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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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Szenario

Seite 5

Arbeitslosen-Bewegungs-Maschine 

Die neue Reservearmee und Selbsthilfeprojekte 
- Ein Szenario!

Jürgen ist seit September 1984 Mitarbeiter einer Arbeitsloseninitiative. Sein Job besteht hauptsachlich in der Beratung und Betreuung von Erwerbslosen, die Schwierigkeiten mit den Ämtern und ihrer sozialen Ausgrenzung haben. Jürgen ist gelernter Dipl. päd. und macht diese Arbeit im Prinzip gern. So richtig Freude will dennoch nicht aufkommen; denn Jürgen wird vom Arbeitsamt bezahlt; er ist einer von ca. 4.600 ABM-Stelleninhabern in Bremen. D.h., seine Stelle war zunächst auf ein Jahr begrenzt.

Von Herbert Effinger, Red. Bremen - Als die Arbeitsloseninitiative nun im Sommer die im letzten Jahr vom Arbeitsamt in Aussicht gestellte Verlängerung beantragte, winkte die Arbeitsverwaltung zunächst mal ab. Begründung: Zum einen seien im Augenblick keine Mittel mehr im ABM-Topf und zum anderen hätten sich durch eine neue Dienstanweisung die Förderungsvoraussetzungen verändert. Jürgen mußte sich also Ende August erst mal arbeitslos melden. Sowohl das Arbeitsamt als auch die Initiative erwarten natürlich, dass Jürgen trotzdem weiterarbeitet - auch ohne Gehalt. Ihm wurde gesagt, daß die Stelle wahrscheinlich im Herbst, wenn wieder mehr Gelder vorhanden seien, verlängert werden kann. Allerdings müßte dabei bedacht werden, daß er dann in diesem Jahr kein Weihnachtsgeld erhalten könnte (Stichtag der Beschäftigung ist der 1.10.) und daß die Stelle vom Arbeitsamt nur noch mit 80 statt bisher 100% bezuschußt werden könne.

In Bremen war in der Vergangenheit eine 100-prozentige Förderung möglich, weil das Land eine über dem Bundesdurchschnitt liegende Arbeitslosenquote zu verzeichnen hat. Es gäbe allerdings die Möglichkeit, die restlichen 20% vom Senat bzw. aus weiteren Bundesmitteln zu bekommen. Dafür müsse für seinen Arbeitsplatz jedoch erst mal ein besonderer Bedarf festgestellt werden. Dieses würde inzwischen von verschiedenen senatorischen Dienststellen ausgearbeitet. Hier werden also die Projekte, die dem Senat besonders wichtig erscheinen, aussortiert. Wenn das nun mit der personenbezogenen Verlängerung nicht klappt, kann es sein, daß Jürgens Arbeitgeber aus ökonomischen Gründen gezwungen ist, die Stelle mit jemand anderem zu besetzen. Der Arbeitslosen-Initiative, die zwar öffentliche Beratungen durchführt, aber nicht vom Sozialressort für diese öffentliche Aufgabe mit Personalmitteln finanziert wird, bleibt dadurch die 100% Förderung und Jürgen als potentiellen ,,Kunden" erhalten. Für Jürgen allerdings verschlechtert sich die finanzielle Situation erheblich! Neben dem Ausbleiben von zusätzlichen Leistungen, wie dem Weihnachtsgeld, würde Jürgen jetzt nur 4 Monate Arbeitslosengeld erhalten und ist erst nach 1 Jahr wieder ABM-anspruchsberechtigt.

Was also insbesondere für das Arbeitsamt, aber auch für die Initiative, ein Mittel des Sparens ist, wird wie gehabt auf Kosten der Erwerbslosen durch eine weitere Verschlechterung ihrer Existenzbedingungen durchgeführt.

In Bremen werden gut 8.000-10.000 Erwerbslose über den sog. 2. Arbeitsmarkt ,,versorgt", die Hälfte allein über ABM (weiterhin BSHG, Behindertenfonds, Lohnkostenzuschüsse aber das AFG u.ä.). Sie stellen sozusagen die ,,neue mobile Reservearmee" dar. Gemeinsam ist den Stellen auf dem 2. Arbeitsmarkt, daß sie zeitlich befristet sind und die davon Abhängigen in immer schnellere Rotationsbewegungen treibt.

Betroffen sind insbesondere Pädagogen und Sozialwissenschaftler, sie stellen über die Hälfte aller ABMler. Sie arbeiten in Projekten, die vielfach öffentliche Regelaufgaben übernommen haben. Es sind dies z.B. Arbeitslosenberatungsstellen, Eltern/Kinder-Initiativen, Erwachsenenbildungseinrichtungen, Kultur und Nachbarschaftsläden, Jugendinitiativen, Behindertenselbsthilfegruppen, Ausbildungsinitiativen, Frauenprojekte, Gesundheitsinitiativen, Ausländerinitiativen, Literatur- und Künstlerinitiativen usw..

