Das weltweite Treffen der Frauen, die kämpfen

Beim Frauen*treffen der Zapatistas wurde ein Raum geschaffen, um über Unterdrückungserfahrungen, Ängste, Träume und geteilte Utopien zu sprechen. Foto: B.A.S.T.A Münster

Morelia, Chiapas, Mexiko. Sechs Uhr morgens, die Sonne geht hinter den Bergen im Südosten Mexikos auf. Es sind die Berge, aus denen die Zapatistas in ihren Kommuniques in »alle Ecken, Welten und Zeiten« grüßen. In diese Berge, ins Caracol Morelia, hatten die zapatistischen Frauen* für fünf Tage zum ersten internationalen politischen, künstlerischen, sportlichen und kulturellen Treffen der Frauen*, die gegen Patriarchat und Kapitalismus kämpfen, eingeladen.

Katha, Gruppe B.A.S.T.A. Münster

Eine der zapatistischen Frauenbands, die Mañanitas, betritt mit E-Bass, Akkordeon und Gitarre die Bühne. Die vier sind traditionell gekleidet in langem Rock, Bluse und Sturmhaube. Sie wecken die angereisten Feminist*innen mit revolutionären Liedern zur Feier des 8. März. Nach und nach krabbeln die Teilnehmer*innen aus über vierzig verschiedenen Ländern aus ihren Schlafsäcken und sehen sich auf dem Gelände um. Neben den Hallen und Bühnen, die die Zapatistas auch sonst für Versammlungen nutzen, haben die Organisator*innen einiges an Infrastruktur für das Treffen aufgebaut: Duschen, Toiletten, Essensstände und viele Schilder mit Hinweisen wie »Hier gibt es Empfang« oder »Bitte nicht die Zapatistas fotografieren, während sie essen oder Pozol (1) trinken«.

Wie viele Frauen*(2) gekommen waren, wissen auch die Veranstalterinnen nicht so genau: »Wir hatten gedacht, es kommen vielleicht 500 – aber da ist wohl eine Null auf dem Weg verloren gegangen. Einige sagen sogar, ihr seid nicht nur 5.000, sondern 8.000, manche schätzen 9.000. Einigen wir uns darauf, dass ihr ›un chingo‹ (etwa: verdammt viele) seid«, so die Worte in der Abschlussrede. Laut einem Mitglied der urbanen Unterstützungsgruppen, die sich unter anderem um die Registrierung der Teilnehmer*innen gekümmert hatten, waren etwa 5.000 vorher registriert – der Rest kam spontan im Caracol vorbei.

Drei Stunden nach dem Auftritt der Mañanitas geht es auf der zentralen Bühne vor dem Fußballplatz weiter: Capitana Insurgente Erika verliest die berührende Begrüßungsrede aller Zapatistinnen, abgestimmt in verschiedensten Versammlungen. Erika spricht über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den versammelten Frauen*. Sie selbst habe »dreifache Unterdrückung erlebt: als Arme, als Frau und als Indigene.« Doch das »verdammte kapitalistische System, das uns zerstören will, hat uns alle gleich gemacht«, ist ihr Resümee. Sie kritisiert auch die Wissenschaftler*innen, die den Zapatistas in Büchern erklärten, wie ihr Kampf auszusehen habe. »Wie recht sie doch hat«, raunt eine Teilnehmerin aus Mexiko-City ihrer Freundin zu. Erika bittet darum, es möge bei diesem Treffen nicht darum gehen, wer die Revolutionärste oder Schönste sei. Im Gegenteil: Die zapatistischen Frauen würden alle Frauen* der Welt, die kämpfen, einladen, sich gegenseitig mit Respekt zu begegnen und so Energie für ihre jeweiligen Kämpfe zu tanken.

Warum die Männer nicht eingeladen waren

Die Männer, die trotz expliziter Ausladung angereist sind, werden in einem separaten Camp vor den Toren des Caracols untergebracht. Einige sind gekommen, um die Betreuung eines gemeinsamen Kindes zu übernehmen, andere wohl aus purer Neugier. Die Männer organisieren sich und sprechen auch über ihre Männlichkeit und warum sie aus diesem Raum ausgeschlossen wurden. Die zapatistischen Männer sichern das Caracol von außen ab.

