruppe, die nur für das Gruppenklima zuständig war. Malo Vidal war Teil dieser Gruppe. Der 35-Jährige mit grauen Haaren, einem gebräunten Gesicht und einer Wickelhose, spricht langsam und bedächtig. Immer wieder macht er Pausen um seine Gedanken zu sammeln oder seine Zweifel daran zu äußern, dass seine politischen Ziele irgendwann in Erfüllung gehen. In einem Umfeld, in dem meistens die Überzeugung herrscht, dass wir die Welt ändern können, ist das ungewöhnlich. Es führt aber auch zu einer neuen Art von Gespräch. In einem ist Malo sich sicher: Das Zentrum des politischen Handeln liegt für ihn in dem Vertrauen, das die Aktivist*innen untereinander aufbauen. Begonnen hat er mit dem politischen Aktivismus während des Bildungsstreiks 2009. Damals hat er zum ersten Mal moderiert und Gruppenprozesse angeleitet. »Mir wurde klar: Was es mindestens bringt, ist, dass Menschen zusammenkommen. Das war für mich die intrinsische Motivation.«

Eine Utopie der Utopien

Was wäre denn Malos Utopie? Er stellt sich eine »Utopie der Utopien« vor, sagt er. Ein Ort, an dem die Rahmenwerte der Ökologie, des zwischenmenschlichen Respekts und des Respekts vor Grundbedürfnissen gelebt werden. Er möchte aber sonst keine Bedingungen setzen: Wie die Menschen im Einzelnen leben, sollten sie selbst bestimmen können und in Vertrauen und Kommunikation miteinander entwickeln. Den Organisationsprozess der Degrowth Sommerschule sieht er als Hoffnungsschimmer, da dort lang anhaltende Kontakte entstehen. »Was wir brauchen ist Vertrauen,und das bekommen wir nur durch gemeinsames Handeln.« Dieses gemeinsame Handeln fand auch während der Aktionen des Aktionslaborsstatt. Auch wenn sie wohl zu klein waren, um ein ähnliches Aufsehen zu erregen wie die Blockaden im letzten Jahr von Ende Gelände, haben sie etwas anderes erreicht: Sie haben einen Raum geschaffen, in dem Menschen sich kennenlernen und ausprobieren konnten, in dem sie Vertrauen fassen konnten zueinander und zu sich selbst, damit sie lang anhaltende Beziehungen aufbauen und zusammen aktiv bleiben können. Und damit in Dörfern wie Alt-Immerath vielleicht irgendwann neues Leben einkehrt.

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