Zwangsarbeit. Die Zeitzeugen-App der Berliner Geschichtswerkstatt

Digitale Spurensuche im öffentlichen Raum

Die neue Zeitzeugen-App bringt mit dem Smartphone die Geschichte in die Straßen Berlins. Fünf Touren zu Zwangsarbeit im Nationalsozialismus sind kostenlos nutzbar.

Von Ewa Czerwiakowski, Thomas Irmer, Cord Pagenstecher, Berlin »Ich war 13, als ich in Berlin war, aber ich kann mich an alles erinnern«, schreibt die ehemalige polnische Zwangsarbeiterin Alina Przybyła in ihrem Erinnerungsbericht. »Doch wieder erkennen kann ich heute kaum etwas, so hat sich die Stadt geändert. Nur das Brandenburger Tor habe ich wieder erkannt, an dem ich damals gestanden und an eine Säule gekratzt hatte: ›Pferdchen, bringt mich von hier weg, zurück zu meiner Mama!‹«

Alina Przybyła ist eine von über 30 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, deren Erlebnisse aus der Zeit der NS-Zwangsarbeit in Berlin die Grundlage der neuen Smartphone-Applikation »Zwangsarbeit. Die Zeitzeugen-App« bilden. Die im Rahmen des Berliner Themenjahres »Zerstörte Vielfalt« und von der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« geförderte, kostenfreie App hat eine Pionierfunktion: Erstmals wird das noch neue Medium in der zeitgeschichtlichen Bildungsarbeit zur NS-Zwangsarbeit eingesetzt.

Wische, wo Du Dich hinbewegst!

Mit dem Smartphone in der Hand kannst Du Dich auf fünf Touren durch Berlin begeben, die quer durch das Stadtgebiet führen. Die Applikation lässt Zeitzeugen aus Ost- und Westeuropa zu Wort kommen: Sie erzählen über ihr erzwungenes Leben in Berlin, berichten über die Arbeit in verschiedenen Wirtschaftszweigen oder ihre dürftige Unterkunft in Lagern, von Demütigung und Hoffnung, Verzweiflung und Auflehnung, aber auch von Freundschaft und Liebe. Jede der fünf Touren hat ihren inhaltlichen Schwerpunkt: Die Tour »Ein Pole in Berlin« führt auf den persönlichen Spuren eines polnischen Zeitzeugen im Berliner Arbeiterbezirk Wedding; in der Tour »Opfer und Täter« werden entlang des einstigen Machtzentrums in der Wilhelmstraße an Orten der NS-Schreibtischtäter die Auswirkungen der rassistischen Bevölkerungspolitik auf die Schicksale der nach Berlin verschleppten Menschen thematisiert; die Tour »In der Fabrik« konzentriert sich auf die Zwangsarbeit in zwei Werken der berühmten Berliner Firma AEG; die Tour »Zwangsarbeit war überall«, konzipiert als Radtour vom Potsdamer Platz bis zum Flughafen Tempelhof, betont die Allgegenwart der Zwangsarbeit in der deutschen Hauptstadt, und die mit der Berliner-S-Bahn abzufahrende Tour »Durch die Stadt der Lager« lenkt die Aufmerksamkeit auf die Unterkünfte und Alltagswege der Zwangsarbeiter in der Stadt.

Im Mittelpunkt jeder Tour stehen Selbstzeugnisse der ehemaligen Zwangsarbeiter: Ausschnitte von Video- und Audiointerviews oder vertonte niedergeschriebene Erinnerungsberichte, ergänzt von persönlichen Fotos, Dokumenten oder anderen Erinnerungsstücken. Die App ist sowohl in deutscher wie in englischer Sprache erhältlich, auch um die vielen Touristinnen und Touristen aus aller Welt anzusprechen, die Berlin besuchen.

Spurensuche im Zentrum der NS-Zwangsarbeit

Die ganze Stadt ist das Museum. Der Berliner Stadtraum eignet sich besonders für ortsbezogene Geschichtsvermittlung: Das historische Geschehen scheint hier dicht und Schicht auf Schicht abgelagert zu sein und kann sowohl an geschichtsträchtigen Orten, wie am Brandenburger Tor oder in der Wilhelmstraße, als auch an unscheinbaren Gebäuden, alten Fabrikhallen oder Bahnhöfen neu entdeckt und abgelesen werden.

Das nationalsozialistische Berlin war ein Zentrum der Zwangsarbeit: Zwischen 1938 und 1945 mussten eine halbe Million Menschen – Männer, Frauen und Kinder – in Berliner Fabriken, anderen staatlichen und privaten Dienststellen und Privathaushalten unter Zwang arbeiten, so viele wie in keiner anderen deutschen Stadt. Als erste waren es die Berliner Jüdinnen und Juden, die im Zuge der sich verschärfenden Entrechtung und rassistischen Diskriminierung für öffentliche Arbeiten bereits vor dem Krieg und ab 1940 in den Berliner Rüstungsbetrieben Zwangsarbeit leisten mussten. Im Laufe des Krieges setzte der nationalsozialistische Machtapparat immer mehr Menschen aus den deutschbesetzten Gebieten zur Zwangsarbeit in der damaligen Reichshauptstadt ein, sowohl verschleppte Zivilisten als auch Kriegsgefangene und zuletzt Häftlinge der Konzentrationslager. Aus der deutschen »Volksgemeinschaft« ausgegrenzt, lebten die Entrechteten in über 3.000 Lagern, direkt vor der Haustür der Deutschen. Mit der Smartphone-App werden Erinnerungen dieser unfreiwilligen Berlinerinnen und Berliner wieder vor Ort lebendig.

»Grabe wo Du stehst!«

Grundlage der App bilden Quellen der Oral History, wie Ausschnitte aus den Zeitzeugen-Interviews. Ein Projektteam der der Berliner Geschichtswerkstatt konzipierte sie. Die Methode der Oral History ist eng mit der Geschichte der Berliner Geschichtswerkstatt und ähnlicher Initiativen aus der »Geschichte von unten«- und »Grabe wo Du stehst«- Bewegung Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre verbunden. Ziel war es, anderen, »gewöhnlichen« Menschen eine Stimme zu geben, nicht nur »großen Männern«. Im Mittelpunkt sollten außerdem Erfahrungen aus dem Alltag stehen und keine Herrschaftsgeschichte.

Ende der 1980er hielt die »Oral-History«-Methode Einzug in den zunehmend kritisierten etablierten Geschichtswissenschafts- und Kulturbetrieb. Heute kommt kaum noch eine Geschichtsausstellung ohne einen Bezug zur Alltagsgeschichte aus. Ausgerechnet der technische Fortschritt in Form der Digitalisierung war für die Oral-History der Durchbruch. Für die Erzeugung von Quellen der Oral History und deren Nutzung etwa auf Websites, in sozialen Netzwerken, auf DVDs und in Online-Archiven bedeutete die Digitalisierung einen Quantensprung: Alle können heute umfangreiche Ton- und Bildaufnahmen von höchster Qualität herstellen, verarbeiten und verbreiten. Und nicht zuletzt auch die digitalisierten historischen Quellen nutzen. An diese Entwicklung knüpft die Zeitzeugen-App an und stellt die Digitalisate in eine neue Beziehung zum öffentlichen Raum.

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