Auf den Spuren des Aufstands der Bauern des Larzac 1971-1981

 

Unterwegs zu einer Demo aus Stein

 


»Bis zur dritten Klasse ging ich in Saint-Martin-du-Larzac zur Schule. Ich lernte lesen und schreiben und ein bisschen rechnen. Nach dem Militärdienst heiratete ich. Als einziger Sohn übernahm ich den Hof meines Vaters. Ich war ein ganz normaler alteingesessener Bauer. Ich wählte rechts, ging zur Messe und war Unteroffizier der Reserve; war ein braver Mann, bis eines Tages die Armee für die Erweiterung eines Militärlagers meinen Boden konfiszieren wollte. Als die Affäre Larzac begann, war ich 26 Jahr alt und kannte mich in der Politik nicht aus. Den Mai 68 hatte ich eher ängstlich im Fernsehen verfolgt, damals hat mich das erschreckt. Später hatte ich meinen eigenen Mai 68.«


VON SEEP JAKOBS; GONTERSKIRCHEN ● So erzählt Léon Maillé zu Beginn des Films »Tous au Larzac«, wie er in seine persönliche Schule des Widerstands eintrat. Weil der französische Staat sie von ihrem Land auf dem kargen Hochplateau im Département Aveyron vertreiben wollte, taten sich dort Anfang der siebziger Jahre 103 Hofbetreiber notgedrungen zu einer gewaltlosen Kampfgemeinschaft zusammen. Diese Familien lebten vor allem davon, die Milch ihrer Schafe an die Käsereien von Roquefort zu verkaufen. Später in der Dokumentation gebraucht Maillé für einen Schafstall, den sie trotz des verhängten Bauverbotes errichteten, den Begriff »Demo aus Stein«. Das gibt einen Einblick ins Lehrprogramm dieser freien Schule.


»Tous au Larzac« – eine Dokumentation

Der Sender Arte strahlte »Tous au Larzac« von Christian Rouaud im November 2013 aus. Selten hat mich ein Film so mitgenommen: Dort die Achtlosigkeit, mit der die Staatsmacht ein militärisches Projekt auf dem Boden der nach gängigen ökonomischen Kriterien Bedeutungslosen, die »wie im Mittelalter lebten« (so damals ein Staatssekretär), durchsetzen wollte. Hier die warmen Augen und beeindruckenden Staturen von Männern und Frauen, die im Rückblick vor der Kamera über den zehnjährigen Aufstand zur Erhaltung ihrer Lebensgrundlage sprechen. Dieses Drama und sein guter Ausgang - Mitterand gewann 1981 die Präsidentschaftswahl und hielt sein Versprechen, die Erweiterung des Militärcamps auf dem Larzac zu stoppen - liegen Jahrzehnte zurück. Sichtlich gealtert sind die Bäuerinnen und Bauern, die Rouaud aktuell zu Wort kommen lässt, aber auch in damaligen Aufnahmen als junge Aktivisten zeigt. Sie stellen keine Triumphgesten zur Schau, sondern lassen spürbar werden, wie reich die Wir-Erfahrungen während des Verteidigungskampfes ihr Leben gemacht haben. Dabei nutzen sie die filmische Geschichtsschreibung nicht, um sich selbst rückwirkend zu idealisieren. Ihre ungehorsamen Aktionen, wie Traktordemos und ein Schafauftrieb unterm Eiffelturm, hatten den Larzac national und international berühmt gemacht. Viele Fremde kamen daraufhin auf das Plateau, um die Bedrohten zu unterstützen. Die Einheimischen verschweigen vor der Kamera nicht, dass sie diesem Zustrom zunächst misstrauisch und mit Vorurteilen gegenüberstanden. Um die solidarische Hilfe annehmen zu können, mussten sie ihre Meinungen über 68er-Studenten, Protestler generell, Maoisten, Love&Peace-Kommunen, nichtkatholische Religiöse ändern. Das wirkte sich förderlich auf das Weltbild, Sozialverhalten und die Gemeinschaftsbildung der Alteingesessenen aus. So erkennt der fabelhafte Léon Maillé in einer Passage als Gewinn an, dass es im Zuge der »Affäre Larzac« auch möglich wurde, die Frau eines Nachbarbauern zu umarmen.


