Kollektiv gegen den Pflegenotstand

Seit 2006 gibt es die Tagespflege Lossetal als ein Pflegekollektiv in der Kommune Niederkaufungen. Dort werden wochentags bis zu 15 dementiell erkrankte Menschen betreut. Die Gäste der Tagespflege sind dadurch tagsüber gut versorgt und können abends wieder in ihre vertraute Umgebung zurückkehren. Ziel ist es, einen Umzug in ein Pflegeheim ganz zu vermeiden oder möglichst lange zu verzögern. Die Entlastung der pflegenden Angehörigen, für die es oft ein 24 Stunden-Betreuungs-Job ist, ist ein ebenfalls erwünschter Effekt.

Jona Königes, Kommune Niederkaufungen

»Menschen in Gesellschaft bringen!« ist das Motto der Tagespflege Lossetal. Deshalb liegt sie nicht am Stadtrand, in einem alten Supermarkt oder an einer lauten Straße. Mitten im Ort, mitten in der Kommune, mitten im Leben der Gemeinschaft mit ihren Arbeitsbereichen, Tagungshausgästen und den spielenden Kindern. Gleich neben dem alten Backhaus, der Kirche und der Losse, die sich durch den alten Ortskern mit den schmucken Fachwerkhäusern schlängelt und viele Besuchspunkte in der näheren Umgebung anbietet.

»Zusammen leben – kollektiv arbeiten« ist das Motto der Kommune Niederkaufungen. Ohne Chef und Chefin in gleichberechtigten und selbstverwalteten Arbeitsstrukturen wurden seit 1986 schon viele kollektive Betriebe aufgebaut. Die Idee war damals, Betriebe aufzubauen, die zur Selbstversorgung der Kommunard*innen beitragen und mit denen man gleichzeitig auf den »Markt« geht, um Geld von außen zu erwirtschaften. Handwerksbetriebe, Gemüseanbau, Kita und Tagungshaus waren die ersten Betriebe in der Gemeinschaft, Bauernhof, Obstmanufaktur und die Tagespflege kamen später dazu. Ziel war es, möglichst viele Grundbedürfnisse nach Ernährung, Bildung, Bauen und Gesundheit selbstverwaltet zu organisieren.

Mit der Tagespflege sollte eine Einrichtung geschaffen werden, in der wir selbst gerne alt werden wollen: Zuhause im gewohnten Umfeld, aber mit organisierten Strukturen, die uns auch im Alter mit (viel) Hilfsbedürftigkeit ausreichend unterstützen und uns gerne in Gemeinschaft wohnen lassen. Idealerweise sollte das ein Kollektiv aus Kommunard*innen sein, die in dem generationenübergreifenden Projekt Kommune Niederkaufungen leben und arbeiten.

Der erste Schritt ist erfolgreich abgeschlossen: Die Tagespflege wurde eröffnet und arbeitet in selbstverwalteten Strukturen. Wir sind unsere eigenen Chef*innen und bestimmen unsere Arbeitsbedingungen selber: Niemand soll 40 Stunden pro Woche mit dementiell erkrankten Menschen arbeiten. Wir organisieren uns einen höheren Betreuungsschlüssel, um unsere Gäste besser betreuen zu können, und zahlen uns einen Kollektivlohn aus. Wir arbeiten interdisziplinär, alle machen alles (mit Ausnahmen) und jede engagiert sich in einem Verantwortungsbereich.Wir haben einen Versorgungsvertrag mit den Pflegekassen, sind offiziell als Pflegeeinrichtung anerkannt und können mit den Pflegekassen abrechnen. Jährlich kommt der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) unangemeldet zu uns, überprüft unsere Pflegequalität und ist meistens sehr zufrieden.

Mitbestimmung ermöglichen

Im Laufe der Jahre hat sich die Tagespflege einen guten Ruf erarbeitet, weil sie einfach etwas besonderes in der regionalen Pflegelandschaft ist: Kollektive Strukturen ermöglichen mehr Mitbestimmung im (eigenen!) Betrieb und schaffen ein zufriedeneres Arbeitsklima. Wer eigene Wünsche und Bedürfnisse im Betrieb anmelden und umsetzen kann, ist nicht so schnell ausgepowert und identifiziert sich mehr mit der eigenen Arbeit. Entspanntere Kollektivist*innen mit besserem Betreuungsschlüssel werden auch schnell von den Gästen und den pflegenden Angehörigen anerkannt und wertgeschätzt. Überhaupt ist der Kontakt mit den Gästen und Angehörigen nicht vom Alltagsstress geprägt wie in anderen Pflegeeinrichtungen, sondern basiert auf einem empathischen, wertschätzenden und ganzheitlichen Ansatz, sich und die Welt zu verstehen.

Gemeinsame Ökonomie

Diese Form des selbstbestimmten Arbeitens mit Kollektivlohn ist idealerweise für eine Gemeinschaft geschaffen, die in gemeinsamer Ökonomie lebt. Über die gemeinsame Kasse, in die alle Mitglieder nach ihren Fähigkeiten einzahlen, werden die (auch ganz unterschiedlichen) Bedürfnisse aller finanziert. Wenn in der Tagespflege der vorhandene Lohn auf viele Menschen gerecht verteilt wird, verdienen die dort tätigen Menschen oftmals weniger als in herkömmlichen Einrichtungen, wo drastisch Personal eingespart und vor allem auch hierarchisch entlohnt wird.

Seit 2011 jedoch schaffen wir es nicht mehr, ausreichend Menschen aus der Kommune für die Arbeit in der Tagespflege zu finden. Deshalb müssen wir uns außerhalb unserer Gemeinschaft nach Menschen umsehen. Der erste Schritt war, Menschen aus anderen Kommunen aus der Region Kassel anzusprechen. Aber auch das Potential ist nicht ausreichend, um die vorhandene Fluktuation im Kollektiv aufzufangen. Seit 2016 gehen wir neue Wege und motivieren Menschen, die nicht in Gemeinschaft leben, in das Tagespflegekollektiv einzusteigen. Dies bringt neue Aspekte, Vor- und Nachteile mit sich: Die Idee des kollektiven Arbeitens wird in neue Bereiche außerhalb der bekannten Strukturen getragen. Es kommt jedoch auch das Problem auf: Wie können Menschen außerhalb gemeinsamer Ökonomie von unserem Kollektivlohn leben? Fragen, auf die wir (noch) keine abschließende Antwort gefunden haben, aber auf einem guten Weg sind.

Wenn du Lust hast, im Tagespflegekollektiv zu arbeiten und/oder die Kommune Niederkaufungen kennenzulernen, dann melde dich gerne.

Infos: www.kommune-niederkaufungen.de

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