Es geht auch anders! 30 Jahre Werkhof Darmstadt

Im Juli feiert der Werkhof Darmstadt, Verein zur Förderung der Selbsthilfe gem. e.V., 30 Jahre Selbstverwaltung mit einem Tag der offenen Tür und einem afrikanischem Fest. Zwei der Mitbegründer sind immer noch dabei. Einer blickt für CONTRASTE auf drei bewegte Jahrzehnte in Selbstverwaltung zurück. Und dies in einem Unternehmen, das berufliche Bildung, Völkerverständigung und Entwicklungszusammenarbeit sowie Umwelttechnik unter einem Dach erfolgreich zusammengeführt hat.

Wolfgang Jakob, Werkhof Darmstadt Ja, es gibt uns noch – 30 Jahre nach einer verrückten Idee: Der Selbstverwaltung mit betrieblicher Mitbestimmung aller Mitarbeitenden! Und wir sind auch heute noch selbstverwaltet! Obwohl die Geschichte sehr bewegt war, zeitweise waren es fast 30 Kolleg/innen, viel Projektarbeit im In- und Ausland, heute auch an verschiedenen Standorten in Darmstadt.

Blicken wir zurück: Ausgehend von den politisch-emanzipatorischen Bewegungen Ende der Siebziger/Anfang der Achtziger Jahre entstand 1983 bei einer Gruppe Gleichgesinnter in Darmstadt die Vorstellung einer demokratisierten Betriebsform mit gleichberechtigten Arbeits- und Entscheidungsstrukturen. Hieraus entstand der Werkhof Darmstadt e.V. (kurz: WHD). Ziele waren hierbei:

* berufliche Bildung von arbeitslosen Jugendlichen und jungen Erwachsenen

* Völkerverständigung und Entwicklungszusammenarbeit

* Umwelttechnik

Wir haben 1984 zusammen mit 24 Auszubildenden (davon je 50% weiblich/männlich) in den Bereichen »Betriebsschlosserei« und »Nachrichtengeräteelektronik« einen »außerbetrieblichen« Ausbildungsbetrieb nach den Rahmenstoffplänen der Industrie-und Handelskammer (IHK) begonnen. Die Rahmenstoffpläne sind Richtlinien der IHK für Ausbildungen.

Es wurde ein wöchentliches Plenum etabliert, auf welchem alle alles diskutieren und per Konsens beschließen konnten. Erste Probleme tauchten umgehend auf: Unklare Mitbestimmungs- und Verantwortlichkeitsstrukturen, mangelnde fachliche Kenntnisse, schwerfällige Organisationsprozesse, ein »kreatives Chaos in der Werkstatt«, bis hin zu persönlichen Konflikten. Das Ergebnis zum Abschluss des ersten Ausbildungsganges bestand in einem drastischen Rückgang der Beschäftigtenzahl und des betrieblichen Bilanzvolumens. Zu diesem Zeitpunkt (1987/88) war das allgemeine Plenum gescheitert.

Die Diskussion konzentrierte sich im Weiteren auf Ausgründungen, wozu als neue Struktur ein »Projektrat« unter Beteiligung aller Projekte und Betriebe etabliert wurde. Diese Struktur hat in der Folge auch nur wenige Jahre getragen. Die ausgegründeten Betriebe lösten sich teilweise wieder auf oder verlagerten sich aus Darmstadt weg. Auch das bis dahin geltende Einheitslohnsystem wurde aufgegeben.

Projekte als Hilfe zur Selbsthilfe

Ab 1988 wurde dann der Ausbildungsberuf »Schlosser/in« abgelöst durch das modernisierte Berufsbild »IndustriemechanikerIn, Fachrichtung Betriebstechnik«. Weitere Aktivitäten kamen hinzu:

- Einwerbung einer Vielzahl von Projekten der Entwicklungszusammenarbeit, vor allem in Nicaragua (Solidaritätsbewegung, Gründung der »Agencia Tecnica de la Solidaridad – ATES« zusammen mit anderen Gruppen, Warentauschgeschäfte über die HANTEX GbR) sowie Beginn der Zusammenarbeit mit Organisationen in Mosambik.

- Maschinenrecycling, »angepasste Technologien« und Solartechnik in Form einer Beschäftigungs- und Qualifizierungsinitiative »Technologiewerkstatt«.

- Einwerbung von Umschulungs- und Ausbildungsmaßnahmen (Elektronik/Metall).

Nach Ende der »Projektratsstruktur« 1992 hat die verbliebene Restbelegschaft den Betrieb durch Maßnahmen wie Einführung eines differenzierten Lohnsystems in Anlehnung an BAT, sowie durch verstärkte Rationalisierung der Arbeit konsolidiert.

