Drama über schwarze Pädagogik im evangelischen Kinderheim

Kinder und Jugendliche erwartet in geschlossenen Heimen ein System von Zwangsarbeit, willkürlichen, erniedrigenden Strafen und in kirchlichen Einrichtungen wie der »Anstalt Freistatt« auch Beten. Dort wurde bis Ende der 1970er Jahre mit schwarzer Pädagogik ihr Wille und ihre Persönlichkeit gebrochen, wie der Spielfilm »Freistatt« zeigt, der in einem früheren Gebäude der »Anstalt Freistatt« und dem umliegenden Wietingsmoor bei Diepholz gedreht wurde und jetzt auf DVD erhältlich ist.

Gaston Kirsche, Hamburg

In faktisch geschlossenen Heimen kommt es immer noch zu Willkür, Erniedrigung und schwarzer Pädagogik. Im Juni 2015 wurde deswegen nach Enthüllungen und Berichten eine Jugendhilfeeinrichtung des Trägers »Friesenhof« im Kreis Dithmarschen geschlossen. Um den Film »Freistatt« sehen zu dürfen, sollen Kinder mindestens 12 Jahre alt sein. Viele der in Heimen untergebrachten Kinder sind jünger. Damals in Freistatt waren Jungen zwischen 14 und 21 eingesperrt.

Die entwendete Tomate

Aus seiner blutenden Hand gibt der 14-jährige Wolfgang (Louis Hoffmann) dem etwa 20-jährigen Bernd (Enno Trebs) eine Tomate, die er aus dem privaten Gemüsegarten des »Oberbruders« Brockmann (Alexander Held) entwendet hat. Gespannt hatten die anderen Zöglinge, wie die in der »Anstalt Freistatt« eingesperrten Jungen genannt wurden, aus einem Waschraum heraus beobachtet, ob Wolfgang es schaffen würde, ihnen etwas zu Essen aus dem Garten zu besorgen. Denn auf Anweisung des Oberbruders und »Hausvaters« war der ganzen Gruppe das Abendbrot gestrichen worden. Als Bestrafung, weil Wolfgang zuvor trotz Verbot mit Angelika (Anna Bullard), der etwa gleichaltrigen Tochter des Oberbruders gesprochen hatte. Die ganze Gruppe zu bestrafen, wenn einer der Jungen sein Arbeitssoll beim Torfstechen im nahegelegenen Moor nicht erfüllen konnte oder gegen eine Regel verstoßen hatte, erlebte Wolfgang seit seiner Ankunft in der Anstalt zuvor schon oft. Die als »Bruder« anzuredenden Aufsichtspersonen schauten dann weg, wenn die Jungen, angeführt vom Stärksten, Bernd, sich an demjenigen brutal abreagierten, welcher den Anlass für die Bestrafung gegeben hatte.

Eine stumpfsinnige Hackordnung, welche Wolfgang nach der Streichung des Abendbrotes wenigstens einmal dadurch umgehen wollte, in dem er mit Bernd wettete. Der erwiderte ihm, nicht eine Tomate werde er aus dem vom Anstaltsleiter gehegten und gepflegten Gemüsegarten herausbekommen. Wolfgang versuchte es, wurde erwischt. Der vom Zorn über den Regelverstoß Wolfgangs erfüllte Oberbruder Brockmann steckte den schmächtigen Jungen mit dem Kopf in ein Fass voller Wasser, bis dieser fast ertrank. Nach Luft ringend, kroch Wolfgang erneut zu den Tomatensträuchern und pflückte demonstrativ weiter. Nun kam Bruder Wilde (Stephan Grossmann) ins Spiel, zog seine zum Bestrafen wie immer mitgeführte Reitgerte, drohte Wolfgang. Der ließ nicht von den Tomaten ab, Bruder Wilde trat ihm auf die Hand, schlug zu. Erst einmal. Wolfgang kroch erneut zu den Tomaten. Bruder Wilde peitschte ihn aus. Die Jungen holten in einem seltenen Moment der Solidarität den ohnmächtigen Wolfgang, der sich so stark für ihr Abendbrot eingesetzt hatte, ins Haus. Als Wolfgang erwacht, gibt er Bernd die Tomate.

