Jede*r für sich und doch gemeinsam

Foto: Andrea Schmidt

In Oldenburg haben Mieter*innen einer alten Arbeiter*innensiedlung damit begonnen, ihre Wohnungen gemeinschaftlich zu kaufen. Ziel ist es, günstigen Wohnraum und die gewachsene Vielfältigkeit der Bewohner*innenschaft zu erhalten.

Alte Glashüttensiedlung e.V.

Es ist kalt. Der Wind pfeift über die zwischen den zwei Häuserreihen liegende matschige Wiese. Der breite Weg, der durch die Wiese führt, ist übersät mit Schlaglöchern. Die größeren von ihnen sind eher kleine Teiche, gefüllt mit reichlich Regenwasser. Das gesamte Areal wirkt ausgestorben. Gemessen an der Zahl ihrer Bewohner*innen sind viele der Wohnungen sehr eng. Besonders die Erdgeschosse sind feucht, manche schimmelig. Die Wände lassen jedes Wetter durch – im Winter ist es sehr kalt, im Sommer heiß. Eine Dämmung gibt es nicht. Ein Blick genügt, um zu sehen, dass diese Wohnungen nicht für Wohlhabende gebaut wurden.

Ein anderer Tag. Die Sonne scheint. Sie taucht die Häuserreihen in warmes Licht. Die Vielzahl der Vogelgesänge ist untypisch für einen Ort in der Stadt. Hinten in den Gemeinschaftsgärten kräht sogar ein Hahn. Auf der Wiese sitzt eine Gruppe Frauen; sie plaudern, trinken Tee und lassen sich von der Sonne wärmen. Mehrere Kinder laufen zwischen den Häusern umher, sie wirken wie eine selbstorganisierte Bande. Auch auf dem Weg sitzen zwei und sammeln kleine Schottersteinchen vom Boden auf. Hier fahren kaum Autos und wenn dann so langsam, dass sie keine Gefahr für die Kinder sind. Eine Nachbarin steht hinter ihrem Gartenzaun und hält einer anderen Nachbarin einen Monolog über ihre Katzen. Die andere Nachbarin hat es eigentlich eilig und wenn sie ehrlich ist, interessieren sie die Katzen nicht besonders, aber sie bleibt stehen und hört aufmerksam zu. Weil ihr ihre Nachbarin wichtig ist, ihr am Herzen liegt. Weil jede*r jemanden braucht, der oder die zuhört. Weil die Euphorie, mit der die Nachbarin erzählt, ansteckend ist. Solche Begebenheiten gibt es viele, denn jede*r hat hier etwas zu erzählen: vom Stress mit dem Amt, dem nächsten Fest, das geplant wird, der anstrengenden Arbeit, den Kindern…

Früher eine Werkssiedlung

Die Rede ist von der Alten Glashüttensiedlung in der Noll- und Behrensstraße, einer von vier ehemaligen Werkssiedlungen der Oldenburger Glashütte, welche von ihrer Gründung 1845 bis zur Schließung 1983 einer der wichtigsten Industriebetriebe im industriearmen Oldenburg war. Um 1890 wurde die Siedlung errichtet; sie ist ein Denkmal der Arbeiter*innengeschichte und steht heute unter Ensembleschutz, einer Form des Denkmalschutzes. Für die Beschäftigten der Glashütte war sie eine Möglichkeit, günstig und in unmittelbarer Nähe zum Arbeitsplatz zu leben. Für die Fabrikbesitzer*innen war sie jedoch auch Druckmittel. Widersetzten sich die Arbeiter*innen der Fabrikdisziplin, drohte ihnen nicht nur der Verlust des Arbeitsplatzes, sondern gleich auch der der Wohnung.

Nach der Schließung der Glashütte wurde die Siedlung erst an einen Unternehmer aus dem Ruhrgebiet verkauft; nach dessen Insolvenz übernahm die Oldenburger Bau- und Wohnungsgesellschaft (GSG) die Immobilien. Die Menschen, die in der Siedlung lebten, waren vor allem ehemalige Arbeiter*innen der Glashütte, weiße und nicht-weiße, mit und ohne deutschen Pass. Erwerbslose, alleinerziehende Mütter und Väter und Menschen, denen gesellschaftliche Teilhabe auf andere Weise erschwert wird, fanden in der Siedlung einen Platz, an dem sie würdevoll leben konnten. So ergab sich eine bunte Mischung an Menschen. Das ist auch heute noch so.

2015 begann die GSG, Wohnungen in der Siedlung auf dem freien Markt zum Verkauf anzubieten. Es machte sich Sorge breit, weil ein Verkauf der Siedlung mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bedeutet hätte, dass die Bewohner*innen sich das Wohnen in der Siedlung nicht mehr hätten leisten können. War Osternburg früher als schmutziger Industriestandort und als Stadtteil der »einfachen« Leute nicht gut angesehen, gilt es heute als schick, dort zu wohnen. Das schlägt sich unter anderem in massiv steigenden Mieten nieder.

Nachdem angesichts von Verkaufsgerüchten bereits 2013 auf einer Versammlung der Bewohner*innen die Idee entstanden war, die Siedlung gemeinschaftlich zu kaufen und unter die Selbstverwaltung der Bewohner*innen zu stellen, beschlossen nun einige, diesen Plan in die Tat umzusetzen. In Anlehnung an das Modell des Mietshäusersyndikats gründeten wir einen Verein der Bewohner*innen, der zurzeit noch alleiniger Gesellschafter einer GmbH ist. Im Januar 2016 ging die erste Wohnung in den Besitz der GmbH über. Mittlerweile wurden 13 Wohnungen gekauft, rund 30 Wohnungen gehören noch der GSG, ungefähr 13 Wohnungen sind im Besitz von Privatpersonen – meist Menschen, die schon lange hier wohnen.

