Kultur der Verbindung statt Ökonomie der Ausbeutung

Ausgelöst durch globale Krisen, wird seit einigen Jahren von einer Großen Transformation gesprochen. Sie soll zu einer ökologisch nachhaltigen und sozial gerechten Weltgesellschaft führen. Was eine wirkliche Transformation bedeuten würde und wie wir sie anstoßen oder gestalten können, ist Thema einer Tagung mit internationalen Gästen, die Ende März im Forum3 in Stuttgart stattfindet. Einer dieser Gäste, die US-amerikanische Autorin Sarah van Gelder, erzählt im Interview von einer neuen Kultur der Verbindung, die sie bei Menschen gefunden hat, die ein »neues Amerika« mit einer gerechten und ökologischen Zukunft aufbauen wollen.

Peter Streiff, Redaktion Stuttgart

Hallo Sarah, im letzten Jahr hast Du eine 12.000 Meilen lange Reise durch ein »neues Amerika« unternommen, deine Erfahrungen aufgeschrieben und ein Buch veröffentlicht. Was macht dieses »neue Amerika« aus und wie beschreibst Du es?

Ich entschied mich, an Orte in Randgebieten zu gehen, weil so viele Menschen und Institutionen in den großen Zentren des Reichtums und der Macht im Status quo eingebettet sind. Hier sind die Belohnungen enorm für diejenigen, die einfach mitmachen an den Dingen, so wie sie sind.

Aber immer mehr AmerikanerInnen werden zurückgelassen – und dies hauptsächlich in einigen bestimmten Regionen des Landes. Nur zwanzig AmerikanerInnen besitzen so viel Reichtum wie die Hälfte der Bevölkerung des Landes. So war ich neugierig, ob ein anderes Amerika auftaucht unter jenen Zurückgelassenen und unter denen, die sich einer gerechteren und ökologisch gesunden Zukunft verschrieben haben.

Und tatsächlich fand ich die Samen dieses neuen Amerika: Menschen, die Gemeinschaft vor Gewinne setzen, die sich für den Schutz der natürlichen Umwelt einsetzen und die ihre Verantwortung für künftige Generationen verstehen. Menschen, die an eine integrative Gemeinschaft glauben und dazu bereit sind, aus ihrem bequemen Alltag hinauszutreten, um sich über Rassen- und Nationalitäten-Grenzen hinweg zu bewegen. In meinem Buch beschreibe ich dies als eine »Kultur der Verbindung« im Gegensatz zu unserer aktuellen »Ökonomie der Ausbeutung« (economy of extraction).

Als Mitgründerin und Autorin hast Du vor zwanzig Jahren gemeinsam mit einem Kollegen das »YES!-Magazin« gegründet. Was war das wichtigste Ziel für Euch damals?

Über die Bemühungen der Menschen zu berichten, eine gerechtere, nachhaltigere und mitfühlendere Welt zu schaffen, und sie damit sichtbar zu machen.

Was, glaubst Du, kann eine aktive deutsche Zivilgesellschaft aus der Geschichte des »YES!-Magazins« lernen?

Dass es heute für die Zivilgesellschaft, für die Gemeinschaft und für eine Wirtschaft, die auf Teilen und auf Beziehungen beruht (love economy), eine entscheidende Aufgabe gibt. Zu oft erwarten wir Progressiven von der Regierung, die Dinge zu lösen. Und die Konservativen erwarten, dass private Einrichtungen die Dinge lösen.

Beide vergessen jedoch einen wichtigen dritten Sektor, der die Quelle vieler Kreativität, Lebensqualität und neuer Möglichkeiten ist. Dieser dritte Sektor ist auch das Umfeld für Beziehungen, die eine Quelle tiefer Zufriedenheit und tiefen Lernens sind – zum Beispiel, wo wir uns gegenseitig herausfordern können, den Kampf mit dem verankerten Rassismus aufzunehmen.

Hier können wir auch die Bausteine einer gerechteren und nachhaltigeren Wirtschaft zusammentragen. Und hier können wir auch wechseln – von einer Gesellschaft, die die natürliche Welt verbraucht, zu einer Gesellschaft, die bewahrend ist.

All diese Veränderungen geschehen in realen Beziehungen (nicht in Online-Beziehungen), mit anderen Menschen und mit der natürlichen Umwelt.

Welche Fehler könnten wir vermeiden, wenn wir in Deutschland ein solches Magazin herausbringen wollten?

Was »YES!« einflussreich macht, ist, glaube ich, wesentliche Fragen zu stellen. Fragen wie, was passiert, wenn es nicht genügend Arbeitsplätze gibt? Könnten wir eine Wirtschaft haben, die den Planeten wieder aufbaut, statt ihn zu verbrauchen? Wie können wir mit Konflikten umgehen – nicht indem wir uns gegenseitig töten oder sie vertuschen, sondern indem wir uns tief in die Quellen der Meinungsverschiedenheiten und unserer Bestrebungen für etwas anderes einlassen?

Und noch eine Erfahrung: Vermeidet Ideologie und festgelegte Antworten. Es genügt nicht, dass ein Artikel sich »gut anfühlt« oder in ein vages progressives Spektrum fällt, sondern er muss echt sein. Er muss den Menschen einen plausiblen Weg vorwärts anbieten. Er muss in Erfahrungen und Geschichten, nicht nur Theorie geerdet sein. Und es sollte auch durch eine ganzheitliche Perspektive darüber informiert werden, wie der Wandel geschieht und wie die Dinge jetzt funktionieren und warum.

Auch passiert es RedakteurInnen und AutorInnen, die europäischer (einschließlich weißer, amerikanischer und kanadischer) Herkunft sind, leicht, dass sie ihre Denkweise, ihre Werte, ihr Wissen als die Norm ansehen, und diejenige anderer Hintergründe oder Weltanschauungen die Ausnahme seien – das »Andere«. Dies ist eine allgegenwärtige und subtile Form weißer Vorherrschaft, die fortfährt, auch progressive AutorInnen und DenkerInnen zu vergiften. Ebenso gehen männliche AutorInnen und DenkerInnen oft davon aus, dass sie Anspruch auf mehr Macht und mehr Stimme haben.

Die Führung für eine Transformations-Ära wird wahrscheinlich eher ausgehen von Menschen anderer Farbe (people of color) als von Weißen; von Frauen, von Menschen an den Rändern, die bisher nicht so gründlich für das Festhalten am Status quo belohnt wurden. So sollte eine Zeitschrift sicherstellen, dass es Frauen und Menschen aller Hautfarben in allen Ebenen der Entscheidungsfindung, als AutorInnen und GestalterInnen gibt.

Danke für das Gespräch.

Sarah van Gelder nimmt an der Stuttgarter Transformationstagung teil, ebenso wie die Engländerin Pam Warhurst, die von ihrem Netzwerk von Urban Gardening-Projekten berichten wird und wie der Berliner Autor und Filmregisseur Fabian Scheidler, der das Buch »die Megamaschine« geschrieben hat. Außerdem beteiligen sich die Brasilianerin Valeria Carrilho (Gemeinschaftsprojekt Monte Azul), die Bolivianerin Saron Cabero (Buen Vivir), der Algerier Belkacem Amarouche (Sufismus), der norwegische Musiker Torbjørn Eftestøl sowie der Stuttgarter Künstler Andreas Mayer-Brennenstuhl an den Diskussionsprozessen.

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