Maurice Schuhmann, Redaktion Paris; Susanne Götze, Berlin Das Schlagwort »autogestion« ist auch heute in Frankreich noch viel präsenter als in Deutschland – obwohl hier die Bewegung weitaus kleiner als in Deutschland ist. Dieser Widerspruch geht sicherlich auf die unterschiedlichen Traditionen und politischen Gegebenheiten zurück: Die französische Republik und der staatliche Zentralismus ließen den Franzosen seit jeher wenig Spielraum für autonome Handlungsmöglichkeiten. Während sich schon im 17. Jahrhundert alle wirtschaftlichen und politischen Kräfte auf Paris fokussierten und das Land nach der Revolution die staatlichen Hierarchien in Kultur und Bildung stetig ausbaute, blieben nicht mehr viel Platz und Mittel für lokalen Eigensinn und autonome Projekte. Das hat sich auch heute kaum verändert. Das streng autoritär organisierte Schulsystem und die politische Elitenbildung in Frankreich sind gerade heute ursächlich für zunehmende Politik- und Staatsverdrossenheit – und gleichzeitig der Ausgangpunkt für lokale Kämpfe gegen die »Zentralmacht«.
Die libertäre 1. Mai Demo stand in diesem Jahr unter dem Motto »Pour une revolution autogestionnaire« - »Für eine selbstverwaltete Revolution«, zum dritten Mal fand dieses Jahr die Selbstverwaltungsmesse »foire d’autogestion« statt, zwei eigene Internetplattformen – www.autogestion.asso.fr und www.autogestion.coop – dienen der szeneinternen Kommunikation und die linken Büchertische biegen sich unter dem Gewicht der Neuerscheinungen zum Thema – mit zum Teil auch sehr kritischen Beiträgen zur Selbstverwaltungsdiskussion.
Aus diesem Grund lohnt es sich, einen Blick über den deutschsprachigen Tellerrand zu wagen und sich das Geschehen im Nachbarland näher zu betrachten. Einige der vorliegenden Beiträge knüpfen an bereits erschiene Beiträge des Frankreichschwerpunktes in der CONTRASTEan. Das Lycée autogéré de Paris, die Foire d’autogestion oder das besetzte Flughafengelände Zone à defènse ZAD in der Bretagne spielen weiterhin eine wichtige Rolle in der »autogestion«-Bewegung.
Eingerahmt wird der Schwerpunkt durch die Beiträge von Susanne Götze über die Traditionen der »autogestion« in der französischen Linken und das von Isabelle Böhnke geführte Interview mit Mathieu Colloghan, einem Mitorganisator der »foire d’autogestion«. Mit den Beiträgen von Emma Hermans über das besetzte Haus Transfo im Pariser Vorort Montreuil, das derzeit einen wichtigen Kristallisationspunkt der Pariser Subkultur bildet, und von Berichtes der in Dijon angesiedelten selbstverwalteten Gärten »jardins des maraichers« und der in Rouen gelegenen Farm »Ferme des Vouillons« durch Misson Tew werden einzelne selbstverwaltete Projekte vorgestellt. Einen fast tagesaktuellen Bezug zur Situation in Deutschland hat das von Maurice Schuhmann geführte Interview mit Manon, Pressesprecherin der Sexarbeiter*innen-Gewerkschaft STRASS. Die von Alice Schwarzer ins Gespräch gebrachte Verschärfung der Prostitutionsgesetzgebung ist für die STRASS ein wichtiges Thema, da sie mit dieser staatlichen Repression in Frankreich bereits zu kämpfen haben. Der Schwerpunkt ist ein gemeinsames Projekt von AutorInnen aus Frankreich und in Frankreich lebenden Deutschen, so dass neben den AutorInnen selber auch noch den ÜbersetzerInnen der Dank gilt. Es bleibt auch sicherlich nicht der letzte Schwerpunkt über die Situation unseres europäischen Nachbarlandes.
In diesem Sinne wünschen wir euch eine inspirierende und unterhaltsame Lektüre und freuen uns über lebhafte Diskussionen.