Füße und Horizont

Foto: MOVE Utopia

Die Wege hin zur Utopie, hin zu einer befreiten Gesellschaft sind verschlungen, verknotet, manchmal kann man nicht sehen, wohin sie hinter der nächsten Biegung verlaufen, wo unser nächster Schritt hinführt. Wir schreiten fragend voran, setzen unsere Schritte auf einen Weg, der schon von Generationen vor uns begonnen wurde und von Menschen nach uns hoffentlich noch weiter begangen wird.

Luisa Kleine, Move Utopia

Auf diesem Weg können wir manchmal die Utopie ganz klar sehen. Eine Utopie, in der Natur nicht mehr nur als eine Ressource und Tiere nur als Fleisch begriffen werden, in der Menschen sich nicht mehr für ein System verwerten müssen, das unsere Lebensgrundlagen zerstört und uns vereinzelt. Wir sehen klar eine Utopie vor uns, in der Menschen gleichwürdig miteinander ihre Lebensverhältnisse herrschaftsfrei gestalten und zwischen Lust und Notwendigkeit selbstbestimmt tätig sind mit dem, was sie beitragen wollen. Eine Utopie, in der wir alle frei und verbunden miteinander leben können, und Menschen sich begegnen können ohne sich in Schubladen von Gender, Alter, Herkunft usw. zu stecken.

Beim MOVE Utopia haben wir die Utopie einer Welt, in der es Besitz (Dinge über die ich verfüge, weil ich sie brauche) statt Eigentum (also das Recht, andere Menschen von einer Ressource, die ich nicht brauche, auszugrenzen), Teilen statt Tauschlogik (also die Organisationsstruktur, die durch Equivalenztausch funktioniert, ein Tausch, der nur zustande kommt, wenn die Ressourcen den gleichen Wert haben) und sinnvollem Tätigsein statt Arbeit (damit meinen wir Arbeit, die uns und dem Planeten nicht gut tut, um Geld zu bekommen).

Es ist wichtig, sich über unsere Utopien Gedanken zu machen, Kritik an den Verhältnissen zu üben, in denen wir gerade leben. Wir müssen uns aber auch immer wieder daran erinnern, weiter zu gehen, während wir uns am Wegesrand über Kritik und Analyse schlaue Gedanken machen und Utopien spinnen.

Manchmal kann ich diese Utopie im Hier und Jetzt flüchtig aufleuchten sehen. Da sehe ich, wie andere Organisationsstrukturen einfach funktionieren und dem Glück der Menschen und anderen Lebensformen dienen. Ich sehe, wie Menschen sich begegnen und Mauern überwinden und Banden bilden. Es gibt Momente voll duftendem Essen, Stimmengewirr, Solidarität und Selbstbestimmtheit, in denen sich alles genau richtig anfühlt, auch wenn im Außen so viel falsch ist. Es verblüfft mich, wie viel Utopie in einem System, das sich immer mehr in eine Dystopie entwickelt, möglich ist.

Wir gehen auf einem langen langen Weg, vor uns sind noch viele Schritte, die Revolution ist ein Dauerlauf, kein Sprint. Immer wieder müssen wir hoch schauen, um zu sehen, wohin wir gehen, ob wir noch den richtigen Kurs haben, ob wir ihn vielleicht auch ändern müssen. Wir dürfen nicht aufhören, uns darüber auszutauschen, auch über das, was dort, wo wir gerade stehen, falsch läuft. Und dann ist es aber auch immer wieder dran, auf unsere Füße zu gucken, um uns zu fragen, wo wir jetzt gerade stehen und was jetzt gerade dran ist. Dann sehen wir die alte Nachbarin, für die eingekauft werden muss, der Bagger, den wir blockieren können, das Kind, das gestillt werden möchte, den Freund, der eine Schulter zum Anlehnen braucht, die Veranstaltung, die organisiert werden will und den Obstbaum, der geschnitten werden sollte. Manche dieser Tätigkeiten würden wir in unserer Utopie genau so tun, manche müssten wir nicht mehr tun. Jetzt gerade sind sie einfach dran.

