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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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Ausbildung in SV

Berufsausbildung in Selbstverwaltung – aber wie?

Red. Frankfurt - Das allgemeine Desaster am Ausbildungsstellen-Markt hat es möglich gemacht: seit einiger Zeit werden selbstverwaltete Betriebe und alternative freie Träger als Ausbildungsberechtigt anerkannt. Wenn auch erst wenige (Prüfungs-) Ergebnisse vorliegen, kann dennoch davon ausgegangen werden, daß die Zahl der Ausbildungsplätze im selbstverwalteten Bereich und vor allem die Zahl der "reinen" Ausbildungsprojekte noch zunehmen wird.

- Die Ausbildungsplatzsituation wird noch bis mindestens zum Ende des Jahrzehnts ihre Brisanz behalten,

- die in den letzten Jahren erfolgte Öffnung staatlicher Förderprogramme für die Berufsausbildung auch der freien Träger wird auch von der CDU/F.D.P. nicht grundsätzlich zurückgenommen; im Kompetenzbereich rot-grüner Mehrheiten kommt es sogar zu Ansätzen einer speziell auf selbstorganisierte Ausbildungsprojekte und selbstverwaltete Betriebe zugeschnittene Förderung,

- es gibt nach wie vor einen hohen Stand an qualifizierten Arbeitslosen mit Ausbildungskompetenz und -Berechtigung,

- die Durchführbarkeit selbstorganisierter Ausbildung ist durch die Praxis bewiesen und gewinnt an Anerkennung,

- bei den selbstverwalteten Betrieben wächst mit der Entwicklung zu höheren Qualifikationsanforderungen die Einsicht, daß das erforderliche Niveau mit reinem "learning by doing" nicht zu halten ist.

Gute Chancen also für eine Erweiterung selbstorganisierter Ausbildung.

Ob dies dann aber auch eine Ausbildung in Selbstverwaltung ist, ob es eine Ausbildung zur Selbstverwaltung ist, ob das vermittelte Fachwissen hin zu neuen, zukunftsweisenden Berufsbildern führen kann, oder die guten Absichten durch die engen Grenzen des Berufsbildungsgesetzes unterlaufen werden - solcherart Fragen rücken nunmehr in den Mittelpunkt der Diskussion.

Der hessische Landesverband des BDP (Bund Deutscher Pfadfinder) initiiert und/oder betreut selbstorganisierte Ausbildungsprojekte. Zur Zeit sind es etwa 80 Jugendliche, die in BDP-Projekten oder BDP-nahen Einrichtungen ausgebildet werden.

Ergebnis der zugrundeliegenden Diskussionen und der in der Folge gemachten Erfahrungen ist der folgende Kriterienkatalog, mit dem eine breite Diskussion eingeleitet werden soll.

Ausbildung in Selbstverwaltung – aber wie?

Leben und Arbeiten im Rahmen solcher Ausbildungsprojekte soll Jugendlichen sowohl eine möglichst breite berufsbezogene Qualifikation mit anerkanntem Abschluß vermitteln, als auch die Fähigkeit, individuelle und gesellschaftliche Probleme selbstorganisiert und selbstbewußt anzugehen. Fachliche Präzision soll mit kreativen Problemlösungen, berufliches und politisches mit sozialem und emotionalem Lernen verbunden werden. Was die Ausbildung an erster Stelle vermitteln soll, ist Selbstorganisationskompetenz, was bedeutet, eigeninitiatives Subjekt statt fremdgesteuertes Objekt, Selbstlernender statt Belehrter, Handelnder statt Behandelter, sich Bildender statt Auszubildender zu sein; das heißt, vorrangig zu lernen, wie man neue Problemstellungen selbst meistern und das eigene Leben in die eigene Hand nehmen kann.

Entsprechend soll das Interesse daran, ein spannendes Problem zu lösen, der Gebrauchswert des herzustellenden Produktes und der Ansporn gleichberechtigter Teamarbeit die Motivation für die Ausbildung stiften, nicht die Anweisungen des Meisters. Denn um Spaß an der Arbeit zu entwickeln, bedarf es der Ernstsituationen, echter und sinnvoller Anforderungen und wirklicher Problemstellungen, weshalb die Ausbildung möglichst vom ersten Tag an Produktions-, Projekt- und Aktionsorientiert sein soll. Das Lernziel Selbstorganisationskompetenz erfordert, daß Jugendliche sowohl alle fachlichen Aufgaben lösen lernen - von der Auftragsannahme bzw. dem Entwickeln einer Produkt- oder Dienstleistungsidee über die Kostenkalkulation und Ausführung bis zur Rechnungsstellung und Buchhaltung -, als auch den entsprechenden Umgang mit gruppendynamischen, Freizeit- und politischen Problemen, die sie betreffen.

