FRAGEND SCHREITEN WIR VORAN

Zapatistas ernten Mais auf dem kollektiven Feld in Santa Marta, Chiapas, 2013. Foto (Abschnitt): Luz Kerkeling

Chiapas, einer der südlichen Bundesstaaten in Mexiko, ist weltbekannt. 1994 gelang in nur zwölf Tagen ein Aufstand von Zehntausenden von EZLN- Guerilleros. Eine Menge Land konnte von Großgrundbesitzern wieder angeeignet werden. Der damals errungene Waffenstillstand hat Bestand bis heute, während die Zusicherung indigener Autonomie nur auf dem Papier blieb. Ein Teil der Bevölkerung in Chiapas ist seitdem mit der EZLN verbündet, zusammen sind sie die zapatistische Bewegung. Seitdem bauen hunderttausende Menschen unter widrigsten Bedingungen trotz allem ihre autonome Selbstverwaltung auf.

HEINZ WEINHAUSEN, REDAKTION KÖLN

Der Chiapas-Schwerpunkt gibt Einblicke, was sich seit dem Beginn des Aufstandes in Chiapas getan hat. Zugleich werden einige der jüngsten Entwicklungen vorgestellt. Um einen tieferen Einblick zu geben, reicht bei der Größe und Komplexität der zapatistischen Bewegung,die hier zur Verfügung stehende Zeichenzahl bei weitem nicht aus. Interessierte Leser*innen finden einiges an Lesetipps.

Verwunderlicherweise bietet eine der ärmsten Regionen der Welt dem kapitalistischen System die Stirn und sucht sich basisdemokratisch jenseits von Markt und Staat Freiräume zu verschaffen. Trotz der Drohungen der mexikanischen Armee und trotz dem Morden durch Paramilitärs wurde Jahr für Jahr gesellschaftlich Neues aufgebaut. In einem weiteren Artikel des Schwerpunktes wird angedacht, was eigentlich das Neue ausmacht und woran es sich überhaupt messen lässt. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass wir alle zapatistisch sein könnten, dass es gerade in den Metropolen genügend Potentiale gibt, auch hier Neues mitten im kapitalistischen Alten zu wagen.

»Wir schreiten fragend voran«, so lautet ein Motto der Bewegung in Mexiko. Schon in dieser Formulierung sieht der Soziologe John Holloway ein Novum. Sprechen die Linken von der Revolution und der Bewegung in der dritten Person, sprechen die Zapatistas ihre Prozesssprache, dass sie dies und das tun, dass sie dies und das machen möchten. Die Zeitwörter dominieren gegenüber den Dingwörtern. Zapatistas sehen sich als Handelnde, nicht als Objekte. Für Holloway steht fest: Parallel zur Warenökonomie hat sich eine Verdinglichung der Sprache heraus gebildet, die es zu wandeln gilt.

Welche Fragen stellte sich die zapatistische Bewegung im Voranschreiten? Einige seien benannt. Wie können wir verhindern, dass wir in einen schrecklichen Bürgerkrieg hineingezogen werden, worin Abertausende sterben werden? Durch die großen Proteste im Land sah sich die Regierung gezwungen, einen Waffenstillstand zu verkünden. Seitdem hat sich die EZLN auf das Verteidigen eingestellt und widersagt der Rachelogik, selbst wenn Paramilitärs Morde verübt haben. Um es der mexikanischen Regierung samt ihren Schlägern und Mördern nicht zu leicht zu machen, schützt sich die Bewegung durch weitestmögliche Anonymisierung, indem die Zapatistas in der Öffentlichkeit stets ihre Vermummung tragen.

Wie weiter, wenn es nur einen brüchigen Waffenstillstand gibt und die Regierung Teile der zapatistischen Bewegung mit NGO-Geldern »kaufen« will? Die Antwort war, den militärisch begonnenen Aufstand in einen zivilen Aufbruch zu transformieren und zu festigen. Die EZLN übergab sämtliche nicht-militärische Befugnisse in die Hände der selbstverwalteten Dorfgemeinschaften. Die Räte der guten Regierungen wurden
ins Leben gerufen. Die Zapatistas haben sich für eine dauerhafte Konfrontation mit dem Staat und dem Kapitalismus entschieden. Als Indigene besannen sie sich auf Mutter Erde, die ihnen alles gibt, um unabhängig sein zu können. Aber wer würde die Auseinandersetzung in zehn, zwanzig oder hundert Jahren weiterführen? Ihre Antwort war, vielen Jugendlichen ihr Wissen weiterzugeben und sie von Anfang an
in die Verantwortung einzubinden. Ein Wagnis, das sich zu bewähren scheint.

Noch mehr und natürlich ausführ­lichere Antworten auf Fragen der zapatistischen Bewegung bekommt, wer sich in die vorhandene Literatur von und über die zapatistische Bewegung einliest oder gar als Menschenrechtsbeobachter nach Chiapas fährt.