Zwang, Strafe und Arbeit statt Schule

»Freistatt« zeigt ein breites Repertoire schwarzer Pädagogik, von Zwängen und Strafen vom Prügeln bis hin zum Psychoterror, mit dem Wolfgangs rebellische Eigenwilligkeit zerstört werden soll, nachdem er im Sommer 1968 dort eingeliefert wurde. Auch die breite gesellschaftliche Akzeptanz für das Wegsperren vermeintlich oder real renitenter Kinder und Jugendlicher wird angedeutet: In seinem Reihenhaus am Stadtrand von Osnabrück sei kein Platz für drei Kinder, herrscht der Stiefvater Heinz (Uwe Bohm) die schwangere Ingrid (Katharina Lorenz), Mutter von Wolfgang, an, nachdem Ingrid dazwischen gegangen war, als er Wolfgang aus einem nichtigen Anlass verprügeln wollte: Er hatte Wolfgang erwischt, als dieser sich zusammen mit zwei Freunden und einer Freundin ein Pornoheft des Stiefvaters anschaute. Der reagiert gleich sehr aggressiv, brüllt, nimmt sich noch den Ehering ab, bevor er Wolfgang schlägt. Der Stiefvater ruft das Jugendamt an, welches veranlasst, dass Wolfgang einen Platz in der »Anstalt Freistatt« bekommt. Der kräftige Stiefvater lächelt Wolfgang nie an, geht immer gleich mit vollem Körpereinsatz in die für Wolfgang bedrohliche Konfrontation. Uwe Bohm spielt sehr überzeugend den Stiefvater. Als ob er sich an seine eigene Kindheit erinnert. Uwe Bohm, damals noch Uwe Enkelmann, wurde als Kind in ein geschlossenes Heim in Escheburg bei Hamburg weggesperrt. Sein Glück war, dass der Filmregisseur Hark Bohm und dessen Frau Natalia Bowakowa ihn aus dem Heim geholt und adoptiert haben. Der von Uwe Bohm gespielte Stiefvater bedankt sich servil bei der Frau vom Jugendamt, die Wolfgang für den Transport in die Anstalt Freistatt abholt – die Kehrseite der gegen den Jungen gerichteten Härte.

Gedreht wurde »Freistatt« am Originalschauplatz, im Haus Moorhort, in dem bis Ende der siebziger Jahre Jungen einsitzen mussten. Die 1899 gegründete »Anstalt Freistatt« gehörte zu den evangelisch-lutherischen »Betheler Bodelschwinghschen Anstalten«. Gegründet von dem evangelischen Pastor Friedrich von Bodelschwingh, der auch die Betheler Anstalten in Bielefeld leitete. Nach seinem Motto »Arbeit statt Almosen« gründete Friedrich von Bodelschwingh, der in der Evangelischen Kirche bis heute als Initiator christlicher Sozialarbeit verehrt wird, »mitten im Wietingsmoor eine weitere »Arbeiterkolonie« für arbeits- und heimatlos umherziehende Männer«, wie die heutige Gemeinde Freistatt auf ihrer Internetseite ihre Gründungsgeschichte geschönt darstellt: »Sehr schnell kamen Heime für schwer erziehbare Jungen« dazu: »Diesen Ort nannte Friedrich v. Bodelschwingh Freistatt - in Anlehnung an die biblische Darstellung. Freistätten waren Orte, in denen Verfolgte Zuflucht finden konnten.«

Im »Haus Moorhort« werden gegenwärtig in einer Diakonie-Einrichtung der Stiftung »Bethel im Norden«, der Nachfolgeeinrichtung der »Anstalt Freistatt« aufgearbeitete gebrauchte Möbel verkauft. Für die Dreharbeiten wurde der Betrieb ausgelagert, so dass in einem Originalgebäude des früheren geschlossenen Heimes der Film »Freistatt« gedreht werden konnte. Die Fenster des »Haus Moorhort« waren noch vergittert, die Inneneinrichtung wurde wieder in den Zustand der 60er Jahre versetzt. Ein Schlafsaal mit dreistöckigen Betten für 45 Jungen wurde rekonstruiert, ein karg eingerichteter Aufenthaltsraum in Dunkelbrauntönen, ein ebensolcher Speisesaal, komplett geflieste, kalt wirkende düstere Waschräume. Klaustrophobisch, beengend. Kinderknast. »Das war damals eine völlig andere Welt«, distanzierte sich der Geschäftsführer von »Bethel im Norden« Christoph Nolting während der Dreharbeiten 2013 von der geschlossenen Anstalt Freistatt: »Das Filmprojekt finden wir gut. Wir unterstützen das.«