1990 bis 2012 wurden große EU-Auslandsvorhaben (bis zu je 5 Mio. Euro) in vielen Ländern in Lateinamerika und Afrika mit dem Ansatz »Hilfe zur Selbsthilfe« abgewickelt in den Bereichen:

* produktionsorientierte berufliche Bildung

* Förderung von Kooperativen und kleinindustriellen Betrieben in den Bereichen Gerbereiwesen, Pappeproduktion, Verarbeitung ökologischer Früchte und Kaffee, ökologische Baumaterialien, partizipative Radios

* sozialer Wohnungsbau und Gemeinwesen-Entwicklung

* Wasserversorgung/Abwasserentsorgung

* Fairer Handel und ökologische Landwirtschaft

* Frauen-/Jugendförderung

Die bisher etwa 200 Vorhaben wurden durch eine entwicklungspolitische Öffentlichkeits- und Bewusstseinsarbeit ergänzt (»Werkstatt Globales Lernen«, Inlandsstellen des DED, Mitbegründung des nichtkommerziellen Radios RaDaR e.V. in Darmstadt sowie der Redaktion »Treffpunkt Eine Welt«).

Veränderungen in der beruflichen Bildung

Die Ausbildung von (bisher 300) arbeitslosen Jugendlichen wird bis heute fortgeführt. Hierzu wurde 10 Jahre lang ein Schlosserbetrieb unterhalten. Seit 2003 ist der Werkhof auch tätig in der Qualifizierung und beruflichen Orientierung von Jugendlichen im Übergang von der Schule in den Betrieb und hat hierzu im Rahmen der EU-Programme EQUAL, XENOS, BIWAQ verschiedenste innovative Projektansätze erprobt und umgesetzt und ist deshalb auch im »Soziale Stadt«-Gebiet Eberstadt-Süd mit der Außenstelle »Jugendwerkstatt« mit dem konzeptionellen Ansatz einer Produktionsschule aktiv. Über 3.000 Jugendliche wurden in diesem Zusammenhang erreicht und qualifiziert. Eine Besonderheit hatte hierbei das Innovationsprojekt »Mädchen&Technik« mit dem Schwerpunkt regenerative Energien gespielt.

Seit 2005 wurde aus Rationalisierungsgründen ein »Geschäftsführender Ausschuss« (GFA) eingerichtet, um die monatlich stattfindende Entscheidungsebene der Belegschaftssitzung »Gesamtteam« arbeitsmäßig vorzubereiten.

Seit dem letzten Jahr zeichnen sich für den konzeptionellen Ansatz des WHD einer durchlässigen beruflichen Bildung schwerwiegende Verwerfungen in der Förderlandschaft ab. Trotz eines anhaltend hohen Bestandes an benachteiligten Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz (bundesweit über 500.000) und trotz sogenanntem Facharbeitermangel wird die Zielgruppe der benachteiligten Jugendlichen faktisch nicht mehr gefördert. Es gibt deshalb im Wesentlichen keine Durchlässigkeit mehr für die berufliche Bildung dieser Jugendlichen (Betriebe akzeptieren diese Zielgruppe nicht).

Dieser Umstand raubt der Belegschaft zunehmend die Motivation für die sonst sinnstiftende Arbeit. Existenzielle Fragen schieben sich zunehmend in den Vordergrund, sowohl individuell als auch für die Institution. Heute arbeiten noch 12 Kolleg/innen im WHD. Bildet der WHD in zwei Jahren noch aus? Oder sitzen bis dahin viele der WHD-Jugendlichen wieder im Knast? Sind wir nur noch Getriebene in einer fragmentierten sinnentleerten Förderlandschaft? Braucht es wieder brennende Vorstädte? Der Spruch »man soll aufhören, wenn es am schönsten ist« macht immer öfter die Runde. Ein mögliches Scheitern des Werkhofs wird nicht an der Selbstverwaltungsstruktur liegen, sondern an der zunehmenden Entsolidarisierung der Gesellschaft. Aber noch sind wir nicht so weit und feiern erst mal den runden Geburtstag!

Info

30 Jahre Werkhof!

Donnerstag, 17.7., 11 – 16 Uhr: Tag der offenen Tür, Mainzerstr. 74b, Darmstadt

Freitag, 18.7., ab 17 Uhr: Bal Poussière/afrikanisches Tanzspektakel mit Live-Konzert der bekannten KünstlerInnen aus Côte d’Ivoire und Burkina Faso, Bessunger Knabenschule, Darmstadt.

Ausstellung 30 Jahre Werkhof, Ausbildung und Projekte der Entwicklungszusammenarbeit,

Kunsthandwerk

kontakt@werkhof-darmstadt.de

Mailingliste

Einfach hier eintragen:
lists.contraste.org/sympa/info/contraste-liste

Die Umgangsfomen zwischen den NutzerInnen dieser Liste haben wir in einer Netiquette festgelegt.


Schnupperabo

CONTRASTE kann einmalig zum Sonderpreis von 9 € drei Monate lang "beschnuppert" werden. Dieses Schnupperabo endet automatisch und muss nicht gekündigt werden. Hier bestellen ...


Lest Contraste

CONTRASTE kostet im Abo 45 Euro (europ. Ausland 51). Oder Ihr könnt Fördermitglied werden: Mindestbeitrag 70 Euro. Hier abonnieren oder beitreten.


Lexikon der Anarchie

Was bedeutet eigentlich Selbstverwaltung?
Hier könnt ihr es nachlesen.