Rojava: Das Frauendorf JINWAR

Es ist Ende September und noch immer scheint die Sonne jeden Tag. Die erste Bausaison im Frauendorf Jinwar neigt sich dem Ende zu, es wird Herbst und nach Monaten sonniger Hitze wird sich bald Regen ankündigen. 21 Häuser sind in den letzten Monaten entstanden, einige werden noch von außen verputzt und die letzten Dächer werden aus Holzbalken, Stroh, Draht, dicker Plane und Lehm über den Wänden aus rötlich-braunen Lehmziegeln geschlossen. Es ist früher Abend und schaut man über die flache Ebene hinweg nach Norden, so sieht man in gar nicht allzu weiter Ferne die Lichter der türkischen Grenze flackern, wie eine Linie zeigen sie in regelmäßigen Abständen den Verlauf der Mauer an, die der türkische Staat im letzten Jahr entlang der Grenze errichtet hat.

Jinwar Kollektiv, Jinwar

Jinwar wird ein Ort der Frauen; ein Dorf, in dem Frauen ein selbstbestimmtes, gemeinschaftliches Leben auf der Grundlage kommunaler Selbstverwaltung und Ökologie aufbauen. Als Teil der Revolution in Rojava/Nordsyrien, wird Jinwar ein Ort, an dem Frauen zusammenkommen und Alternativen zu patriarchalen Strukturen und Denkweisen entwickeln und leben können. Ein Ort, um an die Erfahrungen und lange Widerstandsgeschichte von Frauen aller Zeiten anzuknüpfen, um Wissen über die eigene Geschichte, das Leben, die Natur, die Gesellschaft zu vertiefen, um ohne den Rückgriff auf staatliche Strukturen Probleme zu lösen und darin Schritt für Schritt einer befreienden, ethischen, gesellschaftlichen Lebensweise näher zu kommen.

Im Aufbau

Der Name des Dorfes setzt sich aus den kurdischen Wörtern »jîn« und »war« zusammen. »Jin« bedeutet Frau, ist aber auch mit dem Wort »jîn« verwandt, das wiederum Leben bedeutet. »War« bedeutet Ort, Land, Heimat. Ein Frauendorf aufzubauen war lange ein Traum von unterschiedlichsten Frauen in der Kurdischen Frauenbewegung, der nun begonnen hat Wirklichkeit zu werden. Im vergangenen Jahr haben sich Frauen aus verschiedenen Zusammenhängen und Organisationen zusammengetan, um ein Kommittee für den Aufbau von Jinwar zu gründen. Darauf folgten Monate der Diskussion, der Planung und der Vorbereitung, bis daraufhin im Frühjahr 2017 mit den Bauarbeiten begonnen werden konnte. Teil des Kommittees für den Aufbau des Dorfes sind unter anderem Kongreya Star, unter dessen Dach sich Frauenräte, -kommunen, -kooperativen und andere Frauenprojekte organisieren, außerdem die Stiftung der Freien Frauen Rojava (WJAR), das Jineoloji Kommittee, die Organisation der Familien gefallener Kämpfer*innen und eine ganze Menge anderer Frauen, für die Jinwar eine Hoffnung und Perspektive darstellt. Insgesamt sollen 30 Häuser zum Wohnen gebaut werden und Frauen mit unterschiedlichsten Lebensgeschichten werden ab dem nächsten Frühling einziehen. Viele der Frauen haben ihre Ehemänner im Krieg verloren und kommen mit ihren Kindern, andere wollten nie heiraten und haben nun in Jinwar die Perspektive gefunden, ein kollektives Leben mit anderen Frauen zu leben. Wieder andere haben Probleme in ihren Familien, wollen sich von Repression und patriarchalen Strukturen befreien und ihr Leben in die eigene Hand nehmen. Jinwar ist schon jetzt ein Ort, an dem Frauen mit verschiedensten Hintergründen und Perspektiven zusammenkommen. Obwohl es noch mehr Baustelle als Dorf ist, steht Jinwar bereits in regem Austausch mit den umliegenden Dörfern und immer wieder kommen Frauen und Gruppen vorbei, um den Fortschritt der Bauarbeiten zu sehen, um gemeinsam zu diskutieren, zu lernen und selbst beim Aufbau zu helfen.

