Reisebericht einer internationalen Frauen-Delegation

Die demokratische Revolution in Rojava


Während Syrien und der Irak im Bürgerkrieg versinken, findet von der Weltöffentlichkeit fast unbemerkt in Rojava, Nordsyrien, eine basisdemokratische Revolution statt. Lisa Steiniger ist im November 2014 mit einer internationalen Frauen-Delegation in die Region gereist. Heike Schiebeck hat mit ihr ein Interview geführt und dieses in einen Artikel umgearbeitet.


25 bis 30 Millionen Kurden leben über vier Länder verteilt: Türkei, Iran, Irak und Syrien. Sie bilden weltweit die größte Ethnie ohne eigenen Staat. Die PKK, Partiya Karkerên Kurdistan - Arbeiterpartei Kurdistans in der Türkei, Ende der 1970er Jahre gegründet und stark von marxistisch-leninistischer Ideologie geprägt, betrieb jahrelang einen antikolonialen Volksbefreiungskampf, um die von Kurd_innen besiedelten Gebiete zu befreien und einen eigenen kurdischen Staat zu gründen. Die PKK steht seit 2002 auf der Terrorliste der EU und ist in Deutschland seit 1993 verboten. Die PKK hat ab Anfang der 1990er Jahre intern viel über den Volksbefreiungskampf und die Idee eines eigenen Kurdenstaates diskutiert und diese Ideen aus folgenden Überlegungen schließlich verworfen: Aus vielen nationalen Befreiungskämpfen in Lateinamerika, Afrika und Asien sind chauvinistische Nationalstaaten hervorgegangen. Die Idee des Nationalstaates ist in Europa entstanden und mit den Kolonialkriegen exportiert worden. Danach haben die Kolonialherren im Nahen Osten die Grenzen gezogen, über die Köpfe der Bevölkerung hinweg. Staat ist ein Herrschaftsinstrument, ihnen geht es um die Selbstorganisierung der Bevölkerung, was wir auch als Rätedemokratie kennen. Sie nennen es demokratische Autonomie oder demokratischer Konföderalismus. Sie haben auch den Gedanken der Volksarmee fallen gelassen. Die Guerilla soll die Selbstorganisierung der Bevölkerung verteidigen und schützen. In der Türkei bauen die Kurd_innen auch demokratische Autonomie mit Selbstverwaltungsstrukturen auf und sind massiven Repressionen ausgesetzt.

In Rojava werden diese Ideen in größerem Umfang umgesetzt. Dank der PYD der Partiya Yekîtiya Demokrat, Partei der Demokratischen Union in Westkurdistan/Rojava, die 2003 gegründet wurde, der einflußreichen Schwesterpartei der PKK in Nordsyrien, werden diese Ideen inzwischen in größerem Umfang in Rojava umgesetzt - trotz der Verstrickung in einen brutalen Bürgerkrieg.

Ausgehend von Kobanê hat die Bevölkerung 2011 begonnen, sich basisdemokratisch in Räten zu organisieren. Die unterste Ebene ist die Kommune, angelehnt an die Pariser Commune, mit etwa 50 bis 150 Haushalten in Dörfern oder Stadtteilen. Dort diskutiert die Bevölkerung ihre eigenen Belange wie Schul- und Gesundheitssystem oder Wasserversorgung. Das Rätesystem geht dann hinauf bis zur Kantonsebene. Es ist kein Zufall, dass Kobanê vom IS monatelang bombardiert wurde, denn hier nahm die Revolution ihren Ausgang.

Die Schulen, in denen bisher die kurdische Sprache verboten war, wurden neu organisiert. Der Unterricht erfolgt nun in kurdischer Sprache, die Bevölkerung legt die Lerninhalte selbst fest. Das auszudiskutieren ist nicht so einfach. Neben den Schulen gibt es auch Volksakademien und Frauenakademien, in denen Geschichte unterrichtet wird und wo man das neue Gesellschaftsprojekt diskutiert: Wie wollen wir leben.



