»Neue Klassenpolitik«: Papiertiger oder neuer Aufbruch?

In der akademischen Linken wird derzeit über eine »Neue Klassenpolitik« debattiert. Zu verfolgen sind die Beiträge vor allem seit Mitte des letzten Jahres in der monatlich erscheinenden »Zeitung für linke Debatte und Politik« analyse & kritik, in Diskussionszusammenhängen der Interventionistischen Linken (IL), der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Linkspartei. Angestoßen wurde der intellektuelle Streit durch das Buch »Rückkehr nach Reims« von Didier Eribon. Seine These ist schmerzhaft: Die Linke hat sich abgewendet von der Klassenfrage und von den Arbeiter*innen selbst — und damit den Aufstieg der Rechten möglich gemacht.

Anne Seeck, Berlin

Nancy Fraser, US-amerikanische Theoretikerin und Aktivistin, benennt zwei derzeit hegemoniale große Erzählungen: den »progressiven Neoliberalismus« und den »reaktionären Populismus«. (»Blätter« 2/2017). Ersterer sei ein Eliteprojekt, greift Kämpfe um Anerkennung auf, macht sie systemkonform. Letzterer verspreche dem »kleinen Mann« eine Verbesserung seiner Lage — durch Rückbesinnung auf traditionelle Wertesysteme und eine völkisch gedachte Gemeinschaft.

Das Heruntermachen der Identitätspolitik

Das Erstarken der Rechten hätte demnach mit der Schwäche linker Politikangebote zu tun. Die Linke sei elitär und überheblich geworden und hättte vor allem Identitätspolitik betrieben. So lautet die Schelte derjenigen, die die Identitätspolitik diskreditieren wollen. Ihr Vorwurf: Die »Kulturlinke« hat lange zugunsten ihres Kampfes gegen Rassismus, Sexismus und Nationalismus die Klassenfrage vernachlässigt. Sie ist ein gewolltes oder ungewolltes Bündnis mit dem »weltoffenen Neoliberalismus« eingegangen, auch im Sinne des eigenen sozialen Aufstieges. Die Krise der Linken liege also darin, dass die »Identitätspolitik« auf Kosten der Politisierung der sozialen Frage das Ruder übernommen hätte.

Aber die Behauptung, die Linke hätte sich von der sozialen Frage abgewendet, ist schlicht falsch. In Berlin gibt es einige Aktivist*innen, die auch nach den Hartz IV-Protesten und seit Einführung von Hartz IV im Jahre 2005 kontinuierlich an der sozialen Frage »drangeblieben« sind, zum Beispiel indem sie Beratungen für Erwerbslose und Begleitungen zu den Jobcentern anbieten, oder auch politische Veranstaltungen durchführen. Auch im Bereich der prekären Beschäftigung kommt es immer wieder zu Arbeitskämpfen. Und die aktuelle Wohnungsnot hat eine große Mieter*innenbewegung hervorgebracht, Initiativen wie »Zwangsräumung verhindern« haben durch ihr hartnäckiges Engagement erreicht, dass Betroffene sich öffentlich zu ihrer Situation bekennen und sich solidarisieren. Auch sind Aktive im Kampf gegen Rassismus aufgrund der unerträglichen Lebensbedingungen vieler Migrant*innen immer wieder mit der sozialen Frage konfrontiert. Ähnlich befinden sich viele Transgender-Menschen in schwierigen sozialen Situationen, die der Grund für politische Aktivitäten sind.

