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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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Österreich ist anders

Wer in Österreich nach den vielfältigen bunten Formen sucht, in denen sich die "alternative scene" hierzulande präsentiert, wird enttäuscht sein: es gibt so gut wie nichts. Keine Druckereien, Schreinereien, Fahrradläden, Kinos ... noch nicht mal Scene-Kneipen im halbwegs vergleichbarem Ausmaß und selbst die Bio-Läden muß man (noch) mit der Lupe suchen. Österreich also wieder mal das klassische Entwicklungsland, in der Entwicklung immer 10 Jahre hinterher? Ich hatte im November Gelegenheit, den österreichischen Stand der Dinge in Sachen Selbstverwaltung ein bißchen aus der Nähe zu betrachten und muß sagen: ich bin tief beeindruckt. Und absolut nicht der Meinung, daß sich die österreichische Entwicklung hinter der bundesdeutschen zu verstecken bräuchte. Sie ist einfach anders - so grundlegend anders wie die politischen Verhältnisse in Österreich überhaupt.

Das folgende Scenario soll dies verdeutlichen:

1974 - in den Hochzeiten der sozial-liberalen Koalition - gründet sich in Westdeutschland die "Interessengemeinschaft für Selbstverwaltung" (IGS), um neue Wege in der Arbeitswelt zu versuchen.

1975-1980 führen Prof. Grottian und Prof. Schwendter - beide qualifizierte Mitglieder der Interessengemeinschaft - eine Studie über das bundesdeutsche Industriesystem durch. Sie machen darin Vorschläge zur Neuorientierung der Wirtschaftspolitik.

Diese Vorschläge werden vom Wirtschaftsministerium und vom Bundeskanzleramt aufgegriffen und von IGS und Selbstverwaltungsaktionsfonds (SAF) in Form des Aufbaus gemeinschaftlicher Projekte erprobt.

Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften

selbstverwaltete Produktionsbetriebe

natur- und bevölkerungsnahe Energieprojekte

Der SAF wurde 1979 von Mitarbeitern der IGS und Engagierten in den Bereichen der Erwachsenenbildung und Wissenschaft gegründet.

Nach Gesprächen mit Bundeskanzler Schmidt, an denen Vertreter von IGS und SAF teilnahmen, wurde 1979 die "Sonderaktion zur Förderung der Selbstverwaltung" des Bundeskanzleramtes als Förderung für gemeinschaftliche Wirtschaftsprojekte eingerichtet.

Ebenfalls 1979 veranstaltete die IGS in verschiedenen Großstädten eine Ausstellung mit dem Titel : „Es geht auch anders. Betriebe gehen neue Wege und suchen neue Verbündete. Diese Ausstellung war ein großer Erfolg und führte zum Aufbau der ersten Erzeuger-Verbraucher-Genossenschaft "POVO" (Politisch-offensive-Vertriebs-Organisation).

1980 erreichte der SAF nach intensiven Verhandlungen mit dem Bundeskanzleramt ein Forschungsprojekt "Modellversuch: Einsatz von Regionalberatern für Selbstverwaltung", das 1981 anlief.

1982 wurden bereits 10 Regionalberater vom SAF eingesetzt und in den länger betreuten Gebieten entstanden immer mehr wirtschaftliche Initiativen und die Anzahl der aktiven Mitarbeiter in den Regionen nahm zu, so daß Vertreter der Projekte und Aktivisten in sechs Regionen eigene Vereine gründeten. Diese schlossen sich im April dieses Jahres zu einer gemeinsamen Dachorganisation zusammen.

Entwicklungspolitische Märchenstunde im WANDELSBLATT? So muß es für bundesdeutsche Ohren natürlich klingen. In der Tat ist dieses Scenario aber im Wortlaut die Beschreibung der Entwicklung der ÖAR (= österreichische Arbeitsgemeinschaft für selbstständige Regionalentwicklung).

ÖAR und ÖSB (österreichische Studien- und Beratungsgesellschaft) sind die "unten" als sinnvoll erkannten und "oben" (nach einem Gespräch mit Kreisky oder diesem und jenem) abgesegneten Instrumente einer veränderten Wirtschaftspolitik in den strukturschwachen Regionen; die beteiligten Personen werden im Rahmen eines Forschungsauftrags voll finanziert, ebenso werden die Büro- und sonstigen Kosten der Beratungsarbeit übernommen. Und es gibt - natürlich - den entsprechenden "TOPF" - die "Berggebiets-Sonderaktion des Bundeskanzleramts, ziemlich genau 7 Mio Mark schwer, mit dem die von den Regionalbetreuern vor Ort entwickelten und betreuten Projekte nach einer entsprechenden betriebswirtschaftlichen Beratung durch die ÖSB gefördert werden können - mit bis zu 50% der Investitionskosten und bis zu 1. Mio Schilling (ca. 140.000 Mark) pro Projekt.

Der Blick zurück auf die BRD ist so unsinnig nicht, wenn man sich die in ÖAR und ÖSB tätigen Menschen ansieht: bei uns wären die vermutlich im Netzwerk aktiv. Netzwerk- und andere Aktivisten also finanziert über Forschungsprogramme und anerkannt als regionale Entwicklungshelfer (Animateure) zur Selbstverwaltung?

