Kommunen wagen – Leben in politischen Gemeinschaften im Spannungsfeld individuellen Lernens und gesellschaftlichem Engagement

Kommunen, Lebensgemeinschaften, Vollgenossenschaften, Begriffe für ein ähnliches Phänomen gemeinschaftlichen Lebens und Arbeitens haben eine lange Tradition. Es sind Orte, an denen Menschen Geld teilen, Produktionsmittel gemeinsam besitzen und den Alltag zusammen gestalten. Von den Frühsozialisten über die 1970ger Jahre bis heute entwickeln sich immer wieder andere Formen und Ausprägungen. In der öffentlichen Diskussion eher übersehen, kommt es auch heute kontinuierlich zu neuen Gründungen. 33 von ihnen sind zur Zeit im Netzwerk-Kommuja zusammengeschlossen, dem Netzwerk der politischen Kommunen. Seine Veröffentlichung des zweiten Kommunebuchs ist ein »Kaleidoskop des Alltags«, ein Einblick in die Vielfarbigkeit des Lebens in Kommunen.

Burghard Flieger, Redaktion Genossenschaften Ein Kaleidoskop ist ein optisches Gerät, das häufig als Spielzeug verwendet wird. Die Bezeichnung steht als Sinnbild von ständig wechselnden Eindrücken. Entsprechend passt diese Charakterisierung für die aktuelle Veröffentlichung »das kommunebuch« hrsg. vom Netzwerk der politischen Kommunen. Es vermittelt in jedem Artikel neue Blickwinkel. Der Leserin bzw. dem Leser, der das Buch liest, sieht immer wieder neue Mustern und Farben. Die Artikel weisen wie ein einzelnes Kristall auf den ersten Blick keine klar erkennbare Struktur auf, zusammen ergibt sich aber ein buntes Muster, das sich bei jeder Drehung neu zusammenfügt.

Die einzelnen Beiträge spiegeln die stark subjektive Sicht einzelner Mitglieder unterschiedlicher Kommunen, geprägt von ihrem dortigen Lebenshintergrund. Es fließen darüberhinaus empirische Befragungen, theoretisches Wissen und politische Einschätzungen mit ein. Von typischen wissenschaftlichen Untersuchungen, Monographien einzelner Autorinnen oder Autoren unterscheidet sich das Ganze aber durch die fehlende einheitliche Struktur und die fehlende Verallgemeinerbarkeit der Ausführungen. Zugrunde liegt ein fundiertes und reflektiertes Erfahrungswissen der beteiligten Kommunemitglieder. Sie fügen dies aber nicht zu gemeinsamen Schlussfolgerungen, Aussagen oder Resümees zusammen. Diese geistige Leistung muss die Leserin oder der Leser selbst leisten.

Vielfältiger Einblick

Was damit gemeint ist, wird deutlich, anhand von fünf Themen, die in der Veröffentlichung unterschiedlich intensiv aufbereitet sind. Dazu vorab die im Mittelpunkt stehenden Inhalte. Zu jedem Gliederungspunkt äußern sich mehrere Kommunard/innenaus verschiedenen Kommunen. Die Themen sind: »Zusammenhalt - der Kitt der Kommune«, »Geschlechterverhältnisse im Wandel: macht. beziehungen. queer«, »Politik innen wie außen: konkret. politisch. handeln«, »Ökonomie: … und dann teilen wir die ganze Bäckerei«, »Arbeit. Dem Arbeitsbegriff Abhilfe schaffen - kritische Auseinandersetzungen«, »Altwerden: Pink & Silver Age - wie können wir in Kommunen altern?«, »Geschichte wird gemacht – der lange Weg zu uns«. So unorthodox wie diese Gliederungspunkte sind auch die jeweiligen Ausführungen dazu. Fünf Variationen dieses Kaleidoskops geben einen kleinen Einblick in das Buch:

Entwicklung und Dynamik der Kommunen

Steffen vom Lossehof nennt hier die Korridorthese. Eine Gruppe kann in einem gemeinsamen Rahmen, der Grenzen aufweist, viel Zusammenhalt entwickeln. Dies ergänzt er mit der Kutschenmetapher: Diese fährt in einer Richtung, einige treiben die Kutsche an, andere schlendern hinterher, mehrere machen den Weg für die Fahrt frei. Wichtig aber ist, dass die Gruppe eine gemeinsame Richtung fährt: Korridor und Kutsche ermöglichen den Zusammenhalt.

