Offener Brief von Cecosesola

Liebe FreundInnen Cecosesolas in Deutschland!

In den vergangenen Monaten haben wir euch einige Male über die Auswirkungen der Dekrete, die vor einem Jahr zur Reform des geltenden Steuergesetzes in Venezuela von der Regierung des Präsidenten Maduro unterzeichnet wurden, berichtet. Zum nahenden Jahresende und auf dem Hintergrund der Parlamentswahlen, die vor knapp zwei Wochen in unserem Land statt fanden, möchten wir nun hier und heute versuchen, euch den derzeitigen Stand einiger Prozesse einmal mehr aus unserer Sicht zu schildern. Es hat den Anschein, dass die venezolanische Erdölepoche, wenn sie denn nicht langsam zuende geht, so doch mindestens nicht mehr dieselben wirtschaftlichen Grundlagen für die Staatseinkünfte, wie jahrzehntelang gehabt, bereit stellen kann. In diesem Jahr wurden noch 94 Prozent des Staatshaushaltes aus den Öleinnahmen bestritten. Bei weiter fallenden Rohölpreisen (in der vergangenen Woche um die 34 US-Dollar) verliert die traditionelle venezolanische Importwirtschaft immer mehr an Möglichkeiten; wir sollten nicht vergessen, dass der Bärenanteil der staatlichen Ausgaben, sowohl für die ca. 40 Sozialprogramme ("misiones"), wie sie schon unter der Regierung des verstorbenen Präsidenten Chávez ab dem Jahr 2000 eingesetzt wurden, als auch für Initiativen wie z.B. die südamerikanische Bank (BancoSur) und der südamerikanische Fernsehsender TeleSur, hauptsächlich vom Erdöl finanziert wurden.

Diese Tendenz war wohl auch einer der Hauptgründe der Steuerreform des vergangenen Jahres: der Staat braucht(e) schlicht und einfach mehr und andere Einnahmequellen; für unseren Kooperativenverband Cecosesola bedeutet dies eine Steuerbelastung für das kommende Jahr, welche sich nach unseren neuesten Schätzungen auf ca. 500 Millionen Bolívares belaufen (selbst wenn wir den Parallelwechselkurs ansetzen, d.h. den Schwarzmarktpreis anstelle der offiziellen Modalitäten, die weitaus niedriger liegen, würde dies ungefähr 1 Million Euro bedeuten). Dies kommt daher, dass gemäß venezolanischem Kooperativengesetz der Vorschuss, den wir uns wöchentlich bezahlen, als "Gewinn" mitversteuert werden muss und darüber hinaus auch noch jede(r) compañer@ individuell ihre (seine) Steuerzahlung leisten muss. Dies bedeutet auch für 2016 eine riesige Besorgnis, die um die Existenz von Cecosesola kreist. Dieses Jahr war es auch so, dass die Erhöhung des Vorschusses, den wir uns bezahlen, weit hinter der Inflationsspirale zurück bleiben musste. Bei einer Inflationsrate, die geschätzt um die 200 Prozent im letzten Jahr und 250 Prozent für 2016 liegt, konnten wir nur 35 Prozent mehr Einkommen veranschlagen, um unsere Dienstleistungen auch weiterhin für alle Bevölkerungsschichten einigermaßen zugänglich zu halten. All dies schafft die paradoxe Situation, dass die Kooperativen im Vergleich zu Unternehmen privaten Kapitals eklatant ins Hintertreffen geraten.

