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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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Soziale Sicherung

SOZIALE GRUNDRECHTE AUSHEBELN - STRATEGIEN DER POLITISCHEN KLASSE

Die Demontage der sozialen Sicherung
- ein Angriff auf soziale Grundrechte


Zum Beispiel Aufräumen nach der Party im Altenheim: Sinnvoll und freiwillig sollen
sie sein, die Arbeitsstrafen

Der nachfolgende Artikel der Sozialwissenschaftlerin
Christa Sonnenfeld, Vorstandsmitglied des Komitees
fuer Grundrechte und Demokratie, leuchtet
schlaglichtartig aus, wie aktuell auch noch die Reste
des keynesianischen Sozialstaats sukzessive
abgeräumt werden sollen. Sie skizziert die
arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Strategien der
politischen Klasse, die sozialen Grundrechte
auszuhebeln und durch ein flexibles politisches
Armutsverwaltungs- und Zwangsmaßnahmensystem
zu ersetzen.

Christa Sonnenfeld - Nicht erst seit der bekannt gewordenen
Datenmanipulation der Bundesanstalt für Arbeit ist
der ohnehin zurückgenommene Sozialstaat unter erheblichen
Druck geraten. Schleichend und stetig wird das System der
sozialen Sicherung Bismarck'scher Prägung geschliffen.
Soziale Grundrechte werden weiter und nachhaltiger denn je
verletzt. Der "Skandal" der Bundesanstalt aber hat nachgerade
Schleusen und Schubladen geöffnet, in denen schon lange
abrufbereite Konzepte lagen, die das System sozialer
Sicherung endlich in Angriff nehmen sollten. Es scheint, als hätten politische Funktionäre und intellektuelle Zuarbeiter nur auf die Eröffnungen des Bundesrechnungshofs gewartet oder den Prozess
sogar in Gang gesetzt.

Bereits ein Jahr nach der rot-grünen Regierungsübernahme
wurde eine Steuerreform zugunsten der Unternehmen
verabschiedet (Einsparungsvolumen von ca. 20
Milliarden DM). Erst allmählich bekommen wir deren
Folgen zu spüren, so beispielsweise durch die Finanznot
der Kommunen. Hinzu kommt der Druck durch die EU-Kommission
auf die "Hochlohnländer", die Lohnnebenkosten weiter zu
senken und die Sozialleistungen zu kürzen. Dies bedeutet
nicht nur einen Angriff auf die Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, sondern Entlastung der Unternehmen. Die "Rentenreform" war in diesem Umverteilungskontext der Anfang, mit der die paritätisch finanzierte Sicherung aufgegeben wurde.

Für eine höchstmögliche Kapitalverwertung ist der Sozialstaat
schon immer ein Hindernis. Unter dieser Regierung werden all
die Planungen, sozialstaatliche Leistungen auf ein Minimum zu
reduzieren oder gänzlich einzustellen, in die Praxis
umgesetzt. Mit Widerstand ist in der Bevölkerung kaum zu rechnen, nicht zuletzt, weil eine ununterbrochene Propagandamaschinerie den BürgerInnen Grundrechtsverletzungen als schmerzliche, aber
notwendige Maßnahmen zumutet, als alternativlose Strategie,
die den Staat nicht mehr als Zwangsapparatur erkennen lässt.
Der Verfassungsrechtler Winfried Hassemer beklagte schon 1997, dass die Bereitschaft, Grundrechtspositionen aufzugeben, auch in der Bevölkerung steige. Der Staat nutze diese Haltung wiederum, um sich neue Befugnisse zu schaffen.

Die soziale Sicherung steht unter massivem Druck

Der Privatisierung der Alterssicherung, die als Reform
ausgegeben wird, folgt nun mit großen Schritten die
Zurücknahme von Leistungen der Kranken- und
Arbeitslosenversicherung. Gerade bei der letzteren wird dabei
auf unterschiedlichen Ebenen strategisch operiert, um die
Lohnnebenkosten und damit die Beitragszahlungen der
Arbeitgeber zu senken.