Dieses Lavieren zwischen punktuellen Zugeständnissen an konkret vorgebrachte Kritik über die äußerst repressiven früheren Heime und einem Ausweichen vor einer schonungslosen Aufarbeitung des Heimsystems, wie in der Selbstdarstellung der Gemeinde findet sich bei vielen Verantwortlichen und ist ursächlich für, dass die Opfer, welche in die geschlossenen Heime gesperrt wurden, bis heute nicht angemessen entschädigt wurden. So gab »Bethel im Norden« als Teil der »von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel« zwar eine Studie über die eigene Geschichte in Auftrag, die unter dem Titel »Endstation Freistatt« 2009 auch als Buch erschien, aber diese wurde nicht von unabhängigen Historikern, sondern von bei der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel Beschäftigten erstellt. Schilderungen von Opfern, ehemaligen Heimkindern wurden dort denn auch nur gefiltert wiedergegeben. Auf der Internetseite »Bethel im Norden« heißt es: »Die Diakonie Freistatt und der Birkenhof können sich jeweils auf eine über 100 Jahre alte Geschichte stützen. Wir in Bethel im Norden setzen auf diese festen Wurzeln...« Es findet sich kein kritisches Wort zur Geschichte der »Anstalt Freistatt«, stattdessen blumige Worte von »gleichen Rechten und Chancen in der Gesellschaft« für alle Menschen.

3.000 Heime gab es in den 60er Jahren, 800.000 Menschen haben zwischen 1945 und 1980 Jahre, wenn nicht gar ihre gesamte Kindheit, ihre Jugend in geschlossenen Heimen durchleben müssen. Etwa 80 Prozent der geschlossenen Heime waren kirchliche Einrichtungen.

In »Freistatt« ist zu sehen, dass drakonische Bestrafung und Ausbeutung durch Zwangsarbeit keine Ausnahmen waren, keine einzelnen Willkürakte, sondern Grundlage des Umgangs mit Kindern und Jugendlichen. Statt Schulunterricht gab es den Zwang zur Arbeit. In dem Heim gab es keinerlei schulische Bildungsangebote und keine Entlohnung. Dabei handelte es sich bei der Anstalt Freistatt um einen von Diakonen der Evangelischen Kirche geführten, profitablen Wirtschaftsbetrieb: Mit Presstorfproduktion, Schlossereien und Schmieden. Es gab keine Schule und keine Ausbildungsräume. Stattdessen Isolierzellen zur Bestrafung bei zu geringer Arbeitsleistung. Wer in Freistatt eingesperrt war, musste unentgeltlich arbeiten, für die Jungen kassierte die Anstalt von den Jugendämtern zusätzlich noch das staatliche Pflegegeld.

»Freistatt« spielt am Originalort im Wietingsmoor bei Diepholz, auch die verzweifelten Fluchtversuche von Wolfgang, der die Schikanen durch die Diakone und deren Antreiben zur Arbeit nicht länger ertragen will sind hier gedreht.

Die Moorsoldaten

Auf die Aufforderung, beim Marschieren zur Arbeit zu singen, stimmen sie für die Diakone »Die Moorsoldaten« an. Zackig, nahezu abgehackt singen die Jungen fast schreiend dieses eigentlich melancholische Lied. Das im ebenfalls im Nordwesten Niedersachsens in einem Moor gelegenen KZ Börgermoor 1933 von kommunistischen, zum Torfstechen gezwungenen Häftlingen komponierte Lied erklingt auf den ersten Blick geschichtslos genutzt. Zumal es im KZ Börgermoor zwei Tage nach seiner Erstaufführung durch Häftlinge verboten wurde.

Ein geschlossenes Heim ist kein KZ, statt Vernichtung durch Arbeit geht es hier um Umerziehung, Brechung des Willens, Disziplinierung durch Arbeit. »Freistatt« deutet aber so an, dass die schwarze Pädagogik der Diakone auch an NS-Ideologie anknüpfte. Die Anstalt Freistatt war zwischen 1933 und 1945 ein nationalsozialistisches Arbeitslager. Neben vermeintlich »asozialen« Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aus Deutschland wurden auch Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter beim Torfstechen eingesetzt, und zahlreiche Diakone aus den Heimen meldeten sich freiwillig als Aufseher in den KZ in den Mooren, wurden etwa in Börgermoor und Esterwegen eingesetzt. Nach Ende des Nationalsozialismus waren viele der nazifizierten Diakone wieder in Heimen tätig: »Nach dem Zusammenbruch natürlich gab es einen Überfluss solcher Menschenschinder, und viele von ihnen bekamen auch sofort einen Persilschein ausgestellt«, schreibt Martin Mitchell, der selbst 1963-64 in der Anstalt Freistatt eingesperrt war: »und durften an gleicher oder anderer Stelle – mit kaum sich ändernden Methoden – weiter agieren.«