Der Ausschluss der Männer bringt eine einzigartige Dynamik hervor. Eine Mexikanerin fasste es so zusammen: »Ich mache mir keine Gedanken. Naja, zumindest weniger. Mir ist egaler, wie ich aussehe, wie ich mich bewege, wie ich tanze. Ich fühle mich sicherer. Ich schaue nicht so viel, dass ich mein Geld sicher verstaut habe.« Eine Mutter fügt hinzu: »Hier kann ich mein Kind eher laufen lassen – ich habe das Gefühl, dass die Community es auffängt.« Es wurde ein Raum geschaffen, in dem es möglich wurde, über Unterdrückungserfahrungen, Ängste, Träume und geteilte Utopien zu sprechen. Monate später ist überall immer noch die Rede vom ›Encuentro‹ und dem Gefühl, schon jetzt die Utopie zu leben, die das Treffen bei vielen hinterlassen hat.

Die Organisation des Treffens

Der erste Tag des ›Encuentro‹ ist den Gastgeberinnen vorbehalten. Nach der berührenden Eröffnungsrede von Capitana Insurgente Erika spricht jeweils eine Vertreterin aus jeder der fünf zapatistischen Zonen, es gab ein erstes Fußballturnier und nachmittags Theaterstücke. Eines der Bühnenstücke der Zapatistinnen einer Zone erzählt die Geschichte, wie die Organisation der zapatistischen Frauen begann. Auf der Bühne steht ein gedeckter Tisch, am Tisch sitzt der Familienvater. Es klopft an der Tür. Es ist der zukünftige Ehemann der ältesten Tochter. Ein paar Monate später: Die Frau wird geschlagen. Ein paar Jahre später: Ihr Mann beginnt, nachts für viele Stunden das Haus zu verlassen. Sie stellt ihn zur Rede, er erzählt ihr von der geheimen Organisation eines Aufstandes. Von da an beginnt sie, andere Frauen zu überzeugen, an der Organisierung teilzunehmen. Das Resultat war der »Aufstand vor dem Aufstand« 1993, als die ersten revolutionären Frauengesetze beschlossen wurden.

Am zweiten und dritten Tag des Treffens präsentieren die Teilnehmer*innen ihre Kämpfe in Form von Diskussionen, Workshops, Theaterstücken, Ausstellungen, Wandmalereien (murales), oder Tänzen. Es gibt etwa 30 verschiedene Orte, an denen gleichzeitig von morgens bis abends Veranstaltungen stattfinden. Von Gine-Punk (autonome Gynäkologie) über revolutionäres Yoga bis zu den Kämpfen der Mapuche-Frauen ist alles dabei. Die Zapatistinnen schicken eine Delegation zu jedem Veranstaltungsort – sie haben auch immer zuerst das Rederecht nach dem Ende der Beiträge.

Ein wichtiges Thema der Workshops sind die Feminizide. Durchschnittlich sieben Morde an Frauen gibt es jeden Tag in Mexiko. Fast keines dieser Verbrechen wird aufgeklärt oder überhaupt verfolgt. An dem Treffen nehmen viele Mütter teil, die T-Shirts mit Aufdrucken der Gesichter ihrer getöteten Töchter tragen. Eine von ihnen wird während eines Konzertes auf die Bühne gebeten, um die Geschichte ihrer ermordeten Tochter zu erzählen. Die Antwort der Teilnehmer*innen – »No estás sola« (»Du bist nicht allein«) – sollte nicht nur für sie eine der zentralen Botschaften des Treffens sein. Niemand ist allein, viele Frauen* in aller Welt organisieren sich und kämpfen – auch ohne die Unterstützung von Männern.

