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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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Polit-Soap-Novelle

POLIT-SOAP-NOVELLE, FOLGE II: UNTER BEOBACHTUNG

2084

In unserer Märzausgabe wurde der 1. Teil der Fortsetzungsgeschichte veröffentlicht, das "Warten auf Carlotta" - der Autorin - hat nun ein Ende und wir erfahren endlich, wie es Karin weiter ergeht und ob es
Möglichkeiten zum Widerstand gibt...


Was bisher geschah: Karin Jorzig, die Tochter des berühmten Professor  Jorzig und zu den 100 genetisch wertvollsten Subjekten der Gesellschaft gehörend, entscheidet sich alles aufzugeben und in die aufgegebenen Gebiete der Stadt zu ziehen. Ihr Vater kann das aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung nicht zulassen
und lässt sie in die Psychiatrie einweisen. Niemand weiß, wo
sie ist.

Carlotta

Das erste was Karin sah, als sie erwachte, war der wunderschöne Garten jenseits des Fensters. Sie lag in einem Bett. Auf einem Stuhl lag Kleidung die noch unbenutzt aussah. Das Zimmer hatte noch einen Stuhl, einen Tisch einen Schrank, einfach aber nicht geschmacklos. Die Tür hatte weder einen Griff noch einen anderen Öffnungsmechanismus.
Das Fenster war nicht zu öffnen und bruchfest.

Sie dachte erst sie würde die Kleidung nicht benutzen - lieber nackt
rumlaufen. Da hörte sie die Stimme. Die Kameras die das Zimmer überwachten waren wirklich kaum zu sehen. Sie duschte sich - auch hier wusste sie sich beobachtet.

`Guten Morgen Karin, Ich bin Clarissa, Deine persönliche Begleiterin überall in diesen Räumen. Ich bin nur für Dich da. Ich weiß,
dass Du mir jetzt noch nicht glaubst und vertraust, das macht
nichts. Du wirst die Zeit bekommen, die Du brauchst.

Ein Frau ist Dir doch lieber als Betreuerin - oder habe ich falsch
geraten?

Soll ich mich lieber in einen Mann verwandeln?'

Karin hätte sich fast übergeben. Sie hatte in ihrer Studienzeit über
das individuelle Psychiatrie-Betreuungsprogramm von amtex
gelesen. Eine virtuelle psychiatrische Betreuungsperson ganz auf die
individuelle Patientin zugeschnitten, lernfähig, einfühlsam - so schrieben sie. Es gab praktisch nur noch Verwaltungspersonal in den
Kliniken.

`Du weißt, Deine Aufenthaltsdauer und weitere Behandlung
liegt in meinem Ermessen.'

Konnte mensch einen Computer betrügen? Karin wusste das jede Ihrer Bewegungen, der Gesichtsausdruck, Blutdruckschwankungen,
alles ausgewertet wurde.

Das eigene Kind, eine geborene Lügnerin. Sie erinnerte sich noch an
den Schock, als die Ärzte ihr mitteilten, dass ihre Tochter diese Disposition hatte. Heute hatte sie sich wider einmal den Tag Zeit genommen, um ihre Tochter im Kindergarten zu beobachten. Sie schaltete den Bildschirm ein und klickte die Kameras
im Kindergarten durch. Da saß ihre Tochter - wieder allein in einer Ecke. Und war es nicht verständlich, dass niemand mit der Defekten spielen wollte? 
Wenn sie sich wenigstens bemüht hätte.
Am Abend brachte sie ihre Tochter wie zufällig auf den Tag im Kindergarten zu sprechen. Und da war es wieder, das Kind erzählte, vom Spiel mit den anderen, dass gar nicht stattgefunden hatte.

Sie konnte diese ewige Lügerei nicht mehr aushalten, aber alles war
kalt in ihr; `Lüg nicht schon wieder.' Dann sperrte sie die Kleine in
ihr Zimmer. Was sollte nur aus ihr werden? Dabei hatten sie jede Minute ihrer Entwicklung überwacht. Aber gegen die genetische Festlegung waren sie nicht angekommen.

Der junge Mann wurde ohne Verzögerung von mehreren
Sicherheitskräften zu Boden geworfen und abgeführt. Das war
lange nicht mehr passiert. Zwei PassantInnen hatten den Mann vorher daran gehindert über einen Zaun zu fliehen. Dass Tragen von Masken in der Öffentlichkeit war außer zu genehmigungspflichtigen
Anlässen untersagt.