Über die Lohnsubventionierung, insbesondere dem
Kombilohn, werden Löhne tatsächlich gesenkt. Löhne
werden von staatlicher Seite nur befristet subventioniert.
Danach bilden sie das Niveau der "neuen" Niedriglöhne,
das 20-30% unter dem bisherigen Niedriglohntarif liegt.
Der vormalige Präsident des Deutschen Industrie- und
Handelstages, Hans Peter Stihl, wollte denn auch den
Kombilohn bereits im Jahr 1997 als "trojanisches Pferd"
verstanden wissen, da er gesellschaftliche Akzeptanzprobleme
befürchtete, wenn die Lohnnebenkosten - und damit
einhergehend die Löhne - abrupt gekürzt werden
würden. Mit der Lohnsubventionierung ist es dann - unter
Berufung auf das Lohnabstandsgebot - möglich,
auch den Regelsatz der Sozialhilfe abzusenken.

Parallel dazu geht die Bundesregierung auch bei der
Senkung der Sozialleistungen für Erwerbslose in die
Offensive. In ihrem Konzept soll die Arbeitslosenhilfe ganz
abgeschafft und ca. 1,6 Millionen BezieherInnen sollen
in die Sozialhilfe überführt werden. Die Bundesanstalt
für Arbeit hätte dann eine andere Funktion: sie verwaltet
die BezieherInnen von Arbeitslosengeld, von denen viele
erfahrungsgemäss relativ schnell wieder eine Erwerbsarbeit
finden. Darüber hinaus wird sie, da Vermittlung und
Qualifizierung so weit wie möglich privatisiert werden,
zur bloßen Ordnungsinstanz, indem sie darauf reduziert
wird, Leistungen zu verteilen oder zu sperren. In dieser
Strategie werden die grundrechtlichen Einschnitte besonders
deutlich:

Sie führt zu einer erheblichen Verarmung großer Teile der
Erwerbslosen.
Die Kontrollen von Konten, von Einkünften von Verwandten
und LebenspartnerInnen, von Wohnungen u.ä.
können auf einen weit größeren Personenkreis ausgedehnt
werden.
Der Berufsschutz ist für ArbeitslosenhilfebezieherInnen
ohnehin vollständig eliminiert, da sie unabhängig
von der erworbenen Qualifikation vermittelt werden. Bislang
aber können sie noch eine Tätigkeit ablehnen, die
unter der Höhe ihrer bezogenen Leistung liegt. Wird die
Arbeitslosenhilfe abgeschafft, gelten für sie die Regelungen
der so genannten "Gemeinnützigen Arbeit", d.h. die
Beschäftigung für 50 Cent bis 2 Euro die Stunde in Parks,
auf Friedhöfen oder bei Wohlfahrtsverbänden.

Damit einher geht der umfassende Arbeitszwang, der
zwar schon immer die Arbeitsmarktpolitik bestimmt, inzwischen
aber nie da gewesene Ausmaße erreicht hat. So
resümiert der Deutsche Städtetag, dass im Jahr 2000 im
Rahmen der "Hilfe zur Arbeit" 403.000
SozialhilfebezieherInnen bundesweit zur Arbeit verpflichtet
würden.

Auch bei den Erwerbslosen hat der Druck zugenommen.
Diese Entwicklung lässt sich an der Zunahme der
Leistungssperren erkennen. Zukünftig werden sich z.B.
durch das neue "Job-Aqtiv-Gesetz" eine Unzahl von
Möglichkeiten erschließen, Erwerbslose zu sperren, indem
neue, gesetzlich sanktionierte Hürden aufgebaut werden.
Über Jahre addiert, haben inzwischen Millionen von Menschen
derartige Maßnahmen durchlaufen, ohne dass
sich ihre Perspektive erkennbar verbessert hatte, (Spindler
1999). Es fehlen existenzsichernde Arbeitsplätze, daran kann
auch der "aktivierende Sozialstaat" kaum etwas ändern. 

Die Arbeitslosenversicherung wird demnach nicht nur
durch die Auslagerung der ArbeitslosenhilfebezieherInnen
erheblich entlastet, sondern auch durch die entfallenden
Anstrengungen der Arbeitsämter, beispielsweise sinnlose
"Qualifizierungen" und Trainingsmaßnahmen zu
erzwingen, aus denen viele Erwerbslose voraussehbar wieder
aussteigen, weil sie keine Beschäftigungswirkung zeitigen und
weil es als Demütigung empfunden wird, dass
eigene Interessen und die erworbene Qualifikation überhaupt
keine Rolle spielen. 

