72 Tage Haft wegen »mehr Respekt für das Leben«

Foto: Jens Volle (www.jensvolle.de)

Mehr Achtsamkeit für die Natur und für die Belange der Menschen veranlassten in den letzten Jahren viele AktivistInnen, bei Protestaktionen gegen das unnötige und aufgezwungene Großprojekt Stuttgart 21 teilzunehmen. Unter anderem auch Karl Braig, der im Februar für insgesamt 72 Tage ins Gefängnis musste. Nach 21 Tagen kam er wieder frei, da die restlichen Tage von solidarischen Menschen finanziert wurden. Einige Tage vor Haftantritt führte Steffen Emrich (Gemeinschaft gASTWERKe) ein Interview mit Karl – gekürzt von Contraste-Redakteur Peter Streiff.

Karl, wir sitzen hier in deinem Bauwagen in der Gemeinschaft Sulzbrunn. Draußen liegen rund 50 Zentimeter Schnee. Im Prinzip könnte jeden Moment die Polizei vorbeikommen und dich abholen. Du bist zu zwei Tagen Erzwingungshaft verurteilt und zusätzlich zu 70 Tagessätzen. Warum ist das so, was hast du falsch gemacht?

Ich glaube nicht, dass ich was falsch gemacht habe. Das Ganze resultiert aus mehreren Aktionen gegen Stuttgart 21 schon vor vielen Jahren. Also z.B. die erste Aktion, weshalb ich die Ordnungswidrigkeit bekam und deshalb auch die Erzwingungshaft. Erzwingungshaft heißt: Ich werde gezwungen, meine Vermögen darzulegen. Da ich überzeugt bin, dass es nicht falsch war, was ich gemacht habe, brauche ich dem meiner Meinung nach gar nicht nachzukommen. Die Aktion war damals in Stuttgart-Feuerbach. Es gab dort eine sehr ortsauffällige Weide, ein Stadtbild prägender Baum, und es wurde damals versprochen, dass dieser Baum nicht abgeholzt werden würde. Dann wurde bekannt gegeben, dass der Baum innerhalb von zwei Monaten doch abgeholzt werden soll. Damals gab es eine Gruppe, die sich gegen die Abholzung gewendet hatte. An dem Tag, an dem die Fahrzeuge gekommen sind und die Weide abholzen wollten, haben wir demonstriert. Ich bin dann mit einem Kollegen auf den Baum geklettert, um zu zeigen, dass es nicht rechtens ist, diesen so wertvollen Baum für ein schwachsinniges Projekt zu opfern. (...)

Soviel ich weiß bist du (im Zusammenhang mit der Parkräumung im Schlossgarten) auch festgenommen, angeklagt und mittlerweile auch rechtskräftig verurteilt worden. Ist das jetzt Teil der Tagessätze, für die du im Moment noch gerade stehen musst?

Grund für die 70 Tagessätze war eine Aktion, bei der wir ein Jahr später auf diesem Platz eine Mahnwache gemacht und friedlich mit Kerzen und Gesänge demonstriert haben. Wir haben uns gemeinsam daran erinnert, was da passiert ist, zumal das sehr viele auch traumatisiert hat. Und da war eine Tür auf und da sind wir halt rein gegangen. Wir haben unsere Kerzen verteilt, gesungen und dann kam die Polizei und hat uns wegen Hausfriedensbruchs festgenommen.

Also eigentlich eine Aktion, die in anderen Kontexten als ziviler Ungehorsam auch noch hätte ungestraft durchgehen können.

Genau. Man muss das nicht verfolgen. Man kann das als Ausdruck einer Demonstration, einer Meinungskundgebung, in dieser Situation auch so darstellen. Aber es war einfach von vornherein so, dass sowohl die Politiker als auch die Rechtsprechung darauf ausgerichtet waren, den versuchten Widerstand über Kriminalisierung mundtot zu machen. Was am Anfang überhaupt nicht gelungen ist. Über Jahre haben sehr viele ihre Verfahren gehabt, haben ihr Geld bezahlen müssen, teilweise sind sie auch in den Knast gegangen. Dieser zivile Ungehorsam läuft in den letzten zwei Jahren nicht mehr. Jetzt gibt es wöchentliche Demos, wo seit 450 Wochen regelmäßig zwischen 300 und 3.000 Menschen zusammenkommen und sich in Form einer Volkshochschule zum Thema Stuttgart 21 aber auch zu vielen anderen Themen zusammenfinden.

Um das nochmal klarzustellen. Deine Aktionen waren alles keine Gewaltaktionen gegen Sachen oder gar gegen Menschen, sondern es ging eigentlich um den konkreten Schutz von Bäumen oder uum das aufmerksam Machen auf diese Geschichte, aber in Form von ganz gewaltfreien Aktionen. Soviel ich weiß, bist du schon seit vielen Jahren politisch aktiv. Wird man da nicht langsam müde?

Ja, es kommt schon wieder die Phase, wo ich mir überlege, ob diese Art von Protest noch visionär ist? Bringt es uns vorwärts? Deswegen hatte ich mir auch hier in der Gemeinschaft ein Jahr Auszeit genommen, um selbst zu reflektieren: Ist es das oder gibt es noch andere Ansätze? Es geht auch darum, wieder mehr Kraft zu finden und daraus eine andere Vision vom Leben und Zusammenleben mit Tieren und Menschen zu entwickeln. Nach diesem Jahr ist mir klar geworden: Es gibt diese Außenwelt auch und die entwickelt sich nicht in die Richtung, die wir brauchen. Wie jetzt der Hambacher Forst oder Stuttgart 21 und viele andere Projekte weltweit immer wieder auch zeigen. – Da muss ich sagen: Stopp! Es darf so nicht weitergehen, und diese Zeichen müssen wir hochhalten und so viel Aufmerksamkeit wie möglich herstellen. Und dazu kann jetzt auch dieser Knastgang beitragen.

Ich habe zwei Kinder. Damit bin ich auch verantwortlich für deren Leben und ich habe nicht das Gefühl, dass die Entwicklung hin zu einer lebenswerteren und zukunftsfähigen Welt geht, sondern eher in Richtung einer die Zukunft meiner Kinder gefährdenden Situation. Dann kann ich diese kleinen Strohhalme, die mir möglich sind zu ziehen, nicht ignorieren, die nehme ich dann auch an und versuche, die dann auch ins Spiel zu bringen.

Das ganze Interview (Audio und PDF): www.anchor.fm/was-mit-gemeinschaft

Knasttagebuch: https://karlimknast.home.blog

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