Kamen Freunde letztes Jahr zu Besuch, durften sie nicht weg, bis sie mit mir »Tous au Larzac« angeschaut hatten. Wieder und wieder ließ ich mir den Bau des Schafstalls von La Blaquière vor Augen führen: ein Werk von Landleuten, die einer aggressiven staatlichen Herrschaft mit diesem Nutzgebäude gemeinschaftlich Widerstand leisteten, und von »Freaks«, die zu Hunderten herbeigeeilt waren, um zunächst chaotisch und ungeübt, doch im Resultat sehr beachtlich dabei Hand anzulegen. Eines Tages, als neben mir vorm Fernseher Paul saß, einer meiner Wanderfreunde, fragte ich: Eine Tour auf den Larzac, mit Stallbesichtigung in La Blaquière, Paul, wie wärs?


Auf der karstigen Hochebene

Kenntnisse der örtlichen Historie weiten beim Wandern den Blick. Doch es schadet nicht, sich mit Geographie und Geologie vorab vertraut zu machen. Was man gemeinhin abgekürzt Larzac nennt, heißt offiziell Causse du Larzac. Das französische Wort Causse lässt sich mit »karstige Hochebene« übersetzen. Landschaftsmerkmale: schwindelerregende Abgründe an den Rändern des Plateaus, obenauf Wassermangel, denn im Kalkboden versickert der Regen, oft geröllartig herumliegendes Gestein, spärliche, steppenhafte Vegetation (deshalb bevorzugt Schafhaltung), extrem dünne Besiedelung, wenig touristische Infrastruktur. Der Larzac wird zu den »Grands Causses« im Süden Frankreichs gezählt, wo man sehr lange unterwegs sein kann, ohne einem Menschen zu begegnen.

Unsere einwöchige Wandertour sollte uns von dem Dorf Massegros, nahe Sévérac-le-Château, einer Kleinstadt mit Bahnhof, südwärts hinab in die Schluchten von Tarn und Jonte, hinauf auf den Causse Noir, hinab in die Dourbieschlucht und von dort wieder hoch auf den Larzac führen. Zum Abschluss hatten wir wegen des Zuganschlusses eine Etappe nach Millau vorgesehen. Teilweise verlief unsere Route auf markierten Fernwanderwegen, häufiger auf regionalen und lokalen Pfaden. Ein Dutzend Kilometer Straßenrand war auch dabei.

In der Herberge »Gîte Evolutions«, unserem ersten Etappenziel im Dorf Peyreleau am westlichen Eingang der Jonte-Schlucht, runzelte Wirt Sylvain am Abend des 21. September 2014 die Stirn, als er hörte, wohin wir uns anderntags wenden wollten. Auf dem Causse Noir sehe es aber schlecht aus mit Unterkünften. Wir verrieten ihm, auch bereit zu sein, unter freiem Himmel zu schlafen. Da gab er uns den Tipp, dort oben stehe eine Klosterruine mit einem frei zugänglichen Wasserhahn. Da es uns an den folgenden zwei Tagen auf dem Causse Noir nicht gelang, auch nur einen Euro auszugeben, wurde uns das in der Ruine reichlich gezapfte Trinkwasser mit jedem Schritt wertvoller. Nach dem gescheiterten Versuch, in der Wanderherberge von Revens für eine Nacht unterzukommen, entschieden wir uns, bei nahender Dämmerung und einsetzendem Nieselregen ans gastfreundliche Ufer der Dourbie zu fliehen. Beim letzten Licht schafften wir es soeben noch, dort die Zeltplane über unsere beiden Wanderstöcke zu spannen, die Isomatten und Schlafsäcke darunter einzupassen und uns eine Gemüsebrühe mit abgekochtem Flusswasser zu gönnen.

Abweichungen vom Plan können ihr Gutes haben. Nachdem die kalte Dourbie uns früh wiederbelebt hatte, erkannten wir beim Morgentee über der Karte, dass die durchs Tal führende Straße nach rund sechs Kilometern eine Zivilisation mit offenen Türen erreichte. Selten hat mich Kaffeeduft so euphorisiert wie an diesem Septembermorgen, als wir im paradiesischen Nant aus dem uns treu begleitenden Regen in das anheimelnd trübe Licht der Bar traten. Paul trug ein maximal verklärtes Gesicht über die Schwelle. Es hätte mich nicht gewundert, wenn der Zauber des Moments ihn befähigt hätte, spontan eine Huldigungsode auf Französisch zu deklamieren. In der märchenhaften Bäckerei, im Office de Tourisme, im Laden der Schmuckmacherin, am Mittagstisch des Restaurants unter den Arkaden und während der folgenden Ersteigung des Plateaus hielt unsere Hochstimmung an. Die junge Frau im Touristenbüro hatte ihr Staunen über zwei deutsche Wanderer ohne Handy schnell überwunden und uns freundlich ein Zimmer im Gîte von Montredon reserviert.


