Reisebericht vom Mai 2014 aus dem Kanton Cizîrê

Reisebericht vom Mai 2014 aus dem Kanton Cizîrê

Frauen-Kooperativen in Rojava

Der Aufbau der Frauenökonomie stellt den dynamischsten Sektor im wirtschaftlichen Bereich von Rojava dar. Das Ökonomiekomitee der Frauenbewegung Yekîtiya Star versammelte sich erstmals am 10.6.2012 in Qamilo. Infolge eines Beschlusses dieser Versammlung wurden in allen Städten Frauenwirtschaftskomitees aufgebaut, welche die Gründung von Frauenkooperativen unterstützen und daran mitwirken.

Von ANJA FLACH, HAMBURGlFrauen in Rojava sind meist ökonomisch abhängig von ihren Ehemännern oder Familien. Obwohl viele Frauen studiert hatten, konnten auch vor der Revolution nur sehr wenige unabhängig einen Beruf ausüben, zum Beispiel als Lehrerin, Ärztin oder Anwältin. Durch das Embargo ist es nicht einfacher geworden. Die Frauenbewegung arbeitet hart daran, das zu ändern. Silvan Afrîn, die Vertreterin von Yekîtiya Star für Ökonomie in Dêrîk, erklärt uns die Idee der Kooperative: »Die Frauen haben kein eigenes Land, keine Möglichkeit Geld zu verdienen. Unsere Lösung dafür sind Frauenkooperativen. Wir holen zum Beispiel zehn Frauen zusammen und besprechen mit ihnen, welche Arbeit sie machen können.

Wir helfen ihnen, die Projekte, die sie entwickeln,umzusetzen, bis sie laufen. Im Moment ist es noch schwer, da wir Kriegsbedingungen haben, aber wir arbeiten kontinuierlich daran. Wir haben landlosen Frauen Land gegeben und ihnen am Anfang geholfen, es zu bebauen.« Gemeinsam mit Silvan Afrîn konnten wir einen Tag lang verschiedene Kooperativen in der Cizîrê besuchen.

Warîn Qamişlo


Eines der größten Projekte von Yekîtiya Star ist eine Näherei in Qamişlo. 23 kurdische und arabische Frauen und zwei Männer, überwiegend Vertriebene aus Städten wie Aleppo, Damaskus, Raqqa und Idlip arbeiten in der Kooperative Warşîn, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Naima Bektaş, Sprecherin von Warşîn, erklärt, dass das Projekt gegründet wurde, um Flüchtlingen eine Lebensperspektive in Rojava zu bieten. Im Oktober 2013 hat die Fabrik mit zwei Nähmaschinen und vier Arbeiterinnen begonnen, nun gibt es 40 Maschinen, und 25 Näherinnen produzieren Kleidung für den Kanton Cizîrê. Die Frauen arbeiten acht Stunden am Tag und produzieren etwa 2.000 Kleidungsstücke die Woche. Gleichzeitig gibt es eine Maschine, die Aufnäher produziert, die zum Beispiel für die Uniformen der Asayîş benötigt werden. Fatma Şihade, eine arabische Frau aus Idlip, erklärt: »Wir sind wegen des Krieges in unserer Stadt nach Qamişlo gekommen. Ich habe hier eine Arbeit gefunden, ohne Diskriminierung, obwohl ich Araberin bin. Das ist ein Schritt hin zu einem Syrien, in dem Araber_innen und Kurd_innen gleichberechtigt zusammenleben.«

Käsekooperative Dêrîk


Die Käsekooperative in Dêrîk ist ein kleines Projekt von fünf Frauen. Sie produzieren gemeinsam Käse und Joghurt und verkaufen diese Produkte dann auf dem Markt. »Wir können uns und unsere Familien selbst versorgen, die Milch besorgt uns das Wirtschaftskomitee von Yekîtiya Star. Wir geben dann einen Teil unseres Gewinns wieder zurück. Das ist ein sehr faires System«, so Bermal, eine Mitarbeiterin der Kooperative. »Wir wollen auch traditionelle Techniken der Käseproduktion bewahren«, so Gulbahar, eine weitere Mitarbeiterin. »Die Nachfrage nach unserem Käse ist riesig, wir könnten noch viel mehr verkaufen.«