Vielfalt der Bewohner*innen

Unser Ziel ist es, die Siedlung und die Vielfalt ihrer Bewohner*innen zu erhalten. Wir wollen Wohnraum für alle zur Verfügung stellen. Nicht nur für diejenigen, die für gesund und leistungsfähig gehalten werden, als weiße Deutsche angesehen werden oder sich teure Mieten leisten können. Außerdem finden wir es notwendig, dem profitorientierten Wohnungsmarkt ein kollektives Projekt entgegenzusetzen. Das Besondere an unserem »Wohnprojekt« ist, dass der Ausgangspunkt nicht eine relativ homogene Gruppe von Menschen ist. Viele Wohnprojekte entstehen, weil sich Freund*innen und/oder Genoss*innen zusammenschließen, um gemeinsam zu wohnen. Das hat oft zur Folge, dass diese Gruppen oft relativ weiß, relativ privilegiert hinsichtlich ihrer finanziellen Absicherung und relativ einheitlich in der politischen Ausrichtung sind.

Das ist in unserem Projekt grundlegend anders, was wir als großen Gewinn empfinden. Es gab die Bewohner*innen in all ihrer Vielfalt und gewachsene nachbarschaftliche Strukturen, bevor es das Projekt gab. Natürlich stellt uns diese Tatsache auch vor Herausforderungen. Viele der Bewohner*innen haben das Bedürfnis, dass es einfach so weitergeht wie bisher und stehen dem Projekt verhalten gegenüber. Einige haben Angst, dass die Entwicklungen sie überrollen, dass wir ein Projekt für uns und unsere Freund*innen machen, sie aus der Siedlung verdrängt werden oder die Siedlung am Ende nicht mehr »ihre« Siedlung sei. Und auch wenn wir genau das nicht wollen, müssen wir gestehen, dass diese Ängste nicht gänzlich unberechtigt sind. Wir zweifeln manchmal an uns und unserem Projekt. Bekämpfen wir wirklich die Gentrifizierung des alten Arbeiter*innenstadtteils oder haben wir nicht längst schon dazu beigetragen?

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass viele Menschen in der Siedlung weiterhin einfach nur Mieter*innen sein wollen – und das ist völlig berechtigt. Das stellt uns vor das Problem, dass die umfangreichen Aufgaben auf wenigen Schultern lasten, die Arbeit aber trotzdem erledigt werden muss. Um dies zu gewährleisten, denken wir darüber nach, eine bezahlte Verwaltungsstelle einzurichten – auch wenn dies in selbstverwalteten Projekten oft verpönt ist.

Es gibt Projekte, die eine aktive Beteiligung der Bewohner*innen zur Voraussetzung des Wohnens im Projekt machen. Unsere Einschätzung ist aber, dass dies zur Homogenisierung der Bewohner*innenschaft führen würde, weil politische Arbeit etwas ist, das man sich in gewisser Hinsicht leisten können muss. Je schwieriger die Lebensverhältnisse sind, desto weniger Kapazitäten bleiben dafür übrig. Zudem erschweren unsere Strukturen eine Beteiligung aller. So fällt uns beispielsweise auf, dass auf unseren Plena viele Akademiker*innen sitzen und Leute, die schon vor dem Projekt Erfahrungen mit Polit-Treffen gesammelt haben und es gewohnt sind, kollektiv zu diskutieren und Entscheidungen zu treffen. Viele Menschen sind abgeschreckt von den langen Diskussionen und den informellen Regeln, die alle zu kennen scheinen außer sie selbst. Davon, dass auf den Treffen nur deutsch gesprochen wird und Entscheidungsprozesse manchmal nicht durchschaubar sind und somit klüngelig wirken. Aber auch wenn unsere Plena nicht gerade bestens besucht sind, beteiligen sich Leute immer wieder an gemeinsamen Aktionen, wie z.B. Bäume fällen oder Wohnungen renovieren. Auch dass schon Bewohner*innen mit dem Wunsch zu uns gekommen sind, dass die GmbH ihre Wohnung kauft, ermutigt uns.

»Vielfalt muss man leben«

Unser Ziel ist nicht, als Projekt möglichst viele Wohnungen zu kaufen und unsere Idee von Kollektiveigentum durchzusetzen. Wir finden Kollektiv­eigentum toll, akzeptieren es aber dennoch, wenn Bewohner*innen der Siedlung ihre Wohnung selbst kaufen wollen. Einige haben ihren Kindern nichts zu vererben und wollen zumindest eine Wohnung haben, die sie ihnen vermachen können. Andere wollen das bisschen Geld, das sie gespart haben, sicher anlegen und stecken es in eine Wohnung. Wiederum andere vertrauen dem Projekt vielleicht nicht genug, um ihre Wohnverhältnisse in unsere Hände zu legen. Wir halten es für notwendig, auf die unterschiedlichen Lebensumstände der Menschen und ihre Bedürfnisse einzugehen und ihnen nicht unsere Ideen überzustülpen.

Unser Projekt ist durchsetzt mit Widersprüchen, die reflektiert, zum Teil ausgehalten und zum Teil ausgehalten werden müssen. Aber die Siedlung – dieser wunderschöne Ort, die gute Nachbarschaft, die gelebte Vielfalt, die gegenseitige Unterstützung – ist es wert, für sie zu kämpfen.

Kontakt: Alte Glashüttensiedlung e. V.,

Nollstraße 3, 26135 Oldenburg,

www.alte-glashuettensiedlung.de

Das Projekt kann mit Direktkrediten unterstützt werden und sucht Mitglieder für den Förderverein, der eng mit dem Projekt zusammenarbeitet.

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