Aus der Prignitz zur Degrowth – Konferenz und zurück

Wenn Schnecken Lastwagen überholen heißt das Degrowth

Entschleunigung kann ganz schön stressig sein: 3000 WachstumskritikerInnen werden bei der diesjährigen 4. Degrowth-Konferenz in Leipzig dabei sein. Frank Wesemann (42) ist einer von ihnen. Frank ist seit siebzehn Jahren Biobauer in der Prignitz, was zwischen Elbe und Wittstock/Dosse liegt. Er ist skeptisch, ob Theorie und Praxis zusammenfinden, ob die TeilnehmerInnen und ReferentInnen ihr Vorhaben nach der Konferenz wirklich in die Tat umsetzen.

Von Dana Berg, Berlin Frank sitzt mit seinem 15-jährigen Sohn Tomte und seiner Lebensgefährtin Sarah im Zug von Berlin nach Leipzig. Sie nutzen die anderthalbstündige Bahnfahrt, um noch schnell einen Blick in das Programm der 4. internationalen Degrowth-Konferenz zu werfen: "Man hätte sich schon viel früher auf die Konferenz vorbereiten können, um einen roten Faden zu haben", sagt Frank zu seiner Partnerin Sarah. Die hohe Anzahl der Veranstaltungen, Workshops und Diskussionsgruppen aus den Bereichen Wissenschaft, Kunst und der Praxis überfordert das Paar: "Also ich will auf jeden Fall Harald Welzer und Niko Paech sehen", sagt sie, "und Du?" Gehetzte Blicke ins Programmheft und der ständige Blick auf die Uhr folgen. Sie sind ein notwendiges Übel der kommenden fünf Tage: Workshops mit der Bezeichnung "Speed Dating for Scientist", noch schnellere Formen der Entscheidungsfindung, zeitlich streng begrenzte Redezeiten. Schließlich geht es um die Rettung des Planeten und die darf nicht länger auf sich warten lassen. Die Degrowth-Philosophie beginnt schon bei der Anreise. Alle TeilnehmerInnen wurden im Vorhinein aufgefordert, ressourcenschonend aus ihren jeweiligen Ländern, Dörfern und Städten anzureisen. Manche Aktivisten sind sogar mit dem Lastenfahrrad aus der Schweiz geradelt. Wer die Konferenz von zu Hause aus verfolgen will, schaut sich den Livestream an.

Degrowth bedeutet auch Vertrauen und Teilen

Frank und seine Familie sind für die fünf Konferenz-Tage in dem Leipziger Hausprojekt Pöge-Haus e.V. in der Hedwigstraße untergekommen. Eine Bewohnerin stellt ihnen ihre Wohnung ohne Gegenleistung zur Verfügung, obwohl sie sich noch nie begegnet sind. "Degrowth bedeutet eben auch Vertrauen und Teilen", sagt Silke Helfrich, eine Vertreterin der Commons-Bewegung, auf der Eröffnungsveranstaltung. Niko Paech, Volkswirt und Autor zahlreicher wachstumskritischer Werke macht die Absurdität der Ressourcenverschwendung in unserer Welt anhand zweier Beispiele deutlich: Eine Bohrmaschine wird im Jahr durchschnittlich nur 18 Minuten benutzt. "Braucht man da wirklich eine Eigene?" fragt er das verblüffte Publikum. Der tatsächliche Preis eines Hamburgers müsste rund 200 Euro betragen, wenn man die tatsächlichen Folgekosten für die Umwelt, die Gesundheit und Personalkosten hinzurechnet.

Am ersten Tag hat Frank den Kerngedanken von Degrowth verstanden: "Wenn Schnecken Lastwagen überholen, nennt man das Degrowth. Es geht nicht darum weniger zu wirtschaften, sondern anders zu wirtschaften. Es geht im Grunde darum das Unmögliche möglich zu machen."

Die Lichtgestalten der Postwachstumsgesellschaft

Die Veranstaltungen von Hartmut Rosa, Niko Paech und Harald Welzer sind rappelvoll. Per Video-Livestream kann man den Lichtgestalten der Postwachstumskritik in den Nachbarhörsälen beim denken zuschauen. Die Erwartungen der Teilnehmer an sie sind hoch. Fertig verpackte Lösungen gibt es aber nicht. Jedenfalls nicht im Passivmodus. Die Teilnehmer sind dazu aufgerufen selbst zu denken und selbst aktiv zu werden. Frank sieht den Hype um die prominenten Vertreter der Postwachstumsdebatte kritisch:"Man darf den Fokus nicht nur auf die prominenten Vertreter des globalen Nordens werfen. Wichtig sind auch die Stimmen aus dem globalen Süden, die das Thema Wachstumskritik aus ihrer eigenen Perspektive beschreiben." Es bestehe darüber hinaus die Gefahr, dass sich eine homogene Gruppe fünf Tage lang gegenseitig bestätigt und danach so weiterlebt, wie vorher. "So ändert sich auf dem Planeten nichts." sagt Frank skeptisch. Er hat viele Fragen: Wer nimmt hier eigentlich teil? Hätte ein einfacher Arbeiter die Möglichkeit mitzumachen? Wie erreicht man sie? Wie nimmt man ihnen die Angst vor dem Verlust ihres Status Quo? "Dafür bräuchte man ganz konkrete Handlungskonzepte.", sagt Frank.