Wie viele von euch wissen, unternehmen wir seit Mai die verschiedensten Aktionen, um öffentlich auf diese prekäre Situation aufmerksam zu machen und die Regierung zu einem offenen Dialog darüber einzuladen. Wir waren mit verschiedenen Fußmärschen auf der Straße, ihr habt viele E-mails mit entsprechenden kritischen Stellungnahmen an verschiedene Mitglieder von Regierung und Finanzamt geschickt, wir hatten Gespräche mit Parlamentsmitgliedern, sprachen und schrieben in verschiedensten Massenmedien, haben Videos gemacht und viele Menschen zu uns eingeladen. Dabei ist und bleibt für uns ein wesentlicher Aspekt, wie wir dies politisch gehandhabt haben, nämlich ohne die Logik der streitbaren Auseinandersetzungen der 1970er und 80er zu reproduzieren, ohne Personen oder Institutionen anzugreifen, ohne in die fürchterliche Auffassung des "wer nicht für mich ist, ist gegen mich" abzugleiten, sondern mit viel Dynamik, bunter Vielfalt und respektvoller Einstellung eindeutig klar zu machen, dass wir unseren Weg weiter gehen wollen, jenseits der Politik der Konfrontation, ohne Machtstreben, sondern als kommunitärer Transformationsprozess, der auch nach 48 Jahren lebendig bleibt, weil in ihm immer noch Begeisterung und Identifizierung der Beteiligten mit diesem Lebensprojekt mitschwingt (siehe: "Auf dem Weg - gelebte Utopie einer Kooperative in Venezuela", die.buchmacherei, Berlin 2012; siehe auch u.a. das Video: "Construyendo aquí y ahora el mundo qü qüremos", in: youtube Cecosola). Die vorerst letzte Aktion unternahmen wir zwei Wochen vor den Parlamentswahlen, indem wir die KandidatInnen unseres Bundesstaates Lara für die neue Nationalversammlung, d.h. also sowohl Regierungs- als auch OppositionskandidatInnen einluden, um zum Steuerproblem Stellung zu nehmen. Leider kamen nur VertreterInnen der Opposition, denen des bolivarianischen Prozesses wurde von ihren Parteien die Teilnahme untersagt. Im Oktober hatten wir gehofft, dass die Unterzeichnung einer erneuten Modifizierung des Steuerdekrets seitens Präsident Maduro im Rahmen einer Kabinettssitzung den Durchbruch bringen würde. Dies ist jedoch bislang offiziell nicht verlautbart. Unter den Gründen dafür befindet sich wahrscheinlich die Tatsache, dass immer noch eine ganze Reihe von Scheinkooperativen weiter existiert, von denen viele im Erdölsektor angesiedelt sind; auf der einen Seite kann dies satte Steuereinnahmen bedeuten und auf der anderen Seite bleiben sie unangetastet, weil sie vielfach von hochkarätigen Angehörigen der venezolanischen Streitkräfte geleitet werden. Es bleibt abzuwarten, ob der Ausgang der Parlamentswahlen, der ja ab Januar 2016 eine Zweidrittelmehrheit der Opposition in der Nationalversammlung zum Ergebnis hat, daran etwas ändern wird. Es waren bestimmt wenige, die mit einem solch schlagendem Resultat gerechnet hatten; aus der Sicht der abgegebenen Stimmen war es eine 42 Prozent zu 58 Prozent-Niederlage für die Regierung und die sie unterstützenden Parteien. Die langen Warteschlangen vor allem vor den Lebensmittelläden, die als Hauptgrund dafür angeführt wurden, sind allerdings nicht nur Ausdruck des Wirtschaftskrieges seitens des Kapitals, sondern auch der fehlenden Entscheidungskapazität der derzeitigen Regierung (wirtschaftliche Entscheidungen wie Benzinpreiserhöhung, verschiedentlich angekündigt, aber nie beschlossen; die undurchsichtige Wechselkurspolitik; das Verhindern von effektiven Anti-Korruptionsmaßnahmen; das Absinken der Sozialprogramme, vor allem des Wohnungsbauprogramms in unkontrollierte und schnöde Regierungsgeschenke); auch ist z.B. die Grenze zu Kolumbien seit Ende September geschlossen, um den Warenschmuggel und die Aktion der kolumbianischen paramilitares zu unterbinden, aber weder hat sich die Versorgungslage im Land bislang gebessert und die Grenze bleibt nach wie vor durchlässig; noch wird verhindert, dass die paramiliares als auch die kolumbianische Guerilla weiterhin auf venezolanischem Boden agieren. Und obgleich all dies durchaus die Frage aufwirft, ob es sich um eine vorübergehende Erscheinung oder um den Anfang vom Ende des bolivarianischen Prozesses handeln wird.