"Bestochen!" wäre der Aufschrei der Szene. Selbst dann, wenn es sich dabei nicht um "abgehobene" Netzwerker (im Sinne der Huberschen "Intermediären") handelte, sondern um Leute aus den Betrieben selbst. Selbst dann, wenn die Sache auf gesünderen Füßen stünde als in Österreich, wo die über Forschungsauftrag Finanzierten zu wahrhaft alternativen Löhnen arbeiten und darüber hinaus auf die jährliche (!) Veränderung des Forschungsauftrags angewiesen sind. Und selbst dann, wenn - wie bei uns gar nicht anders denkbar - eine solche Regelung gegen riesige Widerstände (CDU, FDP, Handwerkskammer, Bund der Steuerzahler, Gewerkschaften...) erkämpft werden müßte und keineswegs als Geschenk der Sozialdemokratie vom Himmel fiele.

Mißtrauen beherrscht die bundesdeutsche Szene, die sich ja gerade aus dem Konflikt mit der wachstums- und technologiebesessenen SPD in deren Regierungszeit entwickelt hat, und dieses Mißtrauen hat wahrhaft gute Gründe.

Und doch: die konkreten Personen aus ÖAR und ÖSB, die ich - wie flüchtig auch immer - kennengelernt habe, sind natürlich nicht bestochen. Es sind im Gegenteil sehr aufrichtige und ernsthafte Menschen, die sich ihre Ideale bewahrt und einen Weg gefunden haben, sie in praktische Ansätze umzusetzen. Die - so könnte man auch sagen - es verstehen, die Krise des Kapitalismus in Richtung der eigenen Ziele zu nutzen und produktiv zu wen- den. In dieser ganzen Entwicklungsgesellschaft für Selbstverwaltung, diesem "Netzwerk der Köpfe" steckt sehr viel mehr Engagement, als bezahlbar wäre.

Und es ist ja auch in der Tat eine reizvolle Vorstellung, Ideen zu einer positiven, Entwicklung der Gesellschaft zu entwickeln und vorzustellen und dafür nicht die gewohnten Reaktionen von Hohn, Ablehnung und Prügel zu ernten, sondern Zustimmung und breiten gesellschaftlichen Konsens zumindest zu Experimenten.

Das geht allemal in Österreich. Im "PROVINZ-RUNDBRIEF" der AG SPAK schreibt Albert Herrenknecht: "In Österreich gibt es also schon Ansätze zu einer alternativen Regionalplanung von unten (und oben), was für BRD-Verhältnisse noch traumhaft erscheinen mag. Der österreichische Vorsprung auf diesem Gebiet hängt allerdings mit der ursächlich anders strukturierten Gesellschaftsform in Österreich, ihrem allgesellschaftlichen Konsens (d.h. jeder wird gefördert, wenn er gesellschaftlich-nützliche Arbeit leistet, ob links oder rechts) zusammen, was Alternativen immer auch zur gesellschaftlichen Integration zwingt bzw. sie daraus überhaupt nicht entläßt."

Unabhängig davon, ob Planung in irgendeiner Form, auch der der "alternativen Regionalplanung" den WANDELSBLATT-Lesern in den Projekten und Betrieben so traumhaft erscheint, wie dem Albert Herrenknecht, (was ich bezweifeln möchte), dürfte sich die Frage auch bei uns in den nächsten Jahren stellen. Es gibt eine Menge Leute "von unten", die sich mit solchen Gedanken beschäftigen und es gibt ähnliche Vorstellungen bei Grünen und Sozialdemokraten (zum Vergleich: der Artikel über das SPD-Forum in Bonn, Seite 1/2). Bei Entwicklungen aber, die man nicht verhindern kann, empfiehlt es sich, frühzeitig zu intervenieren und die Sache in Bahnen zu lenken, die nicht das wieder zerstören, was autonom schon aufgebaut worden ist. Das gilt bei der ÖKO-Bank und den sonstigen Finanzierungszusammenhängen ebenso wie im Bereich des wachsenden Beratungswesens.

Wir dokumentieren im Folgenden den gedanklichen Ansatz der Regionalentwicklung in Österreich. Dazu muß noch auf einen grundlegenden Unterschied hingewiesen werden: es handelt sich bei den in Österreich „Betreuten" nicht um Scene-Projekte, sondern um Initiativen der Normalbevölkerung, die (deshalb) einerseits ganz anders gesellschaftlich verankert sind, andererseits die für unsere Betriebe selbstverständlichen kulturkritischen Ansätze vermissen lassen. "In Österreich hingegen - und dies ist ein Produkt der "Aus-dem-Stand-Initiativen", die nicht selten nach der fiskalischen Schöpfungsgeschichte entstanden sind ("Am Anfang war das Geld ...") nach dem Motto: "gibts Geld, machen wir was. .." - fehlt eine selbstkritische Diskussion über Macher und Machertum, Professionalisierung und Nicht-Professionalisierung, „Kulturelle und Ökonomische Veränderung, Bewußtsein und Lebensalternativen, Erziehung der Erzieher und notwendige Selbstkontrolle. Einzelkämpfertum, Multi-Funktionärstum, Identifikation von Amt und Person, ständiger Termindruck ohne Ruhephase, innere Streitereien und Antipathien, Machtkämpfe und Positionsdrückerei etc. werden noch nicht systematisch aufgearbeitet, sondern oft einem Alltagspragmatismus und Durchhalte-Parolen geopfert." (Provinz-Rundbrief der AG SPAK)

 

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Copyright © 1999 CONTRASTE Monatszeitung für Selbstorganisation
Stand: 02. Oktober 2008