Selbstorganisation unter Extrembedingungen

Die Produktion bei der Kooperative »8 de Marzo« kann weitergehen. Foto: Cecosesola

Neuigkeiten von der Kooperative Cecosesola

Wir erleben sehr schwierige Momente in einem Land, das sich jeden Tag verändert. Aber obwohl uns die Lage in Venezuela massiv betrifft, haben wir sie bei Cecosesola als Herausforderung und zugleich als große Chance angenommen, um unseren kulturellen Transformationsprozess weiter zu vertiefen. Während wir daran arbeiten, unsere auf Verantwortlichkeit und Vertrauen, auf Gleichheit und Solidarität basierenden Beziehungen zu stärken, entwickeln sich gleichzeitig Mystik, Leidenschaft und eine Kreativität, die sich in kollektiven Lösungen für die auftauchenden Schwierigkeiten ausdrückt. Im Folgenden wollen wir einige unserer Lösungen vorstellen.

Autor*innen-Kollektiv, Cecosesola

Seit etwa drei Jahren durchleben wir Venezolaner*innen eine ökonomische und soziale Extremsituation. Sie ist geprägt durch Hyperinflation von geschätzt 1.000.000 Prozent zum Ende 2018, erheblichen Lebensmittel- und Medikamentenmangel, das Fehlen von Bargeld, dramatische Unsicherheit auf den Straßen und enorme Defizite im öffentlichen Verkehr. Wir stehen vor einer fortschreitenden Schwächung des produktiven Apparates, die zu großen Teilen einer Rentenökonomie (basierend auf Erdölexport) und einer weder ökonomisch noch ökologisch nachhaltigen Importabhängigkeit geschuldet ist. Das BIP hat sich seit 2013 um 35 Prozent verringert. Zeitgleich hat sich das öffentliche Haushaltsdefizit um 49,3 Prozent erhöht und der Gesamtwert der Exporte ging zwischen 2012 und 2016 von 98 Mrd. Dollar auf 27 Mrd. Dollar zurück.

Seit zwei Jahren kommt es in unseren Lebensmittelmärkten zu komplizierten Situationen, ausgelöst durch die Verzweiflung der Menschen, an die knappen Güter zu kommen wie etwa Reis, Nudeln oder Zucker. Einerseits gab es Wiederverkäufer*innen, die versuchten, mehrmals einzukaufen, um diese Produkte außerhalb zu exorbitanten Preisen weiterzuverkaufen, andererseits kamen jene Menschen, die die Produkte für ihre Familien benötigten. Schon zwei Nächte zuvor haben sich lange Warteschlangen gebildet, um eine nummerierte Markt-Eintrittskarte zu bekommen.

Kooperative Ausweiskarte

Chaos, respektloses und ausnutzendes Verhalten sowie einige Fälle von Gewalt haben uns eine kooperative Ausweiskarte entwickeln lassen, mit deren Hilfe wir nun nach dem Zufalls­prinzip nummerierte Tickets aushändigen. Wir haben alle unsere Verkaufsorte einbezogen, um sicherzustellen, dass jede*r nur einmal pro Woche und an einem Marktort einkauft. Seit der Erfindung der Ausweiskarte versorgen wir viel mehr Familien und auch die Harmonie hat sich wieder eingestellt. Mit dieser Methode garantieren wir ein Maximum an Gleichheit in der Verteilung. Bis heute haben rund 300.000 Menschen die Ausweiskarte erworben.

Da das Internet oft ausfällt, haben wir uns ein Netz geschaffen, das alle unsere Märkte durch ein eigenes Antennensystem verbindet.

Aufgrund des Mangels an Blech (erforderlich für die Sargfertigung im kooperativen Bestattungsservice) sind wir von Schlosser*innen zu Tischler*innen geworden und haben gelernt, Urnen aus Holz herzustellen.

