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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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Öffentlicher Sektor

ÖFFENTLICHER SEKTOR:

Sackgasse oder Experimentierfeld?

Louis Kaufmann, Jahrgang 44, Berufspädagoge, Vorstandsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Arbeit e.V. und geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Projekteverbundes LOWTEC gGmbH / GFBM e.V. hat seit Gründung der gemeinnützigen Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaft LOWTEC im Jahre 1993 diese zu einem der großen freien Träger in Berlin entwickelt. Die Berliner Qualifizierungsgesellschaft versucht die Integrationsfähigkeit von Langzeitarbeitslosen und SozialhilfeempfängerInnen in den ersten Arbeitsmarkt zu verbessern und die individuellen Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit zu mildern. Schwerpunkt der Tätigkeit der LOWTEC liegt in der Durchführung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Lohnkostenzuschußprogrammen und Fortbildung und Umschulung. Das Gespräch führte Ingo Vogt.

lowtec2.jpg (45747 Byte)Ingo Vogt: Der zweite Arbeitsmarkt und öffentlich geförderte Beschäftigung werden ja häufig von Medien und InteressenvertreterInnen kritisiert. Ist diese Kritik berechtigt?

Louis Kaufmann: Die Kritik, die an öffentlich geförderter Beschäftigung geübt wird, ist in der Regel nicht berechtigt. Wesentlich an dieser Kritik ist, daß sie sich eher mit Bildern des Beschäftigungssektors, als mit der Realität des Beschäftigungssektors beschäftigt. Der zweite Arbeitsmarkt ist mittlerweile zu einem stabilisierenden Faktor unserer Gesellschaft geworden. Da die Arbeitsgesellschaft sich in einer langfristigen Strukturkrise befindet, bedeutet dies, daß der öffentlich geförderte Beschäftigungssektor verstetigt werden muß, d.h. er muß gesellschaftspolitisch akzeptiert und planbar gemacht werden. Die größten Probleme entstehen dadurch, daß der zweite Arbeitsmarkt ausschließlich eine Wellenbewegung von kurzfristig zur Verfügung gestellten Haushaltsmitteln ist. Diese Mittel werden aber häufig nicht zur Verfügung gestellt, um das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit lösen zu können, sondern als politisches Instrument, wie z.B. im Wahlkampf, eingesetzt.

Ingo Vogt: Was sollte aus Deiner Sicht an der öffentlichen Förderung verändert werden?

Louis Kaufmann: Es gibt hier zwei Ebenen, die eine planvolle Kontinuität brauchen. Die eine nenne ich die quantitative Ebene, das bedeutet, daß auf einer mittelfristigen Zeitschiene Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt werden müssen für eine bestimmte Anzahl von Beschäftigungsverhältnissen. Diese Anzahl darf weder von Jahr zu Jahr erheblich schwanken, noch darf sie der kameralistischen Diskontinuität unterliegen. Diese führt derzeit dazu, daß die Stellenanzahl je nach Haushaltslage entweder gekürzt wird oder - vor allem gegen Jahresende, wenn die Mittel nicht ausgegeben wurden - proportional die Beschäftigungsverhältnisse erhöht werden.

Die zweite Ebene ist die qualitative Ebene. Darunter verstehe ich, daß es verläßliche Größenordnungen geben muß für die Finanzierung der einzelnen Arbeitsverhältnisse. Im Durchschnitt kostet ein öffentlich gefördertes Beschäftigungsverhältnis zwischen 45 und 50 Tausend DM pro Jahr. Diese Finanzierung setzt sich aus mehreren Finanzinstrumenten zusammen, die starken Schwankungen unterliegen. Die Träger, die öffentlich geförderte Beschäftigung anbieten, werden permanent gezwungen, sich die einzelnen Scheiben der Finanzierung zusammenzuverhandeln und müssen selbst sehen, wie sie die notwendigen Kosten zur Umsetzung von Beschäftigungsverhältnissen durch die verschiedenen Zuwendungsgeber erstattet bekommen.

Ein typisches Beispiel: Im vergangenen Jahr setzte sich in Berlin die Finanzierung für ein öffentlich gefördertes Beschäftigungsverhältnis zusammen aus den Lohnmittel der Bundesanstalt für Arbeit, der verstärkten Förderung, die zu 50% vom Arbeitsamt und zu 50% vom Senat gefördert wurde und den Geldern aus dem europäischen Sozialfonds sowie Mitteln aus dem arbeitsmarktpolitischen Rahmenprogramm. In diesem Jahr sind die Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds nahezu verbraucht und gleichzeitig wurden die Mittel aus dem arbeitsmarktpolitischen Rahmenprogramm um ca. 30% gekürzt, so daß die Mittel für ein Beschäftigungsverhältnis um bis zu 5.500 DM gekürzt wurden. Es soll nun im wesentlichen den Trägern überlassen bleiben, auf die einzelnen Arbeitsämter einzuwirken, daß sie kompensatorisch mit ihrer Finanzierung höher gehen. Die Arbeitsämter haben aber ein Interesse daran, möglichst viele Förderfälle zu finanzieren und nicht unbedingt mit ihrem Geld abbrechende Ressourcen des Senats zu kompensieren. Diese von mir betriebswirtschaftlich genannte qualitative Seite eines Beschäftigungsverhältnisses ließe sich nur dadurch beheben, daß die öffentlichen Mittel gepoolt würden und für den Träger planbare Richtwerte festgelegt werden mit wieviel Geld ein einzelnes Beschäftigungsverhältnis im Durchschnitt finanziert wird. Ein solches Finanzierungskonstrukt, das auf der Basis von zwei oder drei verschiedenen Festbetragszuschüssen geschaffen werden könnte, würde zusätzlich den positiven Effekt haben, daß der Verwaltungsaufwand für alle Beteiligten - sowohl der öffentlichen Hand, als auch der Träger - mindestens halbiert würde.

lowtec1.jpg (49155 Byte)Ingo Vogt: Ist der öffentlich geförderte Beschäftigungssektor eine Sackgasse oder kann man ihn als Experimentierfeld für Arbeit und Leben betrachten?