Auch zuvor war unübersehbar, dass die Verletzung
von Grundrechten konstitutiv sowohl im Bundessozialhilfegesetz als auch im Sozialgesetzbuch III angelegt ist. Inzwischen ist in den Planungen und "Reform"-Vorschlägen eine gewisse Unbekümmertheit zu beobachten, so z.B. wenn Roland Koch vorschlägt, dass auch BezieherInnen von Arbeitslosenhilfe "Gemeinnützige Arbeit" verrichten sollen. Wo die gegenwärtige Gesetzgebung noch
zu liberal erscheint, wird schlicht erwogen, dann eben die
Gesetze zu ändern.

Während SPD-Experten die stufenweise Annäherung
des Arbeitslosengeldes an die Sozialhilfe planen, versucht
das CDU-Modell einen Schritt weiter zu gehen Es ist an
den Entwürfen zu einer veränderten Regelung des
Krankenversicherungssystems orientiert. Eine Aufteilung in
Grund- und Wahlleistungen wird vorgeschlagen, bei der
man sich durch höhere Versicherungsbeiträge weniger
Zwang und mehr Leistungen der Arbeitsämter erkaufen
kann. In beiden Modellen wird die Arbeitslosenhilfe
abgeschafft.

Die Tendenz ist eindeutig. Die schon eingeleiteten und
die geplanten "Reformen" des Arbeitsmarktes zielen auf
ein neues Gesellschaftsmodell ab, in dem die Kosten sozialer
Sicherung zunehmend privatisiert werden. Die bloße
Armenfürsorge würde zukünftig an die Stelle sozialstaatlicher
Verpflichtung treten. Das System der sozialen
Sicherung wäre damit gekippt.

Die Notlage als Motor

Die Voraussetzungen für die allseitige Verfügbarkeit von
Erwerbsfähigen wurden in den letzten Jahren auf vielfältige
Weise geschaffen. Die Lockerung des Kündigungsschutzes, die
Abschaffung des Berufsschutzes und die Ausweitung der
Spielräume für Zeit- bzw. Leiharbeit haben
den Boden für eine allgemeine Lohnabsenkung bereitet.
Viele Menschen, die ihre Arbeit "verlieren", können
inzwischen gewiss sein, dass sie sich bei einem neuen Job
auf eine schlechtere Bezahlung einstellen müssen. Die
Nähe zu Wucherlöhnen (d.h. der Lohn beträgt höchstens
2/3 des regional gezahlten Durchschnittslohns) wird immer
häufiger erreicht, weil selbst die Arbeitsämter in Stellen
vermitteln, die sittenwidrig unterhalb dieses
Durchschnittsniveaus entlohnt werden. 

Auch die ohnehin geringen Sozialleistungen geraten
unter Druck, nicht nur durch die oben aufgeführten Planungen
zur Kürzung des Arbeitslosengeldes und zur Abschaffung der
Arbeitslosenhilfe. Auch die Sozialhilfe
selbst wird in Angriff genommen. Bislang noch müssen
Sozialleistungen und so genannte "Einmalige Beihilfen"
individuell nach dem tatsächlichen Bedarf ausgezahlt werden,
wobei die Praxis der Kommunen und einzelner
SachbearbeiterInnen z.T. stark differiert. Verweigerung oder
Kürzung von Leistungen sind an der Tagesordnung und
beschäftigen seit Jahren Sozialgerichte. Jetzt
aber schreiben die gegenwärtig laufenden Modellprojekte in
einzelnen Kommunen die Pauschalierung von Miete, Heizung u.a.
fest, die die realen Kosten nicht mehr abdeckt, wie erste
Ergebnisse in Kassel zeigen. Damit wird
das Sozialhilfeniveau schleichend abgesenkt. Für die
Kommunen führt dies zwar zu Einsparungen, für die Betroffenen
allerdings bedeutet es drohende Obdachlosigkeit. 