Zusammenleben, Beziehungsstrukturen und Sexualität

Verena von der Villa Locomuna wertet eine Befragung aus. Sie zeigt Beziehungsformen spielen in persönlichen Gesprächen eine große Rolle, sind aber trotzdem die private Angelegenheit der jeweiligen Personen. Das mündet in einem Fall in die Aussage: »Heteronormative Zweierbeziehungen herrschen vor und werden nicht hinterfragt«. In einzelnen Fällen kann dies so weit gehen, dass eine Mehrheit an Pärchen zur Einsamkeit von Singles führen.

Perspektiven des Älterwerdens und des Alterns

Uwe vom Olgahof erläutert: Je älter die Menschen sind, desto schwieriger wird es für sie, als Neue hier zu sein, hereinzutreten und für uns sie aufzunehmen. Gleichzeitig bekommt das Altern in den Gemeinschaften eine neue Bedeutung. Altern führt zu veränderten Bedürfnissen. Ältere Kommunemitglieder wollen weniger in der Mitte der Entscheidungen stehen, nicht immer die gleichen Themen mit immer neuen Leuten führen. Sterben und Tod kann sogar zum Gesprächsinhalt eines themenbezogenen Plenums werden – vor 20 Jahren wäre dies wohl kaum möglich gewesen.

Organisationsstrukturen und Regelungen Gemeinsamer Ökonomie

Dagmar von der Villa Locomuna und Steffen vom Lossehof reflektieren über die Möglichkeiten, ökonomische Ungleichheit abzubauen. Für sie bedeutet gemeinsame Ökonomie, dass Wirtschaften nicht hierarchisch, sondern gemeinschaftlich erfolgt. Dazu gehört das Aufgeben von Privateigentum zugunsten von Gemeinschaftseigentum. Ihre Erläuterungen zur Alltagsökonomie als die täglichen Einnahmen und Ausgabe der einzelnen Personen in der Gemeinschaft und der Vermögensökonomie, bei der es um das Eigentum an Produktionsmitteln, Grundstücken und ererbten Vermögen geht, sind erhellend. Auf sinnvolle rechtliche Strukturen, über die dies zu organisieren wäre, beispielsweise über eine Genossenschaft, wird erstaunlicherweise nicht eingegangen.

Wirtschaften über wechselseitig bezahlte Arbeit oder über »fairen Tausch«?

Hans von der Kommune Kommurage wünscht eine Gesellschaftsform, in der es keinen Tausch über Geld gibt. Seine Erfahrungen mit fünf Kommunen im Wendland, die immer wieder eng zusammenarbeiten zeigen, dies ist keine Utopie, sondern unter ihnen verbreitete Praxis. Wechselseitige Mitarbeit beim Arbeiten im Gasthof, beim Gemüseanbau, beim gemeinsamen Holzschlagen im Wald, auf den Baustellen der einzelnen Projekte gehören zum selbstverständlichen Verhalten. Und die typische Antwort bei der Nachfrage, ob sich jemand benachteiligt fühlt: »Ich glaube eher, wir bringen gerade zu wenig ein«. Wirtschaften zwischen einzelnen Kommune geht also manchmal anders als üblich.

Sammlung von Essays

Das Wort Kaleidoskop stammt aus dem Griechischen und bedeutet: schöne Formen sehen. Im Kaleidoskop spiegeln sich die Gegenstände mehrfach, so dass aus Einzelheiten ein symmetrisches farbiges Muster wird, das sich beim Drehen ändert. Entsprechend wirkt das Kommunebuch mit seinen einzelnen Beiträgen nicht, als verfüge es über eine klare systematische, gut durchdachte Struktur. Die Leserin und der Leser müssen sich mehr oder weniger durcharbeiten durch eine Sammlung von Essays und Gesprächen. Die Beiträge sind Reflexionen, die sich manchmal ergänzen, bisweilen überlagern, mal sind sie langatmig, mal kurzweilig. Zusammen spiegeln sie das bunte Muster eines Ausschnitts aus der Vielfalt der Kommunen wieder. Auf diese Weise werden viele neue schöne Formen erkennbar. Sie bieten Anstoß und Stoff für einen Diskussionsprozesses entsprechend dem alten Buchtitel von Rudolf Bahro »Kommune wagen!«

Kommuja (Hrsg.): Das Kommunebuch, utopie. gemeinsam. leben., Berlin 2014, Verlag Assoziation A, 344 Seiten, 18 Euro.

Weitere Informationen unter: www.kommuja.de

Diese Homepage ist die Anlaufstelle von Kommuneinteressierten. Die beteiligten Projekte des Kommuja-Netzwerks sind dort aufgeführt.



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