Solidarischer Larzac

Wird man durch den Film »Tous au Larzac« zu einer Fußtour dorthin angeregt, gibt es vielleicht keine bessere Anlaufstelle als Montredon. Die Gewölbe-Bauweise ist typisch für die traditionelle Causse-Architektur. Im Dachgeschoss unserer Herberge waren wir unter einer solchen Kuppeldecke bestens untergebracht. Wir konnten die heutige Vitalität eines Ortes erleben, der als verlassener Weiler damals zum Spekulationsobjekt verkommen während des Larzac-Aufstands zu den besonders umstrittenen gehörte. Bauern, die gegen »la malbouffe« (schlechtes, industriell erzeugtes Essen) zu Felde ziehen, haben hier inzwischen eine Kooperative der Selbstvermarkter gegründet. Wir aßen unser Abendbrot an einem der einladenden Außentische und empfingen dabei die stereotype Botschaft des angrenzenden Militärcamps. Sie klang nach einem tumben Riesen, der an Dauerblähungen krankt.

Als ich am nächsten Morgen im Nachbarhaus die Rechnung begleichen wollte, bat mich die Herbergswirtin in ihr Büro. Ich wunderte mich über die Regalwände voller datierter Schuber. Dann sah ich den Stapel auf dem Tisch und verstand, wo ich war. Da lag die aktuelle Ausgabe von »Gardarem lo Larzac« (okzitanisch: Wir bewahren den Larzac). Rouauds Dokumentation erzählt auch, wie die Aufständischen lernten, sich mittels einer eigenen Publikation zu artikulieren. Ich stand hier im Sekretariat der Zeitung des »Larzac solidaire«. Die Frau schenkte mir ein Exemplar. Beim Abschied fragte sie mich, was unser nächstes Ziel sei. Während ich in unbeholfenem Französisch ausholte zu erklären, was uns hergeführt hatte, geschah etwas in ihrem Gesicht, das ich nicht beschreiben kann. Auf ihre leise Art antwortete sie, wenn wir wegen des Films hergekommen seien, verstehe sie sehr gut, warum es uns nach La Blaquière ziehe.


Geerdet

Den Larzac überqueren Wanderwege, die an manchen Stellen eher Gänge sind. Sie führen durch Heckenspaliere, höher als der eigene Kopf, die vor Wind und Wetter schützen. Auch dort dringt einem das Geballer aus der abgesperrten Kriegstrainingszone in die Ohren. Doch irgendwann auf diesen umwachsenen Pfaden hörten wir auf, an die nahen Geschütze zu denken. Wer die »Demo aus Stein« sucht, sollte keinen marktüblichen Wegweiser erwarten. Das Hinweisschild in La Blaquière ist sehr klein. Die Musik aus dem Film fehlte. Der Stall stand groß und stumm in seiner ganzen gemauerten Stärke da. Oben kann man in vielen Sprachen lesen: »Zu allen Zeiten waren Waffen Instrumente der Barbarei«. Durch das offene Portal betraten wir die Gewölbehalle und trafen in einem Gatter nahe am Eingang ein einzelnes Schaf an, das nicht mit seiner Herde über die Höhen streifen durfte. In einem Nebengebäude klapperte es, doch wir bekamen niemanden zu Gesicht. Keine Infotafeln, kein Museum des Widerstands mit Audioguide und Cafeteria. Doch ein paar Kilometer weiter, in Saint-Martin, gibt es eine kleine Kirche. Aus Kalkstein errichtet trotzt sie dort den Zeiten und bekennt sich in ihrem Inneren eindrucksvoller zum Stall von La Blaquière als zu dem von Bethlehem, ein Gotteshaus geerdet auf dem Larzac.


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Seep Jakobs ist regelmäßig im französischen Zentralmassiv zu Fuß unterwegs. In seinem Roman »Hergänger« (Elf Uhr Verlag, 2011) erzählt er von einem Mann, der im Berufsleben entgleist und seinen Alltag als Fernwanderer verlässt.

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