Kritik an der klassischen Klassenpolitik

Sebastian Friedrich erwähnt die soziale Zusammensetzung der Linken in Deutschland: »Gerade seit den 1970er Jahren rekrutieren Linke ihren Nachwuchs vermehrt aus der Mittelklasse. Arbeiterkinder berichten immer wieder, wie fehl am Platze sie sich in linken Zusammenhängen fühlen.« (ak 16. Mai 2017) Diese Feststellung wurde in einem anderen Artikel im ak als »erhobener Zeigefinger« abgetan. Dabei beschreibt sie die Realität. In der Linken werden die sozialen Unterschiede kaum thematisiert. Viele Linke machen außerdem nur in der Freizeit Politik. Mag Wompel fordert dagegen Alltagswiderstand und Ungehorsam: »Es ist begrüßenswert, wenn sich radikale Linke und soziale Bewegungen der Klassenfrage, sprich den lohnarbeitenden Menschen zuwenden.« (Prager Frühling Nr. 29 März 2018) Es kommt ihrer Meinung nach darauf an, dass »dieses Linkssein im eigenen Alltag und in der eigenen Erwerbstätigkeit fortgesetzt wird«.

Was ist mit jenen, die meinen, man solle sich wieder auf den Kern linker Politik besinnen, auf die Interessen der Arbeiterklasse und den Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Lohnarbeit? Mit solchen Traditionalisten hatten die Aktiven in Anti­hartz-Bündnissen und Sozialforen zu kämpfen. Für sie waren beispielsweise Großbetriebe strategisch wichtig, weil man ihrer Auffassung nach dort die Arbeiterklasse gut organisieren konnte. Was die Arbeiter*innen an Konsummüll produzierten, ob die Arbeit am Fließband stressig oder sinnlos war, interessierte sie nicht. Und auch mit hauptamtlichen Stellvertreter*innen und Interessenvertretungen fanden Auseinandersetzungen statt. Differenzen gab es mit gut bezahlten Funktionären von Wohlfahrtsverbänden, die zwar präzise ausrechnen konnten, wie wenig Regelsatzbeziehende angeblich zum Leben bräuchten, aber Ein-Euro-Jobber*innen für sich arbeiten ließen. Auch mit Gewerkschaftsfunktionär*innen, die auf Sozialpartnerschaft machten, in der Hartz-Kommission saßen und mit SPD-Genoss*innen kungelten. Mit einer linken Partei, die im Bundestag gegen Hartz IV wetterte, das Gesetz aber in den Kommunen unterwürfig umsetzte. Sie passten sich den »Sachzwängen« an.

Warum wird eigentlich gerade jetzt so viel über Identitätspolitik und so wenig über die alte Klassenpolitik geredet? Warum wird auf eine Kritik an den Gewerkschaften, der Armutsindustrie und Wohlfahrtsverbände, der Parteien und der ML-Gruppen verzichtet? Mario Neumann und Sandro Mezzadra von der IL bringen es auf den Punkt: »Eine zeitgemäße Politik der sozialen Frage soll also nicht bei einer Selbstkritik der institutionalisierten Arbeiter*innen-Bewegung, der Gewerkschaften oder der linken Parteien beginnen, sondern auf dem Rücken ›liberaler Gleichstellungspolitik‹ ihre Orthodoxie erneuern, um sich endlich von den Politiken der Neuen Linken zu befreien. Es ist erstaunlich: Viele, die seit Jahrzehnten nichts anderes tun, als eine (oftmals hauptamtliche) Politik der sozialen Frage zu betreiben, reden heute so, als hätte es in den letzten Jahren ihre eigenen Politiken gar nicht gegeben.« (Debattenblog der IL Juni 2017)

Was ist »Neue Klassenpolitik«?

Ihr Anspruch ist, die Kämpfe gegen Ausbeutung (Klassenkämpfe) und Unterdrückung (identitätspolitische Kämpfe) gemeinsam zu führen. So verschwindet der Widerspruch zwischen Identitätspolitiken und Klassenkämpfen. Für Sebastian Friedrich besteht die Besonderheit der Neuen Klassenpolitik darin, dass diese Geschlechterverhältnisse, Rassismus und globale Ungleichheit nicht hinter die Klassenverhältnisse stellt. Im Gegenteil.