Schwerpunktbeiträge Juni 2017

Paul Friedrich, Graz: Von der Rebellion zur Autonomie - eine kleine Geschichte der Zapatistas

EZLN (Zapatistische Befreiungsarmee): Von der Diskriminierung zur Teilhabe - Zapatistische Frauen kämpfen

Luz Kerkeling, Münster: Linke indigene Präsidentschaftskandidatin?

Luz Kerkeling, Münster: »Eine Wissenschaft für das Leben!« (Conciencias-Kongressbericht)

Heinz Weinhausen, Redaktion Köln: Kapitalismus aufbrechen in Chiapas

 

 


Aus dem Inhalt


NACHRICHTEN

Wiederaufbau in Fraguas durch die Besetzer*innen. Foto: Fraguas

Die besetzten Dörfer Fraguas (Guadalajara), Casa Selba (Aragón) und Urniza (Navarra) sind akut von Räumung bedroht. Die lokalen Behörden drohen  mit hohen Geldstrafen und sogar mehrjährigen Haftstrafen für die Besetzer*innen. In den Pyrenäen ist die letzte Räumung über 10 Jahre her. Doch jetzt scheint der spanische Staat den Burgfrieden zu brechen und seine Präsenz in der spanischen Peripherie wieder stärken zu wollen. Die Besetzer*innen wehren sich dagegen. Ganzen Beitrag lesen

PROJEKTE

Wie man sich als Gemeinschaft öffentliche Flächen erhält, zeigt der Verein Robert Koch Park Panketal e.V.. Nachdem die Gemeinde sich die Pflege des Parks zunehmend nicht mehr leisten konnte, verwilderte dieser bis zur Unzugänglichkeit. Schlussendlich sollte die Fläche zur Bebauung verkauft werden. Nach langer Bürgerinitiativarbeit wurde 2004 der Verein gegründet, der den Park entwildert und neu angelegt hat und jetzt regelmäßig pflegt. Ganzen Beitrag lesen

GENOSSENSCHAFTEN

Rund 100 Menschen, ca. 77.000m2 Grundstück und ein gemeinsames Projekt - mit mehreren Generationen nach dem skandinavischen Cohousing-Modell in Gemeinschaft auf Gut Mydlinghoven leben. Während der letzten drei Jahre arbeiteten die Mitglieder der Genossenschaft »Wir vom Gut eG – natürlich gemeinsam« ehrenamtlich auf die Realisierung dieses Traums hin. Sie sind gleichzeitig auch die BewohnerInnen des Projektes. Im Dezember 2015 war es dann soweit: Die Genossenschaft unterzeichnete den Kaufvertrag und gründete somit das erste Cohousing-Wohnprojekt dieser Größenordnung in Deutschland - Gemeinschaftlich. Altersgemischt. Gut. Ganzen Beitrag lesen

BIOTONNE

Die Geschäftspraktiken des Saatgut- und Pestizidkonzerns Monsanto verletzen die Menschenrechte auf Nahrung, Gesundheit und eine gesunde Umwelt. Das ist das eine Ergebnis des Internationalen Monsanto Tribunals. Zudem fordern die beteiligten Jurist*innen Veränderungen im Internationalen Recht. Ganzen Beitrag lesen

KUNST & KULTUR

Nicht wenige Schüler*innen leiden unter Leistungsdruck, Konkurrenzprinzip und Adultzentrismus in den allgemeinbildenden Schulen. Regelmäßig werden in diesen Anstalten persönliche Entfaltung sowie solidarisches Denken und Handeln einer Vorbereitung auf eine Gesellschaft geopfert, die gar niemand will. Insofern können Freie Schulen alternative Lernbedingungen bieten, in denen sich nicht zuletzt auch das Demokratieverständnis sowie Selbstorganisationsfähigkeiten besser entwickeln. Die Schule »Freies Lernen – Kollektiv und Selbstbestimmt (FLeKS)«, die 2017 in Hamburg eröffnet, will dies ermöglichen. Contraste Redakteur Johannes Dietrich sprach mit Initiator Sebastian. Ganzen Beitrag lesen

Mailingliste

Einfach hier eintragen:
lists.contraste.org/sympa/info/contraste-liste

Die Umgangsfomen zwischen den NutzerInnen dieser Liste haben wir in einer Netiquette festgelegt.


Schnupperabo

CONTRASTE kann einmalig zum Sonderpreis von 9 € drei Monate lang "beschnuppert" werden. Dieses Schnupperabo endet automatisch und muss nicht gekündigt werden. Hier bestellen ...


Lest Contraste

CONTRASTE kostet im Abo 45 Euro (europ. Ausland 51). Oder Ihr könnt Fördermitglied werden: Mindestbeitrag 70 Euro. Hier abonnieren oder beitreten.


Lexikon der Anarchie

Was bedeutet eigentlich Selbstverwaltung?
Hier könnt ihr es nachlesen.