Juli/August 2014 - Betrachtungen zur Selbstverwaltung in Frankreich

Autogestion statt Bevormundung

In Frankreich war und ist seit jeher das Konzept der Selbstverwaltung »autogestion« im politischen und sozialen Diskurs sehr präsent– und nicht erst im Zuge der 68er-Revolte auf die Agenda gekommen. Frankreich galt im ausgehenden 18. Jahrhundert und Anfang des 19. Jahrhunderts als Geburtsstätte der Selbstverwaltung und als ein europäisches Experimentierfeld von Selbstverwaltungsutopien. Hier entwarfen Frühsozialisten wie Saint-Simon und Charles Fourier fantastische Utopien von zukünftigen Gesellschaften und ein Pierre Joseph Proudhon, der in der französischen Linken auch als »Vater der Selbstverwaltung« gilt, entwickelte das Konzept einer »Volksbank«, die zum Modell vieler späterer alternativer Bankprojekte und Tauschringe wurde.

Foto: PSU-Archiv

Maurice Schuhmann, Redaktion Paris; Susanne Götze, Berlin Das Schlagwort »autogestion« ist auch heute in Frankreich noch viel präsenter als in Deutschland – obwohl hier die Bewegung weitaus kleiner als in Deutschland ist. Dieser Widerspruch geht sicherlich auf die unterschiedlichen Traditionen und politischen Gegebenheiten zurück: Die französische Republik und der staatliche Zentralismus ließen den Franzosen seit jeher wenig Spielraum für autonome Handlungsmöglichkeiten. Während sich schon im 17. Jahrhundert alle wirtschaftlichen und politischen Kräfte auf Paris fokussierten und das Land nach der Revolution die staatlichen Hierarchien in Kultur und Bildung stetig ausbaute, blieben nicht mehr viel Platz und Mittel für lokalen Eigensinn und autonome Projekte. Das hat sich auch heute kaum verändert. Das streng autoritär organisierte Schulsystem und die politische Elitenbildung in Frankreich sind gerade heute ursächlich für zunehmende Politik- und Staatsverdrossenheit – und gleichzeitig der Ausgangpunkt für lokale Kämpfe gegen die »Zentralmacht«.


Die libertäre 1. Mai Demo stand in diesem Jahr unter dem Motto »Pour une revolution autogestionnaire« - »Für eine selbstverwaltete Revolution«, zum dritten Mal fand dieses Jahr die Selbstverwaltungsmesse »foire d’autogestion« statt, zwei eigene Internetplattformen – www.autogestion.asso.fr und www.autogestion.coop – dienen der szeneinternen Kommunikation und die linken Büchertische biegen sich unter dem Gewicht der Neuerscheinungen zum Thema – mit zum Teil auch sehr kritischen Beiträgen zur Selbstverwaltungsdiskussion.


Aus diesem Grund lohnt es sich, einen Blick über den deutschsprachigen Tellerrand zu wagen und sich das Geschehen im Nachbarland näher zu betrachten. Einige der vorliegenden Beiträge knüpfen an bereits erschiene Beiträge des Frankreichschwerpunktes in der CONTRASTEan. Das Lycée autogéré de Paris, die Foire d’autogestion oder das besetzte Flughafengelände Zone à defènse ZAD in der Bretagne spielen weiterhin eine wichtige Rolle in der »autogestion«-Bewegung.


Eingerahmt wird der Schwerpunkt durch die Beiträge von Susanne Götze über die Traditionen der »autogestion« in der französischen Linken und das von Isabelle Böhnke geführte Interview mit Mathieu Colloghan, einem Mitorganisator der »foire d’autogestion«. Mit den Beiträgen von Emma Hermans über das besetzte Haus Transfo im Pariser Vorort Montreuil, das derzeit einen wichtigen Kristallisationspunkt der Pariser Subkultur bildet, und von Berichtes der in Dijon angesiedelten selbstverwalteten Gärten »jardins des maraichers« und der in Rouen gelegenen Farm »Ferme des Vouillons« durch Misson Tew werden einzelne selbstverwaltete Projekte vorgestellt. Einen fast tagesaktuellen Bezug zur Situation in Deutschland hat das von Maurice Schuhmann geführte Interview mit Manon, Pressesprecherin der Sexarbeiter*innen-Gewerkschaft STRASS. Die von Alice Schwarzer ins Gespräch gebrachte Verschärfung der Prostitutionsgesetzgebung ist für die STRASS ein wichtiges Thema, da sie mit dieser staatlichen Repression in Frankreich bereits zu kämpfen haben. Der Schwerpunkt ist ein gemeinsames Projekt von AutorInnen aus Frankreich und in Frankreich lebenden Deutschen, so dass neben den AutorInnen selber auch noch den ÜbersetzerInnen der Dank gilt. Es bleibt auch sicherlich nicht der letzte Schwerpunkt über die Situation unseres europäischen Nachbarlandes.