Linsen-Kooperative zwischen Qamilşo und Tirbespî

110 km² ehemaliges Staatsland, das nach der Revolution vergesellschaftet wurde, ist nun in der Hand von fünf Kooperativen mit insgesamt 75 Frauen. Die Kooperative, die wir besuchen, produziert Linsen, fünf Frauen arbeiten hier. Die Frauen haben investiert, bearbeiten das Land, und sie können auch über den Gewinn verfügen. Die Kooperativen wurden von Yekîtiya Star aufgebaut und sind mit dem Frauenrat verbunden.

Frauenbäckerei Serêkaniyê


In der vom Krieg zerstörten Stadt Serêkaniyê hat eine Frauenbäckerei eröffnet. Sechs Frauen produzieren etwa 600 Brote am Tag. »Nach der Befreiung haben wir dieses Projekt mithilfe des Frauenhauses (Mala Jin) aufgebaut. Der Mann, dem die Bäckerei gehört hat, war Bandenmitglied und ist in die Türkei geflohen«, erklärt eine der jungen Frauen. »Wir verkaufen von morgens 7.00 bis 10.00 Uhr. Ein Brot kostet zehn Pfund (ca. fünf Cent).« Das Geschäft gehört jetzt den Frauen selbst, sie haben es als Kooperative gegründet. »Während des Krieges haben wir viel Brot gebacken, um die Freund_innen an der Front zu unterstützen. Unsere Lage ist jetzt viel besser als unter dem Regime. Die Möglichkeiten für Frauen zu arbeiten waren zuzeiten des Regimes sehr eingeschränkt. Auch jetzt gibt es noch Beschränkungen. Die gesellschaftliche Stellung der arabischen Frauen lässt es meist nicht zu, dass sie arbeiten. Aber unsere jetzige Praxis wird mit der Zeit auch Einfluss auf sie haben«, so erklären die Bäckerinnen zuversichtlich.

Landwirtschaftskooperative Amûdê


In der Nähe von Amûdê wurde eine landwirtschaftliche Kooperative aufgebaut, die wir am Nachmittag besuchen. »Wir haben Kühe, Erdnüsse und Zwiebeln«, erklärt Medya von Yekîtiya Star in Amûdê. Das Land gehört einem Privatbesitzer, Yekîtiya Star bringt das Saatgut, der Besitzer den Diesel für die Wasserpumpen, wir setzen unsere Arbeitskraft ein. Wir versuchen eine größere Diversität an Anbauprodukten in Rojava zu erreichen und so die Abhängigkeit von Importen aufzubrechen. Momentan sind Agraringenieur_innen dabei zu untersuchen, was auf diesen Böden hier angebaut werden kann. Hier bauen wir Erdnüsse an, das ist das erste Mal, dass hier Erdnüsse angebaut werden. Das gleiche gilt auch für die Linsen. Dünger und Pestizide sind aufgrund des Embargos sehr teuer, wir hatten Glück, dass der letzte Winter sehr kalt war und daher brauchen wir dieses Jahr keine Pestizide. Pestizide und Dünger sind vier Mal teurer als zuvor.«

»Die Idee, hier Erdnüsse anzubauen, hatte Hevala Medya von Yekîtiya Star in Amûdê«, erklärt Silvan, die Vertreterin von Yekîtiya Star Cizîrê. »Yekîtiya Star hat das unterstützt. Neben den Nüssen wollen wir auch Gemüse wie Blumenkohl für den Handel anbauen. Das geht besonders im Winter von Oktober bis Dezember gut. Es gibt auch eine Olivenkooperative in Tirbespî mit 480 Bäumen. Vom Gewinn erhält 30 Prozent Yekîtiya Star und 70 Prozent die Kooperative.«