Eigenes Saatgut und Familiengärten

Die landwirtschaftlichen Produzent*innen im Netzwerk müssen die grundlegenden Konsumgüter zu horrenden Preisen einkaufen und sind zusätzlich mit Knappheit und Teuerung zum Beispiel von Saatgut konfrontiert. Die Folgen sind eine Dekapitalisierung und zugleich eine Halbierung der Produktivität. Angesichts dieser Situation passen wir wöchentlich die Preise unserer Produkte an. Außerdem haben wir den gemeinsamen Fonds für den vorgezogenen Einkauf von Produktionsmitteln ausgebaut und die eigene Saatgut-Herstellung wurde ebenso intensiviert wie die Familiengärten.

Wegen der steigenden Nachfrage und dem Mangel an Gemüse fahren wir direkt aufs Land, um die Versorgung durch Zukauf bei Einzelproduzent*innen sicherzustellen. Einige von ihnen haben sich allmählich zu neuen kooperativen Gruppen zusammengeschlossen.

Die kleinen kooperativen Produktionseinheiten müssen den Rohstoffmangel bewältigen, worauf Diversifizierung die Antwort ist. Hier ist die Kooperative »8 de Marzo« hervorzuheben, die wegen des Mangels an Grieß für die Nudelproduktion nun auch andere Produkte herstellt wie zum Beispiel Yucca-Mehl.

Aufgrund der Tatsache, dass wir – wegen des Sinkens unserer Realeinkommen – unsere wenigen privaten Autos stilllegen mussten, haben wir einen Fonds aufgelegt, um uns mit niedrig verzinsten Darlehen Reparaturen zu ermöglichen. Wir finanzieren das durch den Verkauf von Flüssigseife und Chlor in recycelten Behältern an unseren freien Tagen. So leisten wir zugleich einen wichtigen Dienst für die ganze Gemeinschaft und einen Beitrag zum Umweltschutz.

Der Bargeldmangel erschwert uns die Nutzung des öffentlichen Transportsystems, so dass wir einen der alten Cecosesola-Busse auf einer städtischen Route einsetzen. So tragen wir zum bessern Funktionieren des öffentlichen Nahverkehrs bei und erwirtschaften zugleich Bargeld, das es uns erlaubt, innerhalb der Stadt und zu benachbarten Dörfern zu fahren, wo viele von uns leben.

Angebote für Schwangere

Angesichts einer bedrückenden Tendenz in unserem Land zu Geburten per Kaiserschnitt, ermöglichen wir eine respektvolle Geburt. Zweimal pro Monat gibt es Geburtsvorbereitungskurse und derzeit bauen wir ein Zimmer aus mit verschiedenen Möglichkeiten für die Geburt. Die Schwangere kann selbst entscheiden, wie sie gebären möchte: im Bett, stehend, hockend wie unsere Indigenen oder im Wasser.

Angesichts des Medikamentenmangels haben wir einen Fonds für den Kauf von Medikamenten eingerichtet. Finanziert wird er durch einen Beitrag von fünf Prozent unserer persönlichen Einkommen und durch Verkaufsaktivitäten, die wir an unseren freien Tagen machen.

In der täglichen Auseinandersetzung mit all diesen Schwierigkeiten spüren wir, dass der Weg der kulturellen Transformation, den wir eingeschlagen haben, um die rentenorientierte, individualistische und ausnutzende Kultur zu durchbrechen, jedes Mal mehr Bedeutung erlangt. Mehr als je zuvor bildet der Ausbau von Vertrauensbeziehungen eine fundamentale Achse unseres gemeinsamen Tuns.

Schließlich setzen wir auch weiterhin auf unser Kriterium der Eigenfinanzierung, das in der Vergangenheit eine wertvolle Richtschnur für unsere Entwicklung als Bewegung war. Da unsere Kriterien aber keine festen Normen sind, sondern Orientierungen in unserem transformierenden Voranschreiten, begrüßen wir auch solidarische Unterstützung aus einem breiteren »Wir«, das Verbindungen mit internationalen Freund*innen einschließt – vor allem, wenn es um Notfallsituationen geht, die Cecosesola aktuell nicht aus eigener Kraft abdecken kann.

 

Für solche Notsituationen wurde ein Dringlichkeitsfonds gegründet. Kontakt per Mail: dringlichkeitsfonds-cecosesola(at)systemausfall(dot)org

 

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