Die Sprache einer Degrowth-Bewegung muss Sexy sein

Die Sprache spielt auf der Konferenz eine wesentliche Rolle. Es gibt sogar Workshops, in denen sich die Teilnehmer neue und besser geeignete wachstumskritische Begrifflichkeiten ausdenken sollen. "Es wird keine Suffizienz-Bewegung geben, weil das einfach unsexy Begrifflichkeiten sind." sagt der Sozialpsychologe Harald Welzer. Die Kernfrage der Suffizienz ist: Wie viel ist genug und wie unterscheiden wir 'echte' Bedürfnisse von denen, die die Werbung ständig neu produziert? Walzer bremst die feierliche Stimmung des Kongresses etwas aus, denn die großen Konzerne werden sich weiter so verhalten wie bisher, wenn wir nicht handeln. Wie absurd das Denken von Konzernchefs sein kann, macht er anhand eines Cartoons deutlich: Ein Manager steht vor seiner Power-Point-Präsentation und sagt zu den Anwesenden: "Es ist absolut klar: wir stehen unmittelbar vor dem Untergang des Planeten, aber davor eröffnen sich noch unglaubliche Marktmöglichkeiten." Als Frank das hört muss er lachen: "genau das ist das Problem! Wir wissen längst, dass wir so nicht weitermachen können und machen trotzdem weiter." Einige Anwesende finden das Auftreten von Welzer herablassend und arrogant. Frank findet die provokative Art Welzers angemessen. "Kuscheldebatten und gute Argumente werden nicht dazu führen, dass die großen Konzerne ihre Macht abgeben. Was passieren kann, wenn es wirklich um Verteilungskämpfe geht, oder sich Machthaber bedroht fühlen, hat man auf dem G8-Gipfel in Genua gesehen.", sagt Frank nachdenklich.

Nach dem Kongress ist vor dem Kongress

Frank ist wieder zurück auf seinem Biobauernhof in der Prignitz. Soviel ist ihm klar geworden: Degrowth ist nicht neu und Wachstumskritiker sind nicht die besseren Menschen. Wer solidarisch Wirtschaften möchte, muss Kompromisse eingehen und Widersprüche aushalten. Wachstumskritiker haben die kapitalistischen Denkstrukturen genauso verinnerlicht, wie der 'Otto-Normal-Verbraucher' auf der Straße. Diese Erkenntnis kann seiner Ansicht nach ein erster Schritt in die richtige Richtung sein. Die Anwesenden tragen das, was sie kritisieren, ständig mit sich herum: Smartphones, Tablets und Laptops: "Die Frage ist, wer von den 3000 demnächst doch wieder mit Billigfliegern in den Urlaub fliegt?" sagt Frank nach der Konferenz am Telefon. Was alle vereint ist die Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann. Die Konferenz war für ihn ein Sammelbecken verschiedener theoretischer Ebenen. Ein praktischer Ansatz für den 'normalen' Menschen muss jetzt nach der Konferenz weiter ausgearbeitet werden. "Der Nährboden dafür ist aber jetzt da". Was möchte Frank in Zukunft anders machen? Was verändert sich für ihn nach der Konferenz? Frank ist bereits 17 Jahre aktiver Biobauer. Vor drei Jahren gründete er eine Solidarische Landwirtschaft (C.S.A.=Community supported agriculture). Für die Konferenz Solidarische Ökonomie im September 2015, die sich als Folgekonferenz der diesjährigen Degrowth-Konferenz versteht, möchte er ein ganz konkretes und praktisches Handlungskonzept ausarbeiten. Er stellt sich einen Baukasten vor, der mit ganz konkreten Beispielen aus der Alltagspraxis zeigt, wie der Mensch auf der Straße seinen C02 Ausstoß auf zwei Tonnen pro Jahr reduzieren könnte. "Man muss ein Vorbild sein, den anderen vorleben, dass Kooperation funktioniert und dass weniger Besitz nicht gleich Verlust bedeutet, sondern ein Gewinn an Lebensqualität."

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