Die Rolle der Frauen

Wie kam es dazu, dass die Frauen in diesem Demokratisierungsprozess so eine wichtige Rolle spielen? Anfang der 1990er Jahre haben sich die Frauen im kurdischen Befreiungskampf eigenständig organisiert. Sie haben eine eigene Frauenarmee gegründet. Sie haben viel über die Frage diskutiert, warum sich Frauen zwar an vielen Befreiungskämpfen in der Geschichte beteiligt haben, später jedoch hauptsächlich Männer die Macht übernahmen. Sie haben daraus die Konsequenz gezogen, sich sowohl in der Guerilla, als auch im zivilen Leben in Frauenräten auf allen Ebenen zu organisieren. Zusätzlich haben sie durchgesetzt, dass es in allen Volksräten eine Geschlechterquote von 40 Prozent gibt und alle Vertretungspositionen von einem Mann und einer Frau besetzt werden, die sogenannte Doppelspitze. Die Frauenbefreiungsideologie sehen sie als eine Grundlage für eine befreite Gesellschaft. Um diese zu stärken und weiter zu entwickeln, haben sie die PAJK, Partei der freien Frauen Kurdistans, und für die gesellschaftliche Arbeit die YJA, Einheit der freien Frauen, gegründet. Dies hat es ermöglicht, dass die Frauen in Rojava jetzt so präsent sind. Ob es um Sprache geht, ums Wasser, ums neue Rechtssystem und gesellschaftliche Werte oder um Bildung, in allen Bereichen wird diskutiert, wie schaut da Frauenbefreiung aus. Die Frauenräte in Rojava haben schon einige gesetzliche Änderungen durchgebracht. Die männliche Vielfachehe und Zwangsehe sowie Heiratsversprechungen im jungen Alter sind inzwischen als ein Angriff auf Frauen und die gesellschaftlichen Werte verboten. Patriarchales Verhalten wird im Zusammenleben und in allen Strukturen grundsätzlich in Frage gestellt.



Volksbildungs-Akademien

Mit der Ausrufung der demokratischen Autonomie haben die syrischen Kurd_innen alle früheren staatlichen Strukturen außer Kraft gesetzt. Sie erarbeiten ein eigenes Rechtssystem, dessen Basis die Konsens- und Friedenskomitees sind. Diese versuchen bei Konflikten in der Nachbarschaft, Streitereien, Diebstählen oder Gewalttätigkeiten, gemeinsam Lösungen zu finden mit der Absicht, Einsicht und Respekt füreinander zu fördern. Die Konsens- und Friedenskomitees werden auf Vorschlag der Räte oder aus der Bevölkerung direkt gewählt, mit einer Geschlechterquote von 40 Prozent. Auf der nächst höheren Stufe, in den Rechts- und Frauenkomitees, werden schwerere Verbrechen wie Mord oder Vergewaltigung verhandelt. Bei Gewalt gegen Frauen sind die Frauenkomitees zuständig. Sie analysieren Fälle patriarchaler Gewalt, nicht nur physisch sondern auch, wenn ein Mann etwa seiner Frau das Geld wegnimmt. Es gibt auf jeder Stufe die Möglichkeit, Einspruch zu erheben. Darüber stehen die klassischen Gerichte, wie wir sie auch kennen.

In den Volksbildungs- und Frauen-Akademien wird Geschichte und die neue Lebensphilosophie vermittelt und die Form des neuen Rechtssystems diskutiert. Eine Guerillera hat in einem Interview geschrieben: Der Freiheitskampf besteht zu 10 Prozent im Kampf gegen den äußeren Feind, 10 Prozent macht das Überleben in den Bergen aus, 20 Prozent die Auseinandersetzung mit den männlichen Genossen und zu 60 Prozent besteht er daraus, sich aus den eigenen Abhängigkeiten zu befreien, also die Selbstveränderung. Im kurdischen Freiheitskampf hatte die Bewusstseinsbildung immer einen hohen Stellenwert, deshalb haben sie die Akademien geschaffen, das sind keine Universitäten, wie wir sie kennen. Ein freies Bewusstsein und die Selbstorganisation muss erst erlernt werden. Die Menschen lernen gleichberechtigt miteinander zu leben, zu kochen, usw. Es gibt Schulungen zur Geschichte und zu Befreiungsbewegungen in anderen Ländern. Die Frage wird diskutiert: Wie sieht ein freies Leben aus? Wie wollen wir unser Leben gestalten? Sie fühlen sich in ihrem Selbstverständnis der zapatistischen Bewegung verbunden. Akademien gibt es in allen Bereichen. Wir haben eine der Frauenakademien besucht. Frauen können sich selber vorschlagen oder vorgeschlagen werden, daran teilzunehmen. Eine Lerneinheit dauert 32 Tage. In der Akademie für das neue Rechtssystem, die wir auch besucht haben, werden die alten Gesetze durchgearbeitet und beurteilt. Was zum Unterdrückungssystem gehört hat, wird abgeschafft, etwas kann man beibehalten und einiges ist überhaupt nicht geregelt und wird neu formuliert. Hier dauern die Kurse drei Monate, dann gehen die Teilnehmer_innen sieben Monate in die Praxis, um zu überprüfen, wie sich die gesetzlichen Veränderungen auswirken. Bewähren sie sich oder ist davon etwas unsinnig? Sie bringen ihre Erfahrungen zurück in die Akademie.