Mitchell erinnert auch an Pastor Paul Braune, der damals in der von Bodelschwinghschen Stiftung einflussreich gewesen sei. Braune habe bereits 1933 vertreten, »dass sich die Arbeiterkolonien durchaus zur Verfügung stellen sollten für die Aufnahme verhafteter Asozialer«. Ein anderes Beispiel von Martin Mitchell ist Prof. Villinger, Chefarzt und leitender Psychiater in der von Bodelschwinghschen Stiftung. Villinger habe in der »Zeitschrift für Kinderforschung« 1935 einen Aufsatz veröffentlicht, demzufolge insgesamt »30 Prozent der Fürsorge-Zöglinge schwachsinnig (und damit zu sterilisieren) seien; für Freistatt und Eckardtsheim« hätte er gar 50 Prozent geschätzt, so Martin Michell.

Der reale Leiter der »Anstalt Freistatt« war vor dem 8. Mai 1945 bei der Gestapo und zeigte sich in Freistatt vor seinen Angestellten häufiger in einer Uniform des nationalsozialistischen SD, wie der Regisseur Marc Brummund nach der Vorführung von »Freistatt« am 20. Januar 2015 auf dem Max-Ophüls-Filmfestival in Saarbrücken im Gespräch mit dem Publikum erklärte. Eine Tatsache, die im Film nicht berücksichtigt wurde: Es hätte übertrieben wirken können, so Brummund, wenn der sadistische Oberbruder auch noch in einer Uniform des SD, des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS, aufgetreten wäre.

Das ehemalige Heimkind Martin Mitchell, der selbst im Haus Moorhort eingesperrt war, wo der Film gedreht wurde, berichtet: »Wurde ich sofort zum Torfstechen und Abbau von nassem Weißtorf, bei gefrorenem Boden, im Moor eingesetzt, bzw. gezwungen. Auch diese Arbeit wurde nicht bezahlt«. Sein erster Arbeitseinsatz fand im Februar 1963 statt.

Die Jungen mussten das ganze Jahr zum Torfstechen raus ins umliegende Moor, im Sommer unter sengender Sonne wie im Winter bei gefrorenem Boden. Freistatt lag abgeschieden von den nächsten Dörfern durch das weite Moor getrennt. Der Spielfilm schafft es, diese Arbeitsatmosphäre bedrückend klar zu zeigen. Die Kamerafrau Judith Kaufmann zeigt die Weite des Moores, seine Gefährlichkeit ebenso wie die harte Monotonie des Torfstechens mit einfachsten Mitteln: Spaten, Schaufeln, bloßen Händen. Wolfgangs Füße bluten gleich am ersten Tag wundgescheuert in den Holzbotten, in denen er arbeiten muss. Als ein anderer Junge ihm sagt, erst nach Monaten würde er Gummistiefel wie die Anderen bekommen, rastet er aus und schreit Bruder Wilde an: »Ich will sofort Gummistiefel!«. Der schlägt ihm als Antwort mit einer Schaufel ins Gesicht und drückt danach Wolfgangs Kopf in den Torfboden.

Der Film »Freistatt«

Wie oft bei Konfliktszenen hat die Kamerafrau hier halbnah gedreht, die Zuschauenden fühlen sich wie unmittelbar dabei. Auch wenn es mit der Draisine nach dem Torfstechen zurück ins Heim geht, ist die Kamera dicht dran. Kurz, zu kurz gibt es das Moor in Totalen zu sehen, wo die Draisine unten auf den Schienen klein wirkt in der Weite des Moores. Die Kamera schwenkt in den Himmel, wo Zugvögel fliegen. Ein Bild unerreichbarer Freiheit. Ein ruhiger Blick auf die brutalen Geschehnisse ist trotzdem kaum möglich, weil diese Totalen nicht nur zu kurz geschnitten sind, sondern wie nahezu der gesamte Film von einem Klangteppich überlagert. Eine Musiksauce mit vielen Streichern und einem Orchester fließt als permanenter Klangteppich über die Handlung ausgegossen dahin. Es ist, als ob der Regisseur Marc Brummund seinem Thema nicht zutraut, die ganze Spielfilmlänge hindurch zu tragen. Brummund wuchs in Diepholz auf, wenige Kilometer von der »Anstalt Freistatt« entfernt. Als Kind machte er Ausflüge ins Moor, von dem geschlossenen Heim bekam er nichts mit. 2009, während der einige Jahre auch in der Öffentlichkeit wahrgenommenen Debatte über die Entschädigung der Heimkinder der frühen Bundesrepublik sah er eine Talkshow zum Thema, die sein Interesse weckte.