In diesem Sinne wünschen wir euch eine inspirierende und unterhaltsame Lektüre und freuen uns über lebhafte Diskussionen.


Schwerpunktbeiträge Juli/August 2014

Susanne Götze, Berlin - Vom Antistalinismus zur »Autogestion. Die Geschichte der Selbstverwaltung und der Neuen Linken im Frankreich der 1960er Jahre: Ein historischer Abriss

Isabelle Böhnke, Paris - Foire de l'autogestion. Interview mit Mathieu Colloghan zu Selbstverwaltung in Frankreich

 

Von Emma Hermans - Le Transfo-57 avenue de la République-Bagnolet. Bericht einer Besetzung

Misson Tew - stellt zwei selbstverwaltete Projekte aus Frankreich vor. Landwirtschaftliche Selbstverwaltung in Frankreich

Maurice Schuhmann - Sexarbeit ist ARBEIT! Die französische Sexarbeiter*innen-Gewerkschaft STRASS und das Problem der Selbstorganisation von Marginalisierten - ein Interview




Aus dem Inhalt


Werkhof Darmstadt

Foto: Werkhof Darmstadt

 Im Juli feiert der Werkhof Darmstadt, Verein zur Förderung der Selbsthilfe gem. e.V., 30 Jahre Selbstverwaltung mit einem Tag der offenen Tür und einem afrikanischem Fest.      
Ganzen Beitrag lesen

4. Forum gegen unnütze und unsinnige Megaprojekte

Einige TeilnehmerInnen am 4.Forumauf dem Gelände eines Bauernhofs, der durch das Bergbauprojekt Rosia Montana bedroht ist. Foto: Stuttgart21istueberall

Was haben Stuttgart und ein kleines idyllisches Bergdorf inmitten teils rundlichen teil wuchtigen Bergkuppen und verschlafenen Seitentälern in Rumänien gemeinsam? - Ein Großprojekt.


Rekommunalisierung

Können diese Leitungen denken? Foto: Friederike Grabbitz

Die Stromnetze, in den 1990er-Jahren privatisiert, gehen wieder zurück an die Kommunen oder an neu gegründete Bürger-Genossenschaften. Allein in den letzten drei Jahren sind 500 Energiegenossenschaften neu entstanden. Im Interview Michael Sladek spricht über die Hürden der Netzübernahme und die Zukunft der Energiewende.

Wider wachsen

Kohlekraftwerke abschalten Foto:Privat

Das Klimacamp findet vom 26.07. bis zum 03.08.2014 im Rheinland statt. Es ist eine Aktionsform, die dazu beitragen möchte, den aktuellen Zustand zu ändern. Denn Im Rheinischen Braunkohlerevier ist täglich zu beobachten, wie ein auf Wachstum und Ausbeutung ausgelegtes Wirtschafts- und Machtsystem zu Zerstörung von Lebensgrundlagen führt.

cultural commons collecting society – C3S SCE

Veit Winkler Foto: Privat

Zeitgemäße Vertretung der Urheberrechte von Musikerinnen und Musikern, eine neue Verwertungsgesellschaft neben der GEMA in der Gründungsphase. Ein Interview mit Veit Winkler von der C3S.

Ex-Mafialand in Genossenschaftshand

Vor der Stuttgarter Bahnhofsbaustelle im Mai an der 224. Montagsdemo Foto: Alexander Schäfer (www.schaeferweltweit.de)

Mit der Erpressung von Schutzgeld finanziert die Mafia ihre Organisation, unterhält die Familienangehörigen von Hunderten ihrer inhaftierten Mitglieder und festigt durch Einschüchterung ihre Kontrolle über das Territorium. Aber jetzt ändert sich etwas.

Arbeitskampf in Frankreich: fralib

Nach 1.336 Tagen im Kampf haben die Arbeiter/innen einer Teebeutelfabrik in Gémenos, in der Nähe von Aubagne im südöstlichen Umland von Marseille, einen bedeutenden Erfolg davon getragen. Der Lebensmittelkonzern Unilever hat sich verpflichtet, ihnen zwanzig Millionen Euro zu zahlen.

25. Tischlerinnentreffen

Vom 4. bis 7. September in Groß Wittfeitzen, im Wendland findet das 25. Tischlerinnentreffen statt. Tischlerinnen aus dem Organisationteam stellen sich vor.

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Lexikon der Anarchie

Was bedeutet eigentlich Selbstverwaltung?
Hier könnt ihr es nachlesen.