Urbaner vs. indigener Feminismus

Für viele Feminist*innen ist die starke Frauenorganisation der Zapatistas ein Vorbild. Alejandra (31) ist seit einigen Jahren in der Rincón Zapatista in Guadalajara aktiv. Sie nervt es, wenn urbane Gruppen sich genauso wie die Zapatistas organisieren wollen. Denn: »Jede Gruppe muss ihre eigenen Strategien finden, je nach den Gegebenheiten des Ortes«, so Alejandra. In den indigenen, dörflichen Gemeinschaften sei der Feminismus ein anderer als in der Stadt. Während in den katholisch geprägten indigenen Dörfern das Sprechen über Sexualität weitestgehend tabuisiert ist und sexuelle Befreiung auch nicht das wichtigste Anliegen der Organisation ist, bieten die angereisten Feminist*innen viele Vorträge und Workshops zum Thema Sexualität an. Vielleicht bezogen sich die Zapatistinnen auch auf einen dieser Workshops, als sie sich in ihrer Abschlussrede für die »seltsamen Dinge« bedankten, die die Teilnehmerinnen mitgebracht hätten… Die Zielgruppen waren also deutlich verteilt: So zog beispielsweise der Workshop verschiedener urbaner lesbischer Kollektive auch hauptsächlich ein urbanes lesbisches Publikum an. Gleichzeitig fand jedoch auch ein Workshop über lesbische Identität statt, der sich exklusiv an indigene Personen richtete. Mehrere trans*-Personen schätzen das Treffen als eher trans*-freundlich ein und hatten beim Einlass keine Probleme. Insgesamt gab es in den Workshops beeindruckend viel lesbische Sichtbarkeit, aber leider kaum trans* oder andere queere Sichtbarkeit.

Reflexionen über nicht-respektvolles Verhalten

Leider verhielten sich einige der Teilnehmer*innen nicht nur »seltsam«, sondern respektlos. Es gab Frauen*, die Alkohol oder Gras mit ins Caracol gebracht hatten. Frauen, die sich über den Mangel an Essen beschwerten, Frauen, die ihren Müll überall liegen ließen, und weiße Frauen, die (halb) nackt herumliefen. Eine Erklärung könnte sein, dass viele der Frauen, die spontan gekommen waren, nicht mit der Bewegung vertraut sind.

Die zapatistischen Organisatorinnen äußerten sich während der Abschlussrede und erneut beim ›Conversatorio‹ (dtsch. Plenum oder Gesprächsrunde) zu der Kritik der Teilnehmerinnen. Sie entschuldigten sich, dass sie sich nicht besser organisiert hätten und versprachen, es beim nächsten Mal besser zu machen. Bei einer Feministin aus Guadalajara löste das viel Scham aus: »Es ist unglaublich, dass dieses respektlose Verhalten passiert ist und die Zapatistinnen sich schlecht fühlen. Das ist ein typisches angelerntes weibliches Verhalten: sich verantwortlich machen. Aber wir, wir Teilnehmerinnen, hätten uns auch kümmern müssen. Um den Raum, den uns die Zapatistinnen geöffnet haben. Stattdessen haben die indigenen Frauen die ganze Care-Arbeit für die urbanen, teils weißen Frauen übernommen. Wie kann es sein, dass wir so viele waren und uns nicht organisiert haben?« Deswegen sei ihr wichtigstes Fazit: »Wir dürfen nicht vergessen, uns umeinander zu kümmern.«

Am Ende des Treffens gaben die Zapatistinnen allen eine Botschaft mit: »Wir hätten uns gewünscht, mit mehr Zapatistinnen hier gewesen zu sein, um jede von euch zu umarmen und ihr ins Ohr flüstern zu können: ›Gib nicht auf! Verkauf dich nicht! Kämpfe weiter!‹« Sie baten die Teilnehmerinnen, mit ihnen einen Pakt zu schließen, der vor dem Hintergrund der täglichen Feminizide brutal real ist: »Wir werden leben.« Und leben heißt für die Zapatistas weiterzukämpfen. Jede nach ihren Möglichkeiten in »ihren Welten, Zeiten und an ihren Orten«.

(1) Pozol ist ein traditionelles fermentiertes Maisgetränk.

(2) Hier steht ein Sternchen, um deutlich zu machen, dass nicht nur Cis-Frauen zum Treffen eingeladen waren. Als Cis-Mann bzw. Cis-Frau werden diejenigen bezeichnet, deren Geschlechtsidentität dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht entspricht. Die Zapatistas bestehen nicht darauf, dass es etwas jenseits der binären Geschlechternorm gibt, einige der anwesenden Frauen* schon.

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