CARE IST MEHR

Care-Arbeiten können sinnvoll und leistbar zu organisiert werden, wenn sie sich an den Bedürfnissen von Pflegenden und Gepflegten orientieren. Foto: Giovanni Lo Curto

»Care-Tätigkeiten«, das war lange Zeit eine Bezeichnung für einen spezifischen Sektor, nämlich Pflege- und Versorgungstätigkeiten. Die Diskussionen darüber begannen mit dem Wunsch, diese Bereiche, die oft unbezahlt erledigt werden und in der Wirtschaftstheorie als unproduktiv gelten, sichtbar zu machen und ihren Wert darzustellen.

Brigitte Kratzwald, Redaktion Graz

In der allgemeinen Wachstums- und Rationalisierungseuphorie galten sie als Problembereich. Der US-amerikanische Ökonom William Baumol attestierte ihnen bereits 1967 die »Kostenkrankheit«, weil man zwar schneller Autos und Handys produzieren kann, aber nicht schneller Kinder erziehen oder Kranke pflegen. Um diesen Makel nicht auf sich sitzen zu lassen, versuchte man diesen Tätigkeiten einen Stellenwert innerhalb des Wirtschaftssektors zu geben. Es entstanden Begriffe wie »Sozialwirtschaft« oder »Care-Ökonomie«, es wurde versucht, den Wert dieser Arbeiten in Geld darzustellen. Es folgten ISO-Zertifizierungen für effiziente Abläufe, Produktkataloge, Zeitvorgaben für jeden kleinen Arbeitsschritt, was das Selbstwertgefühl der Einrichtungen kurzfristig steigerte. Bedürfnisse – von Pflegenden und Gepflegten – kamen dabei jedoch unter die Räder.

In den letzten Jahren wurden die katastrophalen Auswirkungen im Gesundheits- und Pflegebereich immer deutlicher sichtbar. Die Einsicht wuchs, dass es innerhalb der Logik dieses Systems nicht möglich war, Care-Tätigkeiten sinnvoll und leistbar zu organisieren. Das führte zu einem Paradigmenwechsel, der sich etwa in der Care-Revolution-Bewegung manifestiert: »Care« seht heute für die Forderung nach einem Systemwandel und reihte sich damit in andere ähnliche Diskurse, wie Commons oder Degrowth ein. Care sollte, so die Verfechterinnen dieser Idee, als Haltung ins Zentrum des Wirtschaftens rücken und nicht länger nur mehr einen bestimmten Sektor bezeichnen. Deshalb auch der englische Ausdruck, denn »to care« bedeutet eben nicht nur »sorgen« oder »pflegen«, sondern auch, »etwas ist mir nicht egal«. Eine solche Haltung kann nicht nur anderen Menschen gegenüber, sondern auch gegenüber der Natur eingenommen werden.

Der Schwerpunkt deckt diese Auffassung von Care in Theorie und Praxis ab. Ina Praetorius stellt auf Seite 9 ein Konzept vor, das Care in den Mittelpunkt des Wirtschaftens stellt. Friederike Habermann zeigt, dass sich diese Einsicht auch bei AktivistInnen durchsetzt. Von ihr stammt auch der Titel dieses Schwerpunkts »Umcare zum Miteinander«. Auf Seite 11 finden sich Überlegungen zum Zusammenhang von Care und Degrowth, auf Seite 12 gibt es ein Update zur Care-Revolution und einen Bericht über den Verein diversu e.V., der der Möglichkeit nachspürt, das Care-Konzept mit ökologischen Themen zu verbinden.

Da Pflegeeinrichtungen besonders unter der herrschenden Marktlogik leiden, ist es naheliegend, dass sie prädestiniert dafür sind, nach einer Care-Logik organisiert zu werden. Davon handeln die Praxisbeispiele auf den Seiten 10 und 11 über die holländische Organisation Buurtzorg und davon inspirierte Initiativen in Deutschland. Interessant, wenn auch kaum überraschend für Contraste-LeserInnen ist, dass sich die Form der Selbstorganisation dafür besonders gut zu eignen scheint. Selbstorganisation wird heute vielerorts als »innovatives Managementmodell« im Pflegebereich angepriesen. Für Einrichtungen, die aus der Kommunebewegung entstanden sind, wie etwa die Tagespflege Lossetal, und schon viele Jahre nach diesem Konzept arbeiten, mag das eine Bestätigung sein.

Schwerpunktbeiträge März

Friederike Habermann, Berlin: Wer gewinnt, wäscht ab! Care gewinnt in aktivistischen Praktiken an Bedeutung

Ina Praetorius, Wittlich: Wirtschaft ist Care - Es braucht einen Paradigmenwechsel in der Ökonomie

Brigitte Kratzwald, Redaktion Graz: Wir brauchen keine Manager - Mobile Pflege

Brigitte Kratzwald, Redaktion Graz: Buurtzorg - Revolution in der holländischen Pflegelandschaft

Brigitte Kratzwald, Redaktion Graz: Selbstorganisierte Pflegeeinrichtungen in Deutschland - Pflege auf Augenhöhe

Gabriele Winkler, Freiburg: Care Revolution - Für eine solidarische Gesellschaft sorgen

Interview mit Daniela Gottschlich von diversu e.V.: In Theorie und Praxis zu einem sorgenden Naturverhältnis

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