Geprägt ist Brummund ästhetisch offensichtlich durch seine Jahre als Werbefilmer, wie »Freistatt« anzusehen ist. Es ist sein Debütspielfilm, nachdem er nach dem Herstellen von Werbespots an der für ihre Fernsehmarktgängige Ausrichtung bekannten »Hamburg Media School« in der Regieklasse gelernt hat. besucht und Werbespots erstellt. Mit den Mechanismen einer Inszenierung, die effektvoll die Emotionen der Zuschauer anleitet, dürfte er also vertraut sein.

Der Spannungsbogen ist klassisch aufgebaut bis hin zu einem Showdown. Eine reflektierte Sicht aus der Distanz auf die Handlung und ihre Personen, auf die dahinterstehenden gesellschaftlichen Normierungen und Zwänge legt der schnelle Ablauf der Ereignisse nicht gerade nahe. So wie Ton und teilweise auch Bild einer die Zuschauenden und ihre Emotionen stark lenkenden Dramaturgie folgen, ist auch die Handlung ähnlich angelegt: Wo das System Freistatt als geschlossenes Heim auf die Gleichförmigkeit, die Uniformität und Abstumpfung, die Brechung des Willens angelegt ist, ist die Rolle von Wolfgang die eines rebellischen Helden: Immer wieder begehrt er auf, immer wieder lehnt er sich als einziger gegen Willkür, Strafen und die gegenseitige Züchtigung der Jungen untereinander auf. Ein über weite Strecken des Filmes statisches Szenario, dass unglaubwürdig wirkt. Wo die anderen gehorsam abstumpfen, wächst seine Rebellion. Wo er einem äußerst repressiven Zurichtungssytem unterworfen ist, welches auf Gleichschaltung, monotonen Tagesabläufen, Kontrolle und Bestrafung basiert, wächst sein Widerstand, seine Kreativität und sein Aufbegehren. Auch das einzige kollektive Aufbegehren der Jungen wird von Wolfgang eingeleitet. Dies wirkt etwas irritierend, weil das Drehbuch des Filmes weitgehend auf den Erinnerungen von Wolfgang Rosenkötter beruht, der 1963/64 über ein Jahr lang - 16 Monate – nach anderen Heimen der Bodelschwingh-Stiftung in der von den Diakonen so benannten »Endstation Freistatt« eingesperrt war.

Der rebellische Held, der nicht rebellierte

Rosenkötter selbst erklärte aber bei mehreren Gelegenheiten, er habe nicht rebelliert, sondern versucht zu fliehen. Immer wieder. Dabei habe er auch die Bauern der Umgebung gegen sich gehabt, die Flüchtige nicht unterstützt, sondern wieder ins Heim gebracht hätten. Sie seien schließlich eingesperrt, also: Kriminelle. Ein Jahrzehnt nachdem Wolfgang Rosenkötter in der Anstalt Freistatt war, kommt es 1973 zu einem ermutigenden, symbolischen Fanal der Rebellion, dass sich im Film gut gemacht hätte – zwei Zöglinge zünden die anstaltseigene Moorkirche an, deren sonntäglicher Besuch unter Strafandrohung obligatorisch war.

Im informativen, wenngleich kurz gehaltenen Booklet der DVD ist ein bedrückender Erlebnisbericht von Wolfgang Rosenkötter abgedruckt: »Mein erster Tag in Freistatt«. Außerdem kurze Texte zum »Runden Tisch Heimerziehung«, in dem von 2009 bis 2010 die – unzureichende – Entschädigung der ehemaligen Heimkinder ausgehandelt wurde. Von Peter Wensierski ist ein Auszug aus dem im »Spiegel« 2006 erschienenen Artikel »Wie geprügelte Hunde« abgedruckt, in dem es auch um die evangelische Anstalt Freistatt geht: »Der Wille muss erst gebrochen werden« ist der bezeichnende Titel. »Das Torfstechen wird bei einer Tagung der »Betheler Inneren Missions Anstalt Freistatt« auch 1950 noch als »eine wertvolle Beschäftigungsmöglichkeit« bezeichnet«, so Wensierski, von dem 2006 auch »Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik« erschien. Dieses Buch war für Wolfgang Rosenkötter der Anlass, sich selbst seiner über 40 Jahre aus Selbstschutz verdrängten Geschichte als Heimkind zu stellen.