Selbstorganisierte Ausbildungsprojekte sollen auch für die Jugendlichen offen sein, die aus dem traditionellen System der Berufsausbildung herausfallen. Dies gilt für zwei ganz unterschiedliche Gruppen: Zum einen für Jugendliche, die aus Gründen sozialer Benachteiligung keinen üblichen Ausbildungsplatz erhalten können, zum anderen für solche, die aufgrund alternativer Orientierung keine traditionelle Lehrstelle wollen.

Bei der Zusammensetzung der Gruppe der Auszubildenden sollten die Prinzipien der Selbstorganisation, Stabilisierung von Lebenszusammenhängen und der Möglichkeit wechselseitiger Unterstützung und Anregung Vorrang vor wie auch immer gearteten Tests haben:

Jugendliche, die schon seit Jahren befreundet sind, bringen in der Regel mehr Verantwortung für und Interesse aneinander auf ais isolierte Einzelne, ein ausgewogenes Verhältnis von Jungen und Mädchen - soweit es sich nicht um reine Mädchenprojekte handelt - wirken sich nach unseren Erfahrungen günstig auf das Gruppenklima aus; ein ausgewogenes Verhältnis von Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten und solchen, die über bestimmte Fähigkeiten bereits verfügen - die sich also untereinander anregen, fördern oder fordern können -, ist der Bildung von "Benachteiligtenghettos" vorzuziehen. Entsprechendes gilt für das Verhältnis von politisch engagierten Jugendlichen und eher desinteressierten.

Die Ausbilder sollten sich nicht allein als Ausbilder verstehen, die Jugendlichen etwas beibringen wollen, sondern als engagierte Menschen, die gemeinsam und solidarisch mit Jugendlichen und anderen Ausbildern ein selbstorganisiertes Projekt aufbauen wollen. Zugunsten dieses Verständnisses sollte auch die klassische Arbeits- und Rollenteilung zwischen Meistern, Auszubildenden, Sozialarbeitern und evtl. mitarbeitenden Lehrern überwunden werden. Auch Meister können viel von Jugendlichen lernen. Sozialarbeiter und Lehrer sollten über praktische Erfahrungen in dem jeweils ausgebildeten Beruf verfügen oder sich diese erwerben.

Das Zutrauen, das es möglich ist, eine eigene Lebensperspektive selbst zu entwickeln, statt sich von Eltern, Freunden, Moden etc. "leben zu lassen", daß Verhältnisse änderbar und nicht gottgegeben, Selbstorganisation und Solidarität möglich sind, entwickelt sich nicht aus schulischem Unterricht, den Ausbilder geben, sondern aus dem Anschauungsunterricht, den deren eigenes Leben, Verhalten, politisches Engagement in und außerhalb der Ausbildungswerkstatt bietet. Deshalb sollen Ausbildungsprojekte auch nicht vom Verband oder wem auch immer organisiert werden, um erst, wenn sie "stehen", die Ausbilder und Jugendlichen zu suchen, sondern möglichst von Anfang an von denen oder zumindest mit denen zusammen, die das Projekt schließlich tragen werden. Wo immer möglich, sollten nicht nur männliche, sondern in gleicher Anzahl auch weibliche Ausbilder angestellt werden.

Bei der Gründung von Ausbildungsstätten geht es nicht allein um das Schaffen zusätzlicher Ausbildungsplätze, sondern auch darum, sich über die anschließenden Arbeitsplatzperspektiven Gedanken zu machen. Die Jugendlichen müssen so qualifiziert werden, daß sie möglichst dort, wo sie wohnen, anschließend Arbeit finden - sei es in einem "Normalbetrieb", in dem sie dann ihre eigenen Interessen durchzusetzen gelernt haben sollten, sei es in einem von ihnen selbst gegründeten Projekt oder sei es durch Überleitung der Ausbildungswerkstatt in einen selbstverwalteten Betrieb. Auf diese Perspektiven hin sollten bereits während der Ausbildung die nötigen Kontakte, Produkt- und Dienstleistungsideen, Vertriebswege etc. entwickelt werden.

