Aufstand der Ausgeschlossenen

Fotos: Kirsche

Ein Sammelband ordnet den Barrikadenabend beim G20-Protest im Juli 2017 im Hamburger Schanzenviertel als Aufstand der von Lohnarbeit Ausgeschlossenen ein.

GASTON KIRSCHE, HAMBURG

Nach dem G20-Gipfel vom 7. und 8. Juli in Hamburg war die Empörung groß, von der Bundesregierung bis hinein ins rotrotgrüne parlamentarische Lager über »Mordbrenner« (Schulz), »Kriminelle« (Özdemir), »durchgeknallte Randalierer« (Wagenknecht). Kanzlerin Merkel erklärte, friedliches Demonstrieren sei okay, die »gewaltsamen Proteste hingegen gefährdeten Menschenleben« und seien schlichtweg »nicht zu akzeptieren«. Merkel dankte der Polizei »ganz herzlich« für ihren Einsatz. Die öffentliche Debatte wurde beherrscht von Verurteilungen »linksradikaler Gewalt«, gar von »Terrorismus« war die Rede angesichts der im Fernsehen hochgejazzten Bilder von etwa 80 brennenden Autos, Flaschenwürfen auf Polizisten in Kampfmontur, drei geplünderten Filialen von Ladenketten und fünf brennenden Barrikaden auf der Einkaufstraße Schulterblatt im alternativ geprägten Schanzenviertel.

Die beiden Fotos auf dieser Seite habe ich am Montag nach dem G20-Protestwochenende, am 10. Juli in der Susannenstraße und auf dem Schulterblatt auf dem Weg zur Arbeit aufgenommen. Im Schanzenviertel, dort, wo am Freitag- und Samstagabend die Polizei auf militante Gegenwehr stieß. Wo drei Stunden keine staatliche Ordnung herrschte. Wo verschiedenste Interessen ausgelebt wurden: Barrikadenbau, Plünderungen, Party, Protest. Von flächendeckender Zerstörung keine Spur. Eingeschlagene Schaufenster werden ersetzt in der Filiale der »Back-Factory«. Gesperrt mit großen Platten vor den Schaufenstern sind die geplünderten Filialen von Rewe, »Flying Tiger« und der Drogeriekette »Budnikowsky«, sowie der Hamburger Sparkasse. Unberührt sind etwa Restaurants und Cafés wie das Moraba mit den Kissen im Fenster oder der Schanzenkiosk »Tip top«. Die Fahrräder wurden von einem Wasserwerfer beim Rangieren vor einer Barrikade in der Lerchenstraße überfahren.

Eine Einordnung des Barrikadenabends

Der nun erschienene Sammelband »Riot – Was war da los in Hamburg?« trägt nicht zu Unrecht den Untertitel »Theorie und Praxis der kollektiven Aktion«. Zwar steht am Anfang als mit 40 Seiten zweit längster Text ein chronologisch gegliederter Bericht des Crimethinc Ex-Workers Collective, der viele Ereignisse und die Atmosphäre der Protestwoche in Hamburg anschaulich schildert. Aber in den meisten Texten geht es um die theoretische Einordnung, insbesondere um den Barrikadenabend vom 7. auf den 8. Juli im Schanzenviertel, der als »Riot« bezeichnet wird, oder auch als postindusterieller Aufstand. Dessen soziale Basis seien die Überflüssigen, die Surplus-Bevölkerung, die für die Kapitalakkumulation, für die Lohnarbeit nicht mehr Benötigten. Denn es »kann diese ›Surplus‹-Bevölkerung sich nicht vollständig ›außerhalb‹ der kapitalistischen Verhältnisse wiederfinden. Das Kapital mag diese Arbeiter nicht länger brauchen, aber diese brauchen weiterhin Arbeit«, wie es in dem zentralen, aber nicht längsten Text des Buches heißt: »Eine Theorie des Aufstands« von Joshua Clover.

Clover, der an einer Universität in Kalifornien lehrt, hat vor zwei Jahren das Buch »Riot.Strike.Riot: The New Era Of Uprisungs« veröffentlicht, der abgedruckte Text ist die eigens angefertigte Übersetzung der Einleitung dieses Buches. Anknüpfend an die marxistische Theorie, insbesondere über Krisen, verortet er den klassischen Aufstand als kollektiven Widerstand der sich erst herausbildenden Arbeiterklasse als Konsumenten gegen hohe Lebensmittelpreise auf dem Markt zur Zeit des Merkantilismus. In der Zeit der Fabrikarbeit, der industriellen Produktion nach 1790 verortet er den Streik als kollektiven Widerstand gegen niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen zur Zeit der Akkumulation des Industriekapitals.

In der Zeit seit 1973 beginnt für Clover die Ära der postindustriellen oder primären Aufstände der Ausgeschlossenen, der Überschüssigen, der Surplus-Bevölkerung gegen ihren Ausschluss von der Konsumtion. Denn dem Ende der US-Hegemonie auf dem Weltmarkt und dem Ende des Bretton-Woods-Systems entspricht eine Deindustrialisierung der reichen Länder des Westens, wo das Kapital versucht, sich im Finanzsektor zu akkumulieren, was aber wegen der dort nicht stattfindenden realen Profitschöpfung ohne die Produktion von Mehrwert durch die Ausbeutung von lebendiger Arbeitskraft nicht gelingen kann: Die »materiellen Restrukturierungen« des Kapitals, »die gleichzeitig auf die kapitalistische Krise antworten und sie konstituieren, wobei sie sich im Kern durch ein Surplus von Kapital und Bevölkerung auszeichnen«.