Der junge Mann schrie als die Uniformierten ihm den Arm verdrehten.
Die Frau am Kiosk: `Na - der wird auch noch lernen sich ordentlich zu benehmen - so oder so.'

Die Gänge waren bisher immer leer gewesen. Es war das erste
mal seit - sie wusste die Zeit nicht mehr - dass Karin einen Menschen sah. Die Frau saß leicht zitternd und zusammengezogen in einem Fenster.

Karin näherte sich nur zögernd; `Hallo.' Die Frau blickte auf:
`Hallo, Du musst mir helfen. Wenn ich nicht bestehe, komme
ich nach F4.'
`Wobei helfen? Was ist F4?'

Die Frau schlug gegen die Wand: `Ich muss bestehen, ich
bin in der Selektion, Du bist meine letzte Chance. Ich
muss meine soziale Kompetenz beweisen. Sonst komme ich nach
F4.'

`Was ist F4?'
`Keine weiss das. Niemand kommt zurück. Ich habe
eine Woche Zeit.'
`Was muss ich tun?'
`Das weiss ich nicht - frag doch Ihn.'
`Wen?'
`Diesen scheiss Computer.'

Jetzt verschmierte sie Rotz auf der Kameralinse an der Decke.
Sie sprang immer wieder hoch.
`Aber, aber, da waren wir doch schon einmal weiter.' -
Eine dunkle Männerstimme von irgendwoher.
Karin versuchte die Frau zu beruhigen: `Wer ist das?'
`Dieser scheiss Computer.'

`Ich bin Mischa, Ninas persönlicher Berater, schön Dich
kennen zu lernen Karin.'

Es hätte nur noch gefehlt das Ihr eine Hand kreisend über
den Rücken gestrichen hätte. Karin nahm Nina in die Arme.

Sie lief durch den Wald. Hier war jeglicher Eingriff
verboten. Als Kinder hatten sie die Pfade trotz Verbot
verlassen. Orte an denen eine niemand sah. Ihr Freund sah ihre Unruhe:
`Du musst Dich nicht sorgen - seit letztem Jahr ist
der ganze Wald kameraüberwacht.'

Sie musste laut loslachen und fing an zu singen: `Im Wald
da sind die Roäuber, Roäuber,..'

Er verstand das natürlich mal wieder nicht.

Aus den Gerichtsakten I
Es war ein Unfall. Das Gericht schloss die Akten mit der
Bemerkung, dass sich die junge Frau durch ihre Ablehnung
ein Ortungsgerät zu tragen, selbst verdächtig gemacht habe.
Die beiden Polizisten mussten deshalb annehmen, es
mit einer Kriminellen zu tun zu haben. Auch wenn das
Tragen von Ortungsgeräten keine Pflicht war - so war es
doch zumindest Nachts allgemein üblich. Das sich der
Schuss aus der Waffe löste war sicher tragisch.

Sie wusste nicht wann sie sich in Nina verliebt hatte. Ob
am dritten oder am vierten Tag. Nina spottete nur: `In
wen solltest Du Dich auch sonst verlieben?'
Sie umarmten sich
und verbrachten nicht nur die Tage miteinander.
`Na, da werden Mischa und Clarissa aber eine Menge
auszuwerten haben.'
`Vielleicht stürzt das Programm ja ab.'

Heute war der siebte Tag.

Sie bemerkte das Gas nicht gleich. Sie konnte sich
nicht einmal mehr verabschieden. Als sie aufwachte war
Nina nicht mehr da. Dann rannte sie allein durch Gänge,
prügelte auf die Wände ein. Und schrie.

`Ninaa! - Ninaa!'
Aber nur die Stille antwortete ihr - und dann nach einer
Weile Clarissa. `Nina war leider ein hoffnungsloser
Fall. Wir mussten sie nach F4 überweisen. Es tut mir
leid. Wir verlieren ungern eine Patientin. Ich möchte
Dich nicht auch noch verlieren.'
An diesem Tag versuchte sie
das erste mal soviel wie möglich zu beschädigen - zu
zerschlagen.