Sich aus den Ausbildungsinitiativen entwickelnde selbstverwaltete Betriebe sollen gesellschaftlich nützliche und ökologisch angepaßte Produkte bzw. Dienstleistungen erstellen, die zugleich Marktchancen haben. Dabei sehen wir sowohl gesellschaftliche Veränderungsnotwendigkeiten als auch eine neue Nachfrage im Zusammenhang mit sich neu oder verstärkt entwickelnden Werten und Bedürfnissen im Kontext der Ökologie-, Friedens- und Alternativbewegung (siehe auch Nr. 5). Welche das genau sind, läßt sich nur durch eine "alternative" Regionaluntersuchung herausfinden, die erhebt, was jeweils sowohl gesellschaftlich Not tut als auch nachgefragt wird. Erinnert sei nur an neue Bedürfnisse im Zusammenhang mit gesunder Ernährung, biologischem Bauen und Wohnen, Energie- und Wassereinsparung, alternativen Technologien, Recycling, einem anderen Umgang mit Kindern, Alten, Behinderten, Gesundheit...

Die Ausbildungswerkstätten sollen auf den Lebenszusammenhang der angesprochenen Jugendlichen bezogen sein, das heißt, Ausbildung und Arbeit dort ermöglichen, wo sie ihre sozialen Beziehungen und Wurzeln entwickelt haben, wo sie nicht nur ihren Ausbildungs-, sondern auch ihren sonstigen kulturellen, Freizeit-, politischen, kurz, Lebensinteressen nachgehen können. Stadtteil- bzw. wohnortbezogene Werkstätten sollen Lebenszusammenhänge stabilisieren helfen, nicht sie weiter aufspalten. Wenn Jugendliche dabei das Bedürfnis entwickeln, Arbeiten, Lernen und Wohnen zu verbinden, sollen sie bei dessen Realisierung unterstützt, es soll ihnen jedoch nicht aufgedrängt werden.

Wünschenswert erscheint uns eine Assoziierung der Ausbildungsprojekte an gesellschaftliche Anregungsmilieus, die die tägliche Erfahrung zulassen, daß Selbstverwaltung realisierbar ist und die Selbstorganisationsprozesse Jugendlicher unterstützen (wie z.B. im Fall der ASH-Lernwerkstatt). Wo Jugendliche oftmals im Elternhaus, Nachbarschaft, Schule, Verein etc. tagtäglich und von morgens früh bis abends spät erlebt haben, daß Anpassung an Vorgegebenes, Nachäffen von Moden, Konsumieren von Vorgesetztem, sich Raushalten aus der Politik, Mitschwimmen im Strom des das-macht-man-eben-so allerorten übliche Maximen darstellen, verlieren sie leicht das Vertrauen darauf, daß es überhaupt möglich sein könnte, für sich selbst verantwortlich zu sein, eigene Vorstellungen zu entwickeln und durchzusetzen, auch einmal gegen den Strom zu schwimmen und sich politisch zu informieren und zu verhalten. Deshalb scheint uns der möglichst enge und stetige Kontakt zu solcherart "lebendigen" Initiativen im Jugendverband, zu Kultur- und Bürgerinitiativen oder die Kooperation mit selbstverwalteten Betrieben wichtig, die erfahrbar machen, daß eigene Alternativen denkbar und machbar sind, die ein auch über die Werkstatt hinausgehendes Engagement ermöglichen und auch ggf. problematische Ausbilder\Lehrlingskonstellationen korrigieren können.

Alles in allem sollen die Ausbildungsprojekte die herkömmlichen Standards der Berufsausbildung nicht senken, sondern überbieten - das bedeutet bedürfnisgerechte Entlohnung, sorgfältiger Arbeits- und Unfallschutz, Selbstverwaltung statt Jugendvertretung, breite fachliche, soziale und politische Qualifikation, Möglichkeit einer gemeinsamen Lehre für Freundschaftscliquen, Unterstützung dabei, Lernen, Arbeiten und Wohnen zu verbinden, wenn das die Jugendlichen wollen bis hin zur Chance, sich selbst einen eigenen Arbeitsplatz zu schaffen -, also Orientierung daran, eine eigene selbstbestimmte Lebensperspektive nicht nur ökonomischer Art zu entwickeln, statt Fixierung an einzelbetrieblichen Interessen.

 

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Copyright © 1999 CONTRASTE Monatszeitung für Selbstorganisation
Stand: 05. April 2010