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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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Oktober 2006

Aus dem Inhalt
CampInski 2006

"WIR" UND "DIE"

Identität, Symbole und Rituale


Motiv von der Kölner Klagemauer                               Foto: arbeiterfotografie.com

Das "Deutsch-sein" hat wieder Konjunktur. Seit der Fußballweltmeisterschafts-Nationalbegeisterung sind die Schwarzrotgold-Lappen nicht wieder verschwunden, wie Optimisten der links-alternativen Szene zuversichtlich gemeint hatten. Die "Patriotismus"-Welle rollt weiter. Von Regierungspolitikern und konformen Wirtschaftsjournalisten wie z.B. Henrik Müller (einen der Gründe für die Dauerkrise Deutschlands erblickt er in der "gebrochenen nationalen Identität") wird sie erfolgreich befördert. Und passend sind Vertriebenenverbände emsig dabei, Holocaust-Opfer gegenüber den Vertriebenen ins Abseits zu drängen, eine Arnold-Breker-Ausstellung wird feierlich inszeniert, gewalttätige Übergriffe auf "Rausländer" machen kaum noch Schlagzeilen.


Ariane Dettloff, Redaktion Köln - Nationale Identifizierung ist wieder "in", wenn auch in neuerer Aufmachung. Die alten Symbole gehören trotzdem dazu. Jemand wie der Spiegel-Redakteur und Verfasser des Bestsellers "Wir Deutschen" Matthias Matussek wird erfreut darüber sein. Er erklärt einen "gewissen Nationalstolz" als gesund. Dass die Abwertung anderer Nationen inbegriffen ist, stößt ihm bei EngländerInnen, die er zitiert, zwar unangenehm auf, doch praktiziert er selbst solche Abwertung gerade jenen gegenüber völlig ungeniert. Das Augenzwinkern dabei wirkt eher angestrengt. Als "Urimpuls" sogar erscheint ihm die "Liebe zum Vaterland". Er sei, so Matussek, wohl entstanden, "als sich die erste Horde zusammenfand, um sich zu schützen und gegen Gefahren von außen zu verteidigen." Deutlich wird: Ausgrenzen gehört zur Identität. Um sich ihrer zu versichern, muss das "Fremde" abgewehrt werden. Und allerlei Hilfsgerüste, die der Eingrenzung dienen sollen, werden konstruiert. Bei Matussek z.B. ist die "Natur" der Deutschen "leise und effektiv". Über derlei Dumpfsinn sind die Individuen in selbstorganisierten Zusammenhängen im allgemeinen erhaben.

Die SSK (Sozialistische Selbsthilfe Köln) z.B. antwortet der Patriotismus-Euphorie mit ihrem am Haus wehenden Transparent: "No nation, no war". Doch auch bei Alternativen sind Identitäten, Symbole und Rituale eigener Machart populär: schwarze Sterne, Friedenstauben, linke Lieder. Sind sie, weil bislang nicht dermaßen missbraucht wie alles Nationale, eine emanzipative Alternative? Dieser Schwerpunkt trägt Gedanken von Mitgliedern unterschiedlicher Gemeinschaften zum Thema bei. Gender-Identitäten etwa sind genauso konstruiert wie nationale. Wie gehen wir in unseren alltäglichen Zusammenhängen damit um? Sicher werden in politischen Kommunen und alternativen Bewegungen "Männlichkeits"modelle, wie sie der Kulturwissenschaftler Frank Wichert noch 1997 als vorherrschend im deutschen Printmediendiskurs ermittelt hat, abgelehnt: "Mann" muss aktiv, erfolgsorientiert und zielstrebig sein - was zählt, ist der Erfolg, auch um den Preis der Rücksichtslosigkeit". Doch wie können derart sozialisierte Menschen entsprechenden Mustern und Erwartungen entgegenwirken? Valerie aus "Twin Oaks" in Virginia/USA erläutert ein Sprachexperiment, das KommunardInnen dort seit vielen Jahren praktizieren. Ohne alternative Symbole und Rituale kommt kaum eine Gruppe aus. Gut so, meinen unsere AutorInnen - wenn denn diese nicht ausgrenzend verwendet werden, wenn sie flexibel angewendet werden, wenn sie nicht fetischisiert, sondern immer wieder überdacht werden.


Dass Identitäres auch bei unseren (Marken-?)Klamotten mitschwingt, blieb wohl kaum jemand verborgen. Die Anmerkungen des Ethnologen Nigel Barley hierzu sollen den Blick darauf ein wenig amüsiert erweitern. Was noch sehr interessant sein könnte, aber in dieser Ausgabe leider fehlt, ist die Rolle der Musik. Einerseits wird ihr ja "Normen sprengende Kraft" nachgesagt, andererseits kann sie ganz prima Normen stützen und auch setzen - erinnern wir uns beispielsweise an die identitären Kontroversen zwischen Beatles- und Stones-Fans! Und musizierend nationaler Missbrauch von der Hymne bis zur Marschmusik ist notorisch.

Die politische Dimension der Identitäts-Thematik reißen die Artikel von Elisabeth Voß und "Krisis"-Autor und Wertkritiker Norbert Trenkle an.

Mein Fazit nach einigem Lesen und Nachdenken zum Thema lautet etwa: "Identität (mitsamt Symbolen und Ritualen) braucht es nur da, wo Entfremdung herrscht." Und ich möchte es mit Andrej Sacharow halten, der sagte: "Hört auf, wir zu sein. Seid mutig und handelt als Ich". Mensch kann dies alles selbstredend auch ganz anders sehen. Die "CONTRASTE"-Redaktion würde sich freuen, wenn dieser
Schwerpunkt eine Debatte mit verschiedensten Ansichten und Erfahrungen einleiten würde.

Zum Weiterlesen:
Caduf, Corina und Johanna Pfaff-Czarnecka (Hg.): Rituale heute. Theorien-Kontroversen-Entwürfe. Dietrich Reimer Verlag Berlin 2001

Alfred Schober/Siegfried Jäger (Hg.): Mythos Identität. Fiktion mit Folgen. Unrast Verlag Münster 2004

Schwerpunktthema Seite 7 bis 10

 

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Stand: 07. August 2008