Jinwar wird Teil der Selbstverwaltung

Jinwar wird sich als Kommune organisieren, ausgehend von der Basis, von den Frauen im Dorf, über die Rätestrukturen verbunden mit all den anderen Kommunen der Region. Als Frauenkommune ist das Dorf Teil der Strukturen demokratischer Autonomie, die gerade, inspiriert vom Modell des Demokratischen Konföderalismus, in der Föderation Nordsyrien entstehen. Eine weitere wichtige Grundlage des Dorfes wird die ökologische Landwirtschaft sein. Mit der Hilfe von Frauen aus den umliegenden Dörfern, haben die Frauen von Jinwar begonnen, einen großen gemeinschaftlichen Garten, Obst- und Olivenbäume anzupflanzen. Es gibt außerdem ein wenig Land für den Anbau von Getreide und Platz für Schafe und Hühner. Die Frauen schaffen damit eine Grundlage für die Selbstversorgung des Dorfes und tragen gleichzeitig einen Teil zum Aufbau einer kommunalen Wirtschaft bei, in der Produktion vom Bedarf ausgeht und in Kooperativen organisiert ist. Im Dorf wird außerdem eine Akademie für Jineoloji entstehen und auch darin liegt ein sehr grundlegendes Element. Jineoloji, die Wissenschaft der Frauen, die von der Kurdischen Frauenbewegung entwickelt und mittlerweile auch in anderen Teilen der Welt diskutiert wird, soll auch in Jinwar weiterentwickelt werden. Sie macht es sich zur Aufgabe, eine Form von Wissenschaft, Wissen und Bewusstsein zu entwickeln, die nicht einer sinnentleerten kapitalistisch-patriarchalen Verwertungslogik folgen, sondern auf einer gemeinsamen Ethik beruhen und eng mit dem gesellschaftlichen Leben verbunden sind. Sich von patriarchalen Strukturen zu befreien bedeutet auch, einen kritischen Blick auf die eigene Geschichte zu entwickeln, die Widerstandsgeschichte von Frauen und Gesellschaften zu allen Zeiten zu erforschen und all das lebendige widerständige Wissen zusammenzutragen, das im Laufe der Vertiefung und Ausdehnung patriarchaler, kapitalistischer und staatlicher Herrschaftsstrukturen in der Gesellschaft immer weiter verdrängt wurde. In der Akademie kann dieses Wissen aus unterschiedlichsten Bereichen des Lebens und der Gesellschaft gesammelt, weitergegeben und mit der Praxis verbunden werden. Neben der Akademie soll es außerdem eine Schule, ein Gesundheitszentrum für natürliche Medizin und ein Kunst und Kulturzentrum geben, für die es allerdings noch einiges an Mitteln und Unterstützung braucht.

Die Kraft der Frauen

Jinwar ist in der Tat ein beeindruckendes Projekt und in einer Region, die sich inmitten von Machtkämpfen befindet, kann es den Glauben an eine Alternative stärken, die von der gesellschaftlichen Basis ausgeht. »Neulich hat uns jemand gefragt: Wie könnt ihr denn all die Arbeit in den Aufbau eines Frauendorfes stecken, wo doch die Lage in Syrien so sehr von Krieg und Konflikten bestimmt ist?« erzählt eine Frau aus dem Kommittee. »Wir sagen, dass wir genau hier und genau jetzt den richtigen Zeitpunkt sehen, dieses Dorf zu bauen. Unsere Freund*innen und Angehörigen kämpfen mit Waffen an der Front gegen den IS. Sie verteidigen unser Leben und die Freiheit unserer Gesellschaften jeden Tag und wir können ehrlich sagen, dass eine Initiative wie Jinwar niemals möglich wäre, wenn sie das nicht tun würden. Aber alle Verteidigung ist doch bedeutungslos, wenn dir nicht klar ist, wofür du kämpfst; wenn unser Widerstand nicht auf einer gemeinsamen Ethik beruht, auf einem Verständnis davon, wie wir leben wollen. Auf welcher Basis sollen denn Lösungen für die laufenden Konflikte im Mittleren Osten gefunden werden?