Frauenkooperative Amûdê


Eins der ambitioniertesten Projekte der Frauenbewegung wird in Amûdê aufgebaut. Frauen planen dort eine ganze Ladenzeile zu betreiben. Es gibt eine Schneidereikooperative. Die Frauenbewegung hat 21 Frauen als Schneiderinnen ausgebildet. Sie arbeiten von zu Hause aus. Die Produkte sollen später in einem der Geschäfte verkauft werden. Ein Baklavageschäft ist auch schon in Vorbereitung. (Baklavia ist ein Gebäck aus Blätterteig, mit zerhackten Walnüssen gefüllt.) »Das wird ebenfalls von Yekîtiya Star unterstützt. In einer Woche planen wir die Eröffnung», so Nesmiya. Außerdem »gibt es einen Backofen, mit dem wir Brot herstellen können, ein Käsegeschäft ist auch geplant. Wir haben das Gebäude zunächst für ein Jahr gemietet.«

An einem einzigen Tag haben wir diese und noch weitere Kooperativen besucht. Es ist klar, diese Projekte sind nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Zehntausende Frauenarbeitsplätze werden benötigt. Aber sie sind ein hoffnungsvoller Beginn. Dass Frauen Geschäfte betreiben ist etwas vollkommen Neues in Rojava. Vor der Befreiung war dies nicht vorgesehen. Rojava blieb als Rohstoffquelle und Weizenanbaugebiet für Syrien unter seinen Möglichkeiten. Arbeitsplätze gab es daher kaum. Bei der Vergabe von Beamtenstellen wurden Kurd_innen nicht geduldet. Viele Männer mussten daher außerhalb von Rojava arbeiten, Frauen blieb nur die ökonomische Abhängigkeit. Yekîtiya Star möchte noch viel mehr Frauenkooperativen ins Leben rufen und unterstützen, leider fehlt es an Geld, auch die schon bestehenden Kooperativen haben nur einen sehr begrenzten finanziellen Rahmen.

Überall fehlt es an Maschinen und anderen Investitionen. Hier ist ein großes Feld für solidarische Unterstützung. Neben den Diskussionen um die Frauenkooperativen dreht sich die Debatte um Ökonomie aus Frauensicht auch um die Anerkennung und Kommunalisierung von Reproduktionsarbeit, also der unsichtbar gemachten, unbezahlten Arbeit, welche Frauen in Familie, Haushalt, Landwirtschaft leisten. »Wir als Frauen wollen, dass begonnen mit all diesen Arbeiten im Haus, alle ›unsichtbaren‹ Arbeiten vergesellschaftet werden. Warum sollen die Frauen Waschmaschinen zuhause benutzen, warum soll es nicht eine Wäscherei für das Dorf oder das Viertel geben? Warum soll es keine Kindergärten und gemeinsame Küchen geben? Auf diese Weise soll auch die patriarchale, geschlechtliche Trennung von Arbeit in ›Männer-‹ und ›Frauenarbeit‹ aufgehoben werden.«, so Azize Aslan in einer Rede auf der »Demokratik Ekonomi Konferansi« des Demokratischen Gesellschaftskongresses (DTK) 2014 in Amed.l

Anja Flach ist Ethnologin und Mitglied des Frauenrates Rojbîn, Hamburg. Ihre letzte Veröffentlichung ist »Frauen in der kurdischen Guerilla: Motivation, Identität und Geschlechterverhältnis in der Frauenarmee der PKK« es erschien 2007.
Der hier leicht gekürzte Text erschien zuerst in dem im März 2015 erschienenen Buch »Revolution in Rojava«, rezensiert in CONTRASTE Nr. 368
Anja Flach / Ercan Ayboğa / Michael Knapp (2015): Revolution in Rojava - Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo, VSA-Verlag, 352 Seiten, 19,80 EUR
Als freies PDF zugänglich unter: www.rosalux. de/publication/41353
Die »Stiftung der freien Frau in Rojava« unterstützt u.a. die Frauen-Kooperativen (weqfajinaazad.org)
Spenden über Kurdistan Hilfe e.V.

Stichwort: Frauenstiftung in Rojava/WJAR
IBAN: DE40 2005 0550 1049 2227 04
Berichte zur Stiftung in Kampagnenzeitung des Solidaritätskomitee Münster
muenster.org/rojava und in Kurdistan Report Nr. 181: kurdistan-report.de


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