Mag Wompel von Labournet fällt es allerdings schwer, das »Neue« an der »Neuen Klassenpolitik« auszumachen. »Die geforderte Integration der ›klassischen Klassenpolitik‹ mit den Kämpfen gegen Rassismus, Sexismus und Nationalismus und den übrigen sozialen Kämpfen um gute Lebensbedingungen entspricht einem Konzept, das seit drei Jahrzehnten als ›Social Movement Unionism‹ bezeichnet wird: Gewerkschaftsbewegung als soziale Bewegung oder zumindest als Teil davon.« Seit mehr als 20 Jahren liegt diese Idee der Arbeit von LabourNet Germany zugrunde.

Das Lower Class Magazine fordert, dass die »Neue Klassenpolitik« aufhören muss, nur Metadebatte zu sein. »Man sollte nicht ausschließlich über sie schreiben, sondern aus der Perspektive, die sie aufmacht, über die Themen, die Menschen bewegen.« (Siehe: lowerclassmag.com/2018/02/vom-reden-zum-tun)

Die Organisationsfrage

Sebastian Friedrich geht davon aus, dass die Klasse nicht am Reißbrett entstehen kann: »Sie basiert nicht nur auf einer ähnlichen Klassenposition, sondern auf gemeinsamen Erfahrungen und gemeinsamem Handeln.« Klasse konstituiert sich durch den Kampf. Friedrich moniert aber das Fehlen der klassenpolitischen Praxis. Ist die »Neue Klassenpolitik« hauptsächlich ein Papiertiger? Wie steht es um die Verknüpfung von Theorie und Praxis? Mit Blick auf die Organisationsfrage gibt es Hoffnung. In einigen Städten entstanden Gruppen, die ihre Stadtteile als Bezugsrahmen verstehen und dort Selbstorganisierungs-Prozesse anstoßen wollen: Themen sind der Stress mit Vermietern, Ämtern und Arbeitgebern. In Berlin-Neukölln entstand die »Solidarische Aktion Neukölln«, in Hamburg »Wilhelmsburg Solidarisch«, in Bremen »Solidarisch in Gröpelingen«, in Frankfurt »Solidarisches Gallus«, ein »Solidarisches Netzwerk Leipzig« usw. Samuel Decker von der IL meint: Um eine neue linke Erzählung zu entwickeln, reiche die Debatte um die »Neue Klassenpolitik« nicht aus. »Sie suggeriert, dass die Linke in den letzten Jahren lediglich einen methodischen Fehler begangen hätte, der sich einfach revidieren ließe. Doch wir haben es mit tiefer liegenden Strukturproblemen linker Transformationsstrategien zu tun.« (ak Nr. 634 Januar 2018) Die Attraktivität der imperialen Lebensweise, die sozial befriedet, und die Perspektivlosigkeit linker Politik im internationalen Standortwettbewerb (Umverteilung erscheint immer irrationaler) trügen dazu bei, dass eine klassenpolitische Konfliktlinie immer wieder verwischt werde.

Ein kurzes Resümee: Wie auch Samuel Decker ausführt, geht es in Strategiedebatten nicht nur um das »Wie«, sondern auch um das »Wer« und »Was«. Also um Methode und Organisierung, um die potenziellen Akteure und vor allem die politischen und gesellschaftlichen Alternativen. In der Debatte um die »Neue Klassenpolitik« wird häufig eine Klassenanalyse gefordert, das heißt eine empirisch fundierte Gesamtuntersuchung der Klassenverhältnisse. Daraus könnte eine erfolgreiche Klassenpolitik entstehen, glauben u.a. Protagonist*innen der Linkspartei. Erfolgsversprechender aber als die Erhebung von Daten und das Verfassen von wissenschaftlichen Studien ist die alltagsorientierte Organisierung prekär lebender Menschen und vor allem eine lebhafte Alternativendiskussion — gegen einen Rechtsruck, der Abschottung als Lösung präsentiert.

Weiterlesen:

Solidarische Aktion Neukölln: solidarischeaktion.blogsport.eu

Friedrich, Sebastian & Redaktion analyse & kritik (Hg.): Neue Klassenpolitik. Linke Strategien gegen Rechtsruck und Neoliberalismus. Bertz + Fischer, November 2018, 220 Seiten, 14 Euro.

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