Louis Kaufmann: Der öffentlich geförderte Beschäftigungssektor wird von seinen Inhalten weit unterschätzt. Es ist weder inhaltlich noch politisch eine Sackgasse, im Gegenteil, die Betriebsstrukturen vieler Beschäftigungsträger sind eher zukunftsweisend als antiquiert. Beschäftigungsträger sind in der Regel gezwungen alle Mittel, die erwirtschaftet werden, wieder in den Betrieb zu investieren. Eine Wertabschöpfung in private Taschen ist damit weitgehend ausgeschlossen. Das eher größere Hindernis Menschen in Lohn und Brot zu bringen sind in erster Linie die fehlenden Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt.

Ingo Vogt: Es wird zur Zeit auch über eine Symbiose des zweiten Arbeitsmarktes mit dem dritten Sektor diskutiert - z.B. die Vernetzung von ABM-Projekten mit Selbsthilfe-Ökonomien - wäre dies für Dich eine Perspektive?

Louis Kaufmann: Ich will mich nicht über die Begriffe des zweiten Arbeitsmarktes oder des dritten Sektors auslassen. In der Regel wird mehr über die reine Lehre des Begriffes diskutiert, als über die Inhalte. Aber selbstverständlich ist es wichtig, daß Vernetzungen stattfinden zwischen öffentlich geförderten Beschäftigungsfeldern und den Selbsthilfe-Ökonomien, nicht nur weil sie eine gemeinsame Wurzel haben. Auch die Inhalte vieler öffentlich geförderter Projekte entstehen aus den Selbsthilfegedanken heraus, sie geben auch Impulse für neue Beschäftigungsfelder, für zu entwickelnde Produkte oder auch für kleine Existenzgründungen. Gemeinsam ist ihnen auch, daß sie aus den Widersprüchen entstehen, die die erste Arbeitsgesellschaft produziert, weiterhin ist ihnen der ständige Kampf um Selbstbehauptung und Anerkennung gemeinsam, um nicht permanent als geduldetes Randphänomen der Gesellschaft stigmatisiert zu werden.

Ingo Vogt: Mit dem Regierungswechsel sind auch einige Veränderungen in der Arbeitsmarktpolitik einhergegangen. Der Schwerpunkt der Förderung liegt im Moment auf dem Abbau der Jugendarbeitslosigkeit. Was hat sich an Qualität und Quantität der geförderten Maßnahmen geändert?

Louis Kaufmann: Die Veränderung der Arbeitsmarktpolitik und die neue Schwerpunktsetzung auf den Abbau der Jugendarbeitslosigkeit zielt in die richtige Richtung. Erfolgreich können solche Programme aber nur sein, wenn sie nicht mit einem immensen Geldvolumen kurzfristige Entlastung bringen, sondern dieses Geld zielgerichteter in langfristige Programme umgesetzt wird. Jugendarbeitslosigkeit läßt sich nur dann bekämpfen, wenn es möglich ist, für die Jugendlichen Perspektiven zu entwickeln. Dies bedeutet, es muß möglich sein Lebensund Berufsplanung so miteinander zu verbinden, daß sie sowohl den einzelnen Jugendlichen als auch dem notwendigen längerfristigen Prozeß der beruflichen Sozialisation gerecht wird. Ein auf Breite angelegtes, aber nach spätestens 12 Monaten abrupt endendes Programm bringt erstmal einen politisch wirkungsvollen Effekt, eine kurzfristige Entlastung und somit auch einen kurzfristigen politischen Erfolg. Der wird aber, wenn nicht schleunigst nachgebessert wird, im nächsten Jahr noch eine größere Resignation bei den Jugendlichen erzeugen. Berufliche Planung braucht Kontinuität und keine kurzfristigen Adrenalinstöße.

Ingo Vogt: Herr Henkel vom Bundesverband der deutschen Industrie hat kürzlich in einem Interview im Zusammenhang mit den Tarifverhandlungen im Metallbereich gesagt, es gehe nicht darum Arbeitsplatzbesitzer reicher zu machen, sondern neue Arbeitsplätze zu schaffen. Was sagst Du dazu?

Louis Kaufmann: Wenn Herr Henkel vom Bundesverband der deutschen Industrie sagt, daß es in erster Linie darum geht neue Arbeitsplätze zu schaffen, so hätte die deutsche Industrie in den letzten Jahren dafür reichlich Zeit gehabt. Es gab in den letzten Jahren nur drei zuverlässige Steigungsraten in der deutschen Wirtschaft: Erstens: die Gewinne sind gestiegen, zweitens: die Zahl der Millionäre hat zugenommen und drittens: die Arbeitslosenzahlen sind kontinuierlich gestiegen. Die Wirtschaft ist in den letzten Jahren den Nachweis schuldig geblieben, daß das Einlenken auf ihre Forderungen, wie z.B. die Lockerung des Kündigungsschutzes oder die Herabsenkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, in neue Arbeitsplätze umgesetzt wurde.

 

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Stand: 07. August 2008