Wir positionieren uns, indem wir die Vision einer freien, demokratischen und ökologischen Gesellschaft stärken und sie verteidigen. Natürlich stößt du auf einen Haufen von Widersprüchen und Schwierigkeiten, wenn du versuchst diese Hoffnung in einer Region zu realisieren, die seit hunderten von Jahren von Kämpfen um Einfluss und Ressourcen zerrüttet wird. Aber mal ehrlich, welche andere Möglichkeit haben wir? Wir wollen unser Land nicht als Flüchtlinge verlassen. Wir wollen nicht das Leben der kapitalistischen Moderne leben, weil wir beobachten, auf was für eine absurde Weise es die Gesellschaften im Westen und auch unsere Gesellschaften hier aushöhlt und zerstört. Und wir wollen auch nicht nach den repressiven Regeln eines religiösen Faschismus leben. Also sollen wir aufgeben? Natürlich nicht. Wir glauben an die Gesellschaft, wir glauben an die Möglichkeit demokratischer Selbstverwaltung auf der Grundlage von Frauenbefreiung und lokaler Autonomie, an die Möglichkeit Strukturen des Demokratischen Konföderalismus aufzubauen, die auf den Bedürfnissen aller Gesellschaften beruhen, die Teil von ihm sind. Und am meisten von allem glauben wir an die Kraft von Frauen, diese Vision voranzubringen. Letztlich ist der Aufbau eines Frauendorfes hier wahrscheinlich sogar möglicher als sonst irgendwo. Da ist der nötige Boden, da sind all die Fortschritte, die wir hier in den letzten Jahren in Hinblick auf Frauenbefreiung gemacht haben. Da sind die Frauenhäuser, Frauenräte, -kommunen und -kooperativen. Da ist zum Beispiel Kongreya Star, als Vereinigung der Frauenorganisationen und Initiativen in Rojava/Nordsyrien. Und da ist vor allem der große Bedarf und der Wille vieler Frauen zusammenzukommen und dieses Dorf zu bauen.«

Tiefe Veränderung braucht Zeit

Damit eine gesellschaftliche Organisierung von unten wirklich funktioniert und auf einer starken, lebendigen Basis baut, braucht es den Willen auf allen Ebenen mit Widersprüchen zu kämpfen. Und auch daran arbeiten die Frauen von Jinwar jeden Tag. »Die Bauarbeiten sind im Grunde einfach,« sagt Nahide, die seit Beginn des Projektes dabei ist und jeden Tag auf der Baustelle verbringt. »Worauf es ankommt, ist das Bewusstsein, sind die Menschen.« »Für die Bauarbeiten machst du einen Plan, ein Jahr und das reicht. Klar kommen dir da auch Sachen dazwischen, aber das ist kein Problem. Aber wenn es um die Gesellschaft geht, um eine tiefe Veränderung der Gesellschaft die das alles hier trägt, dann kannst du nicht einfach sagen: So, wir machen jetzt einen Plan für eine gesellschaftliche Revolution innerhalb von einem Jahr. Eine solche Revolution braucht 10 Jahre, vielleicht 100 Jahre, sie hört eigentlich nie auf. Wir haben die Basis, wir haben die Geschichte, wir wissen wo wir hinwollen, aber bis sich Strukturen wirklich verändern, braucht es sehr sehr viel Zeit. Wir brauchen dafür Wissen, Überzeugung, Glauben, Geduld, Mühe und ehrliche Liebe für die Gesellschaft. Es braucht Zeit, aber in dieser tiefen Veränderung liegt doch unsere größte und wichtigste Aufgabe.«

Die Frauen von Jinwar freuen sich über jede Form von Austausch, Fragen, Diskussionen und Unterstützung!

Mail: Jinwar@riseup.net

Homepage: www.jinwar.org

Facebook: https://www.facebook.com/jinwarwomensvillage (englisch),

https://www.facebook.com/Gundê-Jinwar-1043789715756805/ (kurdisch)

Mailingliste

Einfach hier eintragen:
lists.contraste.org/sympa/info/contraste-liste

Die Umgangsfomen zwischen den NutzerInnen dieser Liste haben wir in einer Netiquette festgelegt.


Schnupperabo

CONTRASTE kann einmalig zum Sonderpreis von 9 € drei Monate lang "beschnuppert" werden. Dieses Schnupperabo endet automatisch und muss nicht gekündigt werden. Hier bestellen ...


Lest Contraste

CONTRASTE kostet im Abo 45 Euro (europ. Ausland 51). Oder Ihr könnt Fördermitglied werden: Mindestbeitrag 70 Euro. Hier abonnieren oder beitreten.


Lexikon der Anarchie

Was bedeutet eigentlich Selbstverwaltung?
Hier könnt ihr es nachlesen.