Diese Projekte sind z.T. erst in den letzten Jahren entstanden, zur gleichen Zeit als in Bremen ein allgemeiner Stellenstopp im öffentlichen Dienst eingeführt wurde und in den Behörden und bei den großen freien Trägem der Ruf nach sog. Drittmitteln - d.h. Versicherungsgelder aus der Arbeitslosenversicherung - immer lauter wurde. Viele Projekte konnten ihre Arbeit erst durch ABM beginnen, für viele bedeutet es das Aus, wenn diese Mittel nicht mehr fließen würden. Zwar hat das anfangs keiner so richtig gewollt, aber inzwischen ist die Verstrickung zwischen der Existenz dieser Selbsthilfeprojekte und ABM zu einer existentiellen Abhängigkeit geworden.

Das Grundschema dieses heimlichen Umbaus des Sozialstaates vollzieht sich etwa in folgenden Etappen:

1. Der Staat oder die Kommune verschlechtert oder streicht ein bisheriges Angebot im Bereich Sozial-, Bildungs- und Kulturarbeit. 

2. Es bilden sich Selbsthilfeinitiativen, denen dann ,,angeboten" wird, ihre Selbsthilfearbeit zur Ausfüllung dieses Defizites mit Hilfe von ABM o.ä. zu professionalisieren. Somit werden schnell entbürokratisierte Ersatzeinrichtungen geschaffen. 

3. Läuft die Arbeit erst mal, verschlechtern sich die Unterstützungsbedingungen, und die Initiativen sind gezwungen, ihre Arbeit entweder durch Aufbringung weiterer Eigenmittel oder durch Orientierung am Markt abzusichern. So vollzieht sich ein kontinuierlicher Druck von einer sozialpädagogisch/sozialkulturellen Selbsthilfegruppe zu einer marktorientierten Beschäftigungsinitiative oder Ausbildungsinitiative. 

4. Sind erst mal genügend Leute an das Projekt gebunden, so sind die ehemals bezahlten Mitarbeiter beim Ausbleiben von ABM-Mitteln wahrscheinlich auch gewillt, unbezahlt weiterzuarbeiten. Die Entprofessionalisierung und Entstaatlichung ist gelungen, Ehrenamtlichkeit und Subsidiarität wird zu neuen Ehren verholfen.

Der 2. Arbeitsmarkt erhält sich stellenweise von selbst, bzw. beschäftigt die in ihm Tätigen mit umfangreichen Selbsterhaltungsaufgaben. Viele Beschäftigte bringen über 50% ihrer Arbeitszeit damit zu, nach neuen Quellen Ausschau zu halten, Anträge zu stellen, abzuwickeln und Gespräche mit etwaigen Gönnern zu führen.

Nach Ansicht vieler Projekte wird ABM immer mehr zu einem Mittel, das die Einrichtung von Dauerarbeitsplätzen eher behindert als fördert, weil mit den Stelleninhabern auch die Erfahrungen, Qualifikationen, Bezugspersonen, Arbeits- und Kooperationszusammenhänge ins Rotieren kommen, also alle wichtigen Voraussetzungen zur Einrichtung dauerhafter Arbeitsstellen kontinuierlich entzogen werden.

In Bremen hat sich Ende September ein sog. ABM-Forum gebildet. Dieses Forum versucht nun, langsam Auswege aus dem o.g. Dilemma zu finden. Als erster Schritt wurden gemeinsam Fragestellungen gegenüber dem Arbeitsamt und dem Senat formuliert. Der hier begonnene Diskussionsprozeß kann helfen: 

a) mit der eigenen Widersprüchlichkeit offener und letztlich produktiver umzugehen, einen Weg zwischen Wut, Hilflosigkeit und Anpassung auf der einen und Utopie auf der anderen Seite zu finden, 

b) die Formulierung von alternativen Inhalten einer auf Selbsthilfe und Selbstverwaltung basierenden Sozial-, Bildungs- und Kulturpolitik vorzunehmen, die basisnah organisiert, aber gesellschaftlich abgesichert und finanziert ist, also den Staat nicht aus seiner Verantwortung entläßt, 

c) die Kluft zwischen den Utopien einer anderen Gesellschaft oder anderen Verteilungsstrukturen (z.B. garantiertes Mindesteinkommen bzw. Existenzgeld) und dem widersprüchlichen Alltagspragmatismus etwas zu schließen, d.h. auch neue Finanzierungsmodelle vorzuschlagen und sich für ihre Erprobung stark zu machen. Hierbei sind insbesondere eine verstärkte Projektförderung und die Bündelung von Transfergeldem (AFG, BSHG u.ä.) zu nennen.

Dieser Klärungsprozeß wird sicherlich auch mit einer schärferen Auseinandersetzung und Abgrenzung zwischen den Trägem von ABM verbunden sein (müssen). Nicht alles was sich Selbsthilfe nennt, ist auch Selbsthilfe und nicht alles was selbstverwaltet wird, ist auch gesellschaftlich nützlich und sinnvoll.

 

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Copyright © 1999 CONTRASTE Monatszeitung für Selbstorganisation
Stand: 09. Dezember 2009