Und nicht nur im Außen gibt es Strukturen zu verändern, auch im Innen leben noch viele Glaubenssätze, Handlungsmuster und Traumata, die uns davon abhalten, so manchen utopischen Schritt zu gehen. Manchmal sind schon die Schritte eine kleine Utopie, die Art, wie wir sie gehen, die Kunst, immer in der Geschwindigkeit zu gehen, die mir entspricht, an den richtigen Stellen mal eine Pause zu machen und zu sehen, wo die Anderen gerade ihre Schritte setzen.

Immer wieder schaue ich von meinen Füßen hoch zum Horizont. Sehe eine tierleidfreie Welt vor mir und esse containerten Jogurt, den es in der Utopie nicht gäbe (in der es natürlich keine Lebensmittelverschwendung gäbe) oder ein Stück Hühnchen, weil die liebe Oma von nebenan stundenlang für mich gekocht hat und mein Vegansein noch nicht versteht. Ich nehme Geld an, obwohl es in meiner Utopie kein Geld gibt, ich fahre Auto, weil es das gerade braucht, um zu einem wichtigem Treffen zu kommen. Auch die Tauschlogikfreiheit muss manchmal dran glauben und wir brauchen immer wieder Krücken in Form von Regeln, Absprachen, Methoden und so Dinge wie Spendenempfehlungen oder Verträge, weil wir manchmal nicht alle das Vertrauen haben, radikal tauschlogikfrei zu leben oder das alte System zu großen Druck auf unsere utopischen Blasen ausübt, sodass seine Logiken zu sehr in unsere Zusammenhänge hineinwirken.

Wir alle erzeugen als Mitteleuropäer*innen dieser Zeit Leid, wir handeln nicht radikal utopisch, wir leben nicht die Utopie. »Living Utopia« ist im Kapitalismus nur in begrenzten Räumen und Zeiten möglich. Und das fühlt sich manchmal ziemlich unerträglich an, dann lasten die Ideale schwer und hindern uns am Gehen.

Auch beim MOVE bewegen wir uns immer wieder in diesem Spannungsfeld. Wollen wir »freegane« Lebensmittel (also von der Tonne gerettete, nicht vegane Produkte)? Ist es tauschlogikfrei, wenn die Firmen, von denen wir Essen retten, durch unsere Veranstaltung Werbung machen? Dürfen Menschen, die übergriffig werden, ausgeschlossen werden? Wen schließen wir mit unserer Art zu sprechen und zu organisieren aus? Wie gehen wir mit Drogen um? Und wie mit Nacktheit?

Unser Anspruch ist es nicht, einen utopischen Raum zu schaffen. Das zu behaupten, wäre anmaßend. Auf dem MOVE wird es ohne Zweifel Sexismus, Gewalt, Tauschlogik und noch vieles mehr geben, was wir uns in unserer Utopie nicht vorstellen können. Unser Anspruch ist es, fragend voranzuschreiten, Experimente zu wagen, unsere Kultur zu reflektieren und aktiv zu gestalten, offen zu sein für Kritik und Ideen und unser Bestes zu geben, diese einzuflechten.

Immer wieder gucke ich in diesem Moment Richtung Horizont und sehe blinkende Ideale vor mir, blicke dann auf meine Füße und sehe die Menschen um mich herum mit ihrem Geschichten, ihren Gefühlen und Bedürfnissen und sehe die Zwänge, in denen wir alle stecken und aus denen wir gerade erstmal nicht so einfach rauskommen.

Was mir hilft, ist das Bewusstsein, dass wir alle auf einem Weg sind, auf dem wir Widersprüche aushalten müssen, auf dem wir manchmal Dinge radikal anders machen und Wege ausprobieren, Umwege nehmen, auch mal umdrehen müssen. Wir müssen immer wieder hochschauen zum Horizont und wieder auf unsere Füße, uns immer wieder fragen was unsere Utopie ist, wie wir dort hinkommen und vor allem, was jetzt gerade dran ist.

Ich mache jetzt Pfannkuchen.

 

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