Jenseits davon steht die eingangs erwähnte Problematik des gesamten Wirtschaftsmodells, welches sich über die Jahrzehnte hinweg auf die Staatsrente aus den Erdöleinnahmen gestützt hat; und damit engstens verbunden mit der, dem facilismo, der vorherrschenden "Erdölkultur", die sich im Fühlen, Denken und Handeln breiter Bevölkerungskreise tief verankert hat. Das extraktivistich-rentistische Modell ist auch von der Praxis des "Sozialismus des 21. Jahrhundert" nie wirklich infrage gestellt worden und wird es auch von der Opposition nicht gestellt werden; es war in diesem Sinne schon bezeichnend, dass der Präsident des Lebensmittelverbandes vor einigen Tagen auf einer Pressekonferenz verlautbarte, dass die Unternehmerorganisationen binnen 120 Tagen das Problem der seit vielen Monaten bestehenden Engpässe lösen würden, wenn nur die Regierung ihnen sofort 10 Prozent der Erdöleinnahmen (ca. 3,5 Mrd. US-Dollar) übergeben würde; dies hat mit der These des Wirtschaftskrieges zu tun, aber auch mit der Tatsache, dass beide Seiten weiterhin dasselbe Wirtschaftssystem für das Land im Auge haben. In welchen Taschen ein Großteil dieser Erdöldollars landen würden, kann mensch sich vor dem Hintergrund der Tatsache, dass in den letzten zwei Jahrzehnten laut einem chavistischen Regierungskritikers ca. 300 Mrd. US-Dollar dieser Einnahmen auf krummen Wegen verschwunden sind, leicht vorstellen. Für Cecosesola ist klar, dass wir auch unter erschwerten Bedingungen unseren Weg weiter gehen, d.h. Bezugs- und Versorgungspunkt für abertausende Familien unserer Region im Hinblick auf Lebensmittel, Gesundheitsdienste und Sterbekasse zu sein und dabei - ausgehend von unserer täglichen Praxis- den langsamen Prozess des Aufbaus nicht-kapitalistischer Beziehungen fortführen wollen. Unsere Version des solidarischen Wirtschaftens bleibt dabei ein Kernpunkt. Jedoch wäre Cecosesola nicht Cecosesola, wenn wir uns nicht auch selbst kritisch über die Einflüsse des rentistischen Modells bei und in uns befragen würden; als Beispiel sei hier die Saatgutproblematik genannt, bei der auch wir uns lange Jahre darauf verlassen haben, dass doch so einfach an importiertes Saatgut zu kommen war. Oder die Problematik der Kaiserschnitt-Welle in unserem integralen Gesundheitszentrum: schwimmen wir da nicht auch viel zu sehr auf dem mainstream mit, bei dem die Logik des Kaiserschnitts so treffend in die Kapitallogik passt: planbar, schnell, lukrativ und für das Neue Leben ohne Recht auf eigene Meinung? Darauf versuchen wir zu antworten, ohne in eine produktivistische Perspektive zu verfallen.

Dies wird ohnehin das Bestreben der politischen Opposition im Lande bleiben, nämlich: Produktivität um jeden Preis! Es geht für uns um die Fortführung und Vertiefung des Wirtschaftens unter den Vorzeichen des kommunitären Schaffens, der kommunitären Verantwortung und der kommunitären Freude an der Transformation. Wir sind uns darüber klar, dass sich auch im kommenden Jahr nicht viel an der Steuerproblematik ändern wird, wenn wir nicht auch weiterhin unsere Aktionen sowohl auf der Straße, als auch auf unseren Wochenmärkten zu einem Zeugnis unseres Prozesses werden lassen, welches die öffentliche Meinung mobilisiert und die Stellungnahme der PolitikerInnen provoziert. Diese debattieren im Augenblick allerdings eher über das Arbeitsgesetz, über ein von der Opposition gewolltes Amnestiegesetz, über ihre Absicht zur Reprivatisierung der staatlichen Telefongesellschaft. Angemerkt sei noch zum Schluss, dass solidarisches Wirtschaften die internationale Solidarität mit einbezieht; in diesem Sinne haben wir einen kleinen Austausch von Saatgut mit der Tomatenretter-Gruppe in Hamburg begonnen und warten auf Kontakt mit ecuadorianischen Gruppen über die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Schon in diesem Jahr war allerdings deutlich spürbar, dass wir in unserer "Bewegungsfreiheit", sprich Einladungen aus dem Ausland anzunehmen (ohne die Gefahr eines Vortrags- und Kongresstourismus zu unterschätzen) aus Devisengründen doch recht eingeschränkt waren; auch fehlt es im Gesundheitsbereich vielfach an einfachen medizinischen Instrumenten, die entweder nicht oder nur hoffnungslos überteuert zu erhalten sind. Im Sinne dieser Ausnahmesituationen - und nur für diese - begrüßen wir die Initiative einiger deutscher FreundInnen, uns von dort aus mit solidarischen Aktionen unterstützen zu wollen, wohl wissentlich, dass wir auch weiterhin aus eigener Anstrengung heraus die wesentlichen Probleme der gegenwärtigen Kooperativensituation selbst lösen müssen. Einmal mehr vielen Dank an euch alle für eure Verbundenheit mit unserem Prozess!

Solidarische Grüße, Cooperativa Cecosesola

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