Besonders in Ostdeutschland toben anarchische Zustände auf
dem Arbeitsmarkt, wenn es um die Verteilung
der wenigen Arbeitsplätze geht. Die Situation für die
Menschen dort ist sowohl materiell als auch sozial weitaus
widersprüchlicher und prekärer. Aufgrund der für die DDR
konstitutiven Erwerbszentrierung hat Lohnarbeit eine
sehr starke soziale und psychische Dimension, sie war
eingebunden in soziale Kontakte, Freizeit und Sinnstiftung.
Diese historisch gewachsenen psychosozialen Verhältnisse
werden häufig schamlos ausgebeutet durch sinnlose,
entwürdigende Dauerzuweisungen in Trainingsmaßnahmen und
ABM-Stellen, manchmal unterbrochen durch
befristete Jobs mit Gehältern, die nur noch als Lohndumping
bezeichnet werden können und ein Leben in Würde
- trotz Arbeit - nicht mehr zulassen. Diese Entwicklung
breitet sich sukzessive auch im Westen aus und bestimmt
zunehmend die Lebensrealität. Sozialleistungen, die
auch ohne die geplanten Kürzungen nicht oder kaum
zum Leben reichen, gepaart mit extensiv praktiziertem
Arbeitszwang bereiten den Boden für eine Lohnstruktur,
wie sie noch vor einigen Jahren kaum vorstellbar war. Mit
staatlichen "Mobilitätshilfen" wird die absurde Situation
geschaffen, dass vor allem jüngere Erwerbsfähige Regionen
Ostdeutschlands verlassen, um im Westen nach
Arbeit zu suchen. Gefördert wird auf diese Weise die
schleichende Verödung von Kommunen und Landstrichen, so
als habe man sie aufgegeben.

Ideologische Geschütze

Die Voraussetzung dafür, diese Praxis durchzusetzen und
Akzeptanz in der Bevölkerung herzustellen, besteht in der
unentwegten, propagandistischen Offensive. Die organisierte
Verantwortungslosigkeit und der Weg in den "autoritären
Staat" (Ralf Dahrendorf 2000) sind nur durchsetzbar, wenn die
bürgerliche Mitte sich als Profiteure der Gesellschaftsordnung wahrnimmt und Wege findet, sich von der Armutsbevölkerung abzugrenzen. Dazu gehört eine Apparatur, die Meinungen formt und Begriffe entweder als antiquiert entwertet oder sie inhaltlich neu besetzt. Redewendungen und Begriffe wie "mehr Eigenverantwortung" (die in Wahrheit die Verlagerung der sozialen Aufwendungen nach
unten meint) oder "Fördern und Fordern" (womit real der Ausbau des Arbeitszwangs intendiert ist) sind täglich zu vernehmende eingängige
Worthülsen, die man inzwischen selbst von Menschen hören
kann, die ansonsten eigentlich eine kritische Perspektive
gegenüber der umfassenden Ökonomisierung des Sozialen haben.
Politische Entscheidungen und der vorgelagerte diskursive
Prozess der Entscheidungsfindung werden zunehmend aus dem
Parlament an die Justiz (zunehmend an das Bundesverfassungsgericht) ausgelagert oder dem dumpfen Feld der manipulativen Steuerung
überlassen. Ein Beispiel dazu: Am Abend des Beginns der
amerikanischen Bombenangriffe auf Afghanistan ging
es in einer Talkrunde des Fernsehens u.a. um die Frage,
ob ein Einsatz der Bundeswehr nach innen vom Parlament
beschlossen werden sollte. Dabei erregte sich Guido
Westerwelle (FDP): "Wir können der Bevölkerung keine
gruppendynamische Veranstaltung liefern, wenn Gefahr
im Verzug ist" (ZDF, 7.10.2001). 

Die Sprache ist verräterisch und zugleich verschleiernd. So
werden nach offiziellem Sprachgebrauch die einschneidenden
Umbaumaßnahmen auf dem Arbeitsmarkt damit begründet, dass
dadurch mehr "Gerechtigkeit" entstünde. Die Grundsatzdebatte
der SPD-Führung im Jahr 1999 hatte mit dieser Umwertung von Begriffen rasch begonnen. Danach muss man den Eindruck gewinnen, dass Bedingungen dann als gerecht gelten, wenn sich alle BezieherInnen sozialer Leistungen materiell auf dem untersten Niveau einpendeln. "Gerechtigkeit" bedeutet in deren Neubestimmung zwar Gleichheit in der Verteilung und Zuweisung von Lebenschancen, sei aber
im Grunde nicht einlösbar und nicht erwünscht.
Ungerechtigkeit als Stimulans, als Möglichkeit der
Entfaltung, damit der Wohlstand für alle gesichert werden kann. Es
wird ein Gerechtigkeitsbegriff entworfen, wonach ja alle
am Wettbewerb teilhaben können, und da gibt es eben Gewinner
und Verlierer.