Notwendige Form des Kampfes

Überschüssiges Kapital, überschüssige Menschen aus der Arbeiterklasse: »Es sind genau diese Restrukturierungen, welche den Aufstand als notwendige Form des Kampfes nahelegen«, so Joshua Clover. Clovers Analyseansatz wird in dem längsten Aufsatz des Bandes paraphrasiert und eingeordnet: »Der Aufstand als Teil der globalen Zirkulationskämpfe« von Achim Szepanski. Von den 42 Seiten setzt sich Szepanski erst auf den letzten zweieinhalb kurz mit der Situation in Hamburg während der G20-Protestwoche auseinander: Die Polizeistrategie habe etwas gehabt von einer »sehr spezifischen Eskalation, einer Art 'milieu control', das heißt einen Ring anlegen, den Aufstand beobachten, warten, und dann mit militärischen Einheiten, SEK-Truppen eindringen und den Aufstand eliminieren.« Er plädiert dafür, »die Konfrontation … aufzunehmen«. So vehement sein Text hiermit endet, so kurz springt er: Denn er bezieht sich ausschließlich auf die Situation am Freitagabend des 7. Juli von 21 bis 24 Uhr.

In dieser Zeit hielt sich die Polizei gegenüber dem anwachsenden militanten Widerstand auf der Straße Schulterblatt zurück, weil der Schutz des Gipfelprogrammes mit dem Konzert in der Elphilharmonie im Vordergrund stand. Danach wurde der Straßenprotest mit Mitteln der Terrorbekämpfung beendet: SEK-Einheiten rückten vor und durchkämmten mit vorgehaltenem Sturmgewehr und unter Einsatz von Blendschockgranaten die Wohnungen am Schulterblatt. SEK-Einheiten schießen, wenn sie auf Widerstand stoßen: »Die Spezialeinheiten haben zwar nicht geschossen«, außer mit laut knallenden Blendschockgranaten, »aber Einsatzleiter Dudde brachte das Drohpotenzial der Sturmgewehre und damit das ultimative Mittel in seinem Waffenarsenal in Stellung«, so Martin Kirsch in seinem Buchbeitrag »Spezialeinheiten gegen Menschenmengen«. Leider enthält der Band nur wenige Beiträge, die wie dieser eine detaillierte Analyse der G20-Protestwoche angehen. Auch ließe sich die interessante Aufstandstheorie von Clover besser anhand der Riots in den USA diskutieren, aus denen er seine Theorie entwickelt hat, anstatt die drei Stunden der Abwesenheit uniformierter Polizeieinheiten auf dem Schulterblatt als Beleg für die beginnende Zeit der postindustriellen, primären Aufstände anzuführen. Der Sammelband wird seinem Titel »Was war los in Hamburg« nur in einigen Texten gerecht. Es ist schade, dass auf den Abdruck wichtiger Texte verzichtet wurde, welche sich detailliert mit den Ereignissen am Barrikadenabend auf dem Schulterblatt auseinandersetzen – so wird die angenehm unaufgeregte, detaillierte Klarstellung zum Geschehenen (und den daran Beteiligten aus unterschiedlichen sozialen Gruppen) von Geschäfts- und Gewerbetreibenden des Schanzenviertels um die Cantina Popular nur einmal kurz zitiert.

Position der »Roten Flora«

Absurderweise klammert der Band auch die Stellungnahmen des Autonomen Zentrums »Rote Flora« zur Schanzennacht aus – immerhin steht die Rote Flora direkt auf dem Schulterblatt, und das Zentrum stand im Mittelpunkt der Kampagne gegen radikale Linke nach der G20-Protestwoche. Dabei hebt sich die Rote Flora ab von einer unkritischen Beschreibung der Militanz in der Schanzennacht. Wenn Yann Döhner in seinem Buchbeitrag »Riots und Nachbarschaftsorganisierung« vom »Duft der Freiheit, rauschhaften Grenzüberschreitungen« vor lodernden Barrikaden schwärmt, vom »Aufflackern der anderen Welt im brennenden Auto oder Mülleimer«, dann ist dies nicht die Sprache der Autonomen aus der Roten Flora: Die kümmerten sich gemeinsam mit weiteren radikalen Linken darum, dass Feuer gelöscht wurden, die in Läden gelegt wurden, über denen sich Wohnungen voller Menschen befanden. Darum, dass die Flammen der brennenden Barrikaden nicht auf die anliegenden Wohnhäuser übergriffen. Dass nicht noch mehr Anwohnende bedroht wurden, die gegen die Feuer protestierten. Sie standen in Kontakt mit der Feuerwehr, die von der Polizei über Stunden nicht durchgelassen wurde auf das Schulterblatt.

David Goell schildert in seinem informativen Kapitel »Wake-Up Call – Der Mikroaufstand von Hamburg als materielles und diskursives Ereignis«, wie auf einer großen Stadtteilversammlung nach der G20-Protestwoche eine Anwohnerin darum bittet, Barrikaden vor Wohnhäusern in Zukunft bitte nicht mehr anzuzünden wegen der Feuergefahr. Eine nicht denunziatorische Kritik, eine konkrete Information über die Debatten vor Ort. Davon gibt es zu wenige in dem Sammelband, der sechzehn Beiträge von meist meinungsstarken Männern sowie die erwähnte Chronik der Gruppe Crimethinc enthält.

Karl-Heinz Dellwo / Achim Szepanski / J. Paul Weiler: RIOT – Was war da los in Hamburg ? Theorie und Praxis der kollektiven Aktion. Erschienen April 2018, 258 Seiten, 16 Euro.

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