Aus dem Lexikon
Childwatching - Die heute allgemein übliche Technik
das Verhalten und die Entwicklung von Kindern kontinuierlich
aufzeichnen zu lassen und auszuwerten, wurde zuerst in den
USA in den 90er Jahren des 20ten Jahrhunderts
in einigen Kindergärten entwickelt. Nach dem dort Kameras
installiert worden waren, um Bilder ins Internet übertragen
zu können, wurde auch sehr bald der Nutzen der
Aufzeichnung und psychosozialen Auswertung erkannt.
Aber erst als im Jahr 2011 einige Kommunen mit der
flächendeckenden Aufzeichnung und Übertragung des
Kindesverhaltens von Spiel- und Freizeitflächen aus begannen,
wurde es möglich, vollständige Verhaltensmuster präventiv
auszuwerten. Mit dem Gesetz zur Unterstützung
von Eltern bei ihren Erziehungsaufgaben wurden 2020
die Kommunen gesetzlich verpflichtet, die flächendeckende
Kamerabetreuung von Kindern in der Öffentlichkeit zu
gewährleisten.


Aus den Gerichtsakten II
Die Frau hat mit den beiden ihr nur entfernt bekannten
Männern bewusst den Videoüberwachungsbereich verlassen. auf
die beiden Männer musste dies als Aufforderung
wirken. Zumindest unbewusst kann der Frau ein Spiel mit
dem Risiko unterstellt werden. Das Strafmaß für den Vorwurf
der Vergewaltigung ist deshalb auf einen minderschweren Fall
zu reduzieren.

Nina war eine Woche weg - oder eine Ewigkeit. Karin
stand von ihrem Bett auf und entschied sich. Sie ging
systematisch vor. Zuerst schlug sie ihren Kopf gegen die
Wand, das kostete die meiste Überwindung. Sie brauchte das
Blut. Überall, wo sie die Kameraaugen erreichen konnte
schmierte sie etwas hinein. Sie wusste, dass sie nicht sehr
lange Zeit haben würde, bis zur Ruhigstellung. Aber Clarissa
ließ nichts von sich hören. Dann versuchte sie in die
Elektronik zu pinkeln. Aber es passierte immer noch
nichts.
Sie sah sich um - das Bett.
Tatsächlich ließ sich der Bettpfosten ausbauen. Als die erste
Kamera zerklirrte brach sie in Gelächter aus, dann
rannte sie durch die Gänge.
Erst jetzt kam das Gas - und Clarissas Stimme: `Es tut mir
leid Karin.'

Sie: `Manchmal wird mir alles zuviel mit dem Kind.'
Die beste Freundin: `Komm - Du hast Dir das ausgesucht. Du
wolltest doch das Kind.'

Sie: `Muss ich deshalb alles alleine machen.'
Die beste Freundin: `Du wolltest doch kein weiteres
Screening, keine genetische Aufwertung. Dann musst Du
jetzt auch so konsequent sein und mit dem Kind mehr
üben. Du hast das entschieden.'

Aus der Werbung I
Ein kleiner genetischer Schalter, ein großer Schritt für die
Frau. Schalten Sie ihre Menstruation ab - kein Geruch mehr,
kein Blut. Haben Sie sich noch nicht gewundert, wieso Ihre Freundin
auch an ihren Tagen so natürlich ist?

Als sie aufwachte, wusste Karin noch bevor sie die Stimme
des Computers hörte, dass sie nun auch in der Selektion
war. Es war egal. Vielleicht würde es dann vorbei sein. Sie
kauerte sich in eine Ecke und versuchte alles zu vergessen
- nur nicht Nina.

Als sie die andere Frau sah, die sich ihr unbeholfen näherte,
schrie sie sie an, drohte ihr mit Schlägen. Alles konnte
passieren, alles, aber das mit Nina durfte sich nicht
wiederholen, also schlug sie irgendwann auch zu. Dann
schrie sie, trommelte gegen die Wände - sie wollte keine
Woche warten.

Und Clarissa gab auf. Das Gas kam. Das letzte was sie
hörte war: `Sie kommt nach F4.'

In der nächsten Folge lesen Sie: Was bedeutet F4? Lebt
Nina noch? Werden die beiden sich je wiedersehen?

 

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Copyright © 1999 CONTRASTE Monatszeitung für Selbstorganisation
Stand: 07. August 2008