Die Kürze der Texte im Booklet wird ausgeglichen durch ein ausführliches Interview mit Wolfgang Rosenkötter auf der DVD, in dem er schildert, wie er durch die Lektüre des Buches »Schläge im Namen des Herrn« dazu kam, sich seinem eigenen Trauma als Heimkind zu stellen. Befragt von Jan Künemund legt Rosenkötter dar, wie wichtig der Film für ihn ist, das Reden über die Erlebnisse im Heim, wie viele Heimkinder in die Kinovorführungen gekommen sind, wie sich viele KinobesucherInnen bestürzt äußerten angesichts der dargestellten Zustände. In dem 44-minütigen Interview schildert Rosenkötter ebenso eindringlich wie verhalten, wie die Unterdrückung und Zwangsarbeit in der Anstalt Freistatt abgelaufen ist. Und wie er selbst von seinem Vater ins Heim abgeschoben wurde. Die Eltern hatten sich getrennt als er fünf war, als er zehn Jahre alt war, fühlte sich der alleinerziehende Vater überfordert und kontaktierte das Jugendamt. Es herrschte schnell Einigkeit, dass Wolfgang wegen seines gelegentlichen Schulschwänzens ins Heim sollte, um dort einmal Struktur zu lernen. Nachdem er aus offeneren Heimen mehrmals abgehauen war, um zurück zu seinem Vater zu kommen, war klar: Der Junge müsse Härte spüren, ab nach Freistatt, erinnert sich Wolfgang Rosenkötter. Im Eckardtsheim, wo er zuvor untergebracht und abgehauen war, drohten die Diakone, die Erzieher: Wenn du dich nicht gut benimmst, kommst du nach Freistatt, dann ist Ende – Endstation Freistatt. Während die Diakone so offensichtlich auch anderenorts über die brutalen Zustände in Freistatt Bescheid wussten, ja gar damit drohten, verschloss der Vater die Augen. Als Wolfgang, nach erfolgreicher Flucht aus dem Heim zuhause ankommt und seinem Vater die Verletzungen am Rücken von den Schlägen der Erzieher zeigt, will dieser dass nicht wahrhaben – und bringt seinen Sohn zurück ins Heim. Es gab noch viel schlimmere Vorfälle, brutalere, sadistische Formen von Bestrafungen als die im Film gezeigten, sagt Rosenkötter gefasst und leise. Jeder habe für sich selber gekämpft, es habe keine Freundschaften gegeben, das hätten die Erzieher unterbunden, es sei nur ums Überleben gegangen: »Wenn Du an sechs Tagen immer acht bis neun Stunden schwer arbeiten musst, dann denkst du nicht mehr an Revolte«. Wolfgang Rosenkötter war auch in den sogenannten »Besinnungszellen« unter dem Dach eingesperrt – 24 Stunden isoliert, bis zu einer Woche lang. Extra eingesperrt im Eingesperrt sein, nennt dies Wolfgang Rosenkötter. Er wirkt immer noch beschädigt, als er dies vor der Kamera sagt. Fürs Leben gezeichnet von den 16 Monaten, die er Willkür, Erniedrigung und Gewalt ausgesetzt war im geschlossenen Jugendheim.

»Freistatt«, D 2015, 108 Min., Regie: Marc Brummund; Drehbuch: Nicole Armbruster, Marc Brummund; Kamera: Judith Kaufmann; Schnitt: Hans Funck; Sounddesign: André Zacher / Clemens Becker; Musik: Anne Nikitin; Hauptdarsteller: Max Riemelt, Stephan Grossmann, Alexander Held, Langston Uibel, Louis Hoffmann, Enno Trebs, Anna Bullard. FSK: ab 12. DVD oder Blue-ray mit Bonusmaterial: Nicht verwendete Szenen, Interview mit dem Zeitzeugen Wolfgang Rosenkötter; Booklet mit Hintergrundinformationen. Für 20 Euro im Handel erhältlich. Direkt bei der Edition Salzgeber: http://www.delicatessen.org

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