Selbstverteidigung

"Wir führen fort, was Rosa Luxemburg begonnen hat," sagte gleich zu Beginn eine Frau der Frauenorganisation Yeketiya Star zu uns "Wir kämpfen nicht nur für die Kurdinnen, sondern für die ganze Menschheit, für die Befreiung aller Frauen." Unterschiedliche Ethnien, assyrische, arabische, aramäische, kurdische, unterschiedlicher Religionszugehörigkeit versuchen, friedlich zusammenzuleben und beteiligen sich in den Räten. Sie streben eine Demokratisierung ganz Syriens und in weiterer Perspektive des mittleren Ostens an.

Im Unterschied zu den Peschmergas Barzanis, die bezahlte Soldaten sind, werden die Selbstverteidigungskräfte Syrisch-Kurdistans, YPG/YPJ, von der Bevölkerung mit Essen und Kleidung versorgt, haben keine eigene Wohnung und erhalten keinen Sold. Auch alle, die Vertretungspositionen innehaben, leben in Gastfamilien und werden nicht bezahlt, damit keine Diskrepanz entsteht zwischen Repräsentant_innen und der Bevölkerung. Sie haben ein Büro, aber keine eigene Wohnung.



Besuche

Nach unseren Wünschen haben uns die Frauen ein sehr dichtes Besuchsprogramm für unseren fünftägigen Aufenthalt zusammengestellt. Zuerst haben wir das Flüchtlingslager Newroz, wo noch 5.000 bis 6.000 Flüchtlinge in Zelten leben, besucht. Damit die Flüchtlinge nicht nur herumsitzen und warten müssen, versucht die kurdische Bewegung mit ihnen auch dort den Alltag selbstverwaltet zu organisieren: gemeinsam Kochen, Lösungen für Probleme finden, Unterrichten, Infrastruktur aufbauen, um etwa eigene Kleidung zu reparieren oder neue zu nähen. Wir haben auch eine Frauenkooperative besucht, in der Frauen nähen, was in der näheren Umgebung am dringendsten gebraucht wird, das wird vorher in den Räten besprochen. Die Stromversorgung ist sehr gering, es gibt zwei Stunden Strom, danach ist der Strom für vier Stunden abgeschaltet. Strom und Wasser, sowie Handel wurden vom Assad-Regime nach der Ausrufung der demokratischen Autonomie unterbrochen. Die Region Rojava ist also völlig auf sich selbst gestellt. Die Ölvorkommen werden nur für die Region genutzt. Die Bevölkerung hat Generatoren für mehr Strom und eine neue Wasserleitung gebaut.


Mein Fazit

Ohne die Stärke der kurdischen Frauenbewegung wäre es nicht möglich gewesen, mit der demokratischen Autonomie zu beginnen. Wenn die Frauen sich nicht so stark einbringen würden, wäre die Idee des eigenen kurdischen Staates noch nicht vom Tisch. Dies war nur möglich, weil die Frauenbefreiung in alle Bereiche eingedrungen ist.


Lisa Steiniger ist Aktivistin der autonomen Frauenbewegung in Österreich und Europa. Heike Schiebeck, Longo maï - Hof Stopar in Kärnten, hat das Interview geführt und bearbeitet.

Eine erweiterte Fassung des Artikels erschien in "Archipel" Nr. 234, 02-2015


Weitere Informationen:

www.civaka-azad.org , Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, Deutschland


Literatur:

Herausgeberinnenkollektiv: "Widerstand und gelebte Utopie - Frauenguerilla, Frauenbefreiung und Demokratischer Konföderalismus in Kurdistan", Mesopotamien Verlag, Neuss 2012, 600 Seiten, 15,50 EUR


Anja Flach/Ercan Ayboğa/Michael Knapp: "Revolution in Rojava - Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo", VSA-Verlag, Hamburg März 2015, 240 Seiten, 16,80 EUR


Autonome Frauen-Lesben: "Solidarität mit der Frauenbefreiungsbewegung in Kurdistan, der Revolution der Frauen in Rojava und dem Widerstand in Kobanê", in "Proletarische Revolution", Nr. 58, Wien 2014



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