Ohnehin schlägt sich diese Umwertung im Prinzip des
"Fördern und Fordern" nieder, nämlich soziale Leistungen nur
noch bei Pflichterfüllung zukommen zu lassen.
Das klingt gerecht und nach gesundem Menschenverstand,
ignoriert aber, dass soziale Grundrechte nicht an
Wohlverhalten gebunden sind.

Überhaupt hat die Erwerbszentrierung ein derartiges
Ausmaß erreicht, dass der Begriff der "Sozialpolitik" sich
in den der "Arbeitsmarktpolitik" aufgelöst hat. Im Zentrum
steht der Mensch mit seiner allseitigen Verwertbarkeit und
Verfügbarkeit auf dem Arbeitsmarkt.

Soziale Grundrechte erstreiten

In der BRD ist die inhaltliche Füllung des Bürgerstatus
relativ schwach, aber das hat gleichwohl Gründe. Die
Begründer des Grundgesetzes hatten eine politische Teilhabe
bewusst nicht intendiert, um der Bevölkerung nicht zu
viel Macht zu kommen zu lassen (Maus 1999). Dies führte u.a.
auch dazu, dass sogar die durchscheinende
Demokratieverachtung der politischen Eliten mehr oder weniger
als alternativloses Geschick - allenfalls leise murrend - bis
heute hingenommen wird. Umso mehr muss
ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass sich das
Wesen einer freien Gesellschaft mit forcierter Armut und
repressiven Strategien nicht vereinbaren lässt
(Narr/Roth/Vack 2000). Im kapitalistisches (Welt-)system ist
zwar das sozialstaatliche Modell mit seinen Versprechen
von Freiheitsrechten und Absicherungen von Lebensrisiken
ohnehin bloß fiktiv. Dennoch kann eine Diskussion
über den Anspruch an soziale und politische Grundrechte die
wachsende Ungleichheit zum öffentlichen Gegenstand machen,
den Zwang zu irgendeiner Arbeit, und sei
sie noch so sinnlos und schlecht bezahlt, ins öffentliche
Bewusstsein rücken und die Einhaltung von Freiheitsrechten
reklamieren. In einer solchen Debatte müsste es
auch um die zunehmend autoritäre Politik gehen, die
sich auf diesen Ebenen intensiviert. Hier ist nichts von
einem Rückzug des Nationalstaates zu verspüren. Der
repressive Staat wird gebraucht, um den sozialen Frieden
zu sichern und um Ansprüche der Bedürftigen abzuweisen.

Blickt man in die Erklärung der Menschenrechte von
1948, dann mutet diese wie ein revolutionäres Manifest
an. Dort sind soziale Grundrechte, wie z.B. das Recht auf
freie Berufswahl, auf soziale Sicherheit, auf gleichen
Lohn für gleiche Arbeit u.a. verankert. Davon sind wir
weit entfernt. Besonders in der Medienöffentlichkeit würde
eine derartige Proklamierung eher als Naivität diffamiert
werden, die die modernen Anforderungen ignoriere.

Dabei trägt bei uns das Sozialgesetzbuch I dem
Sozialstaatsgebot Rechnung, indem es die Verpflichtung
formuliert, "ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche
Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit,
insbesondere auch für junge Menschen zu schaffen,
... den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte
Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des
Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder
auszugleichen". Der Einsatz für soziale
Grundrechte ist vor diesem Hintergrund sowohl über die
Erklärung der Menschenrechte, als auch über die spezifisch
deutsche Fassung argumentativ zu begründen,
auch wenn ökonomische Verwertungsinteressen machtvoll dagegen
agieren und staatliche Repräsentanten uns
weismachen wollen, dass der Bezug sozialer Leistungen
immer auch zwingend mit der Verletzung von Grund- und
Freiheitsrechten einhergehen müsse.

Die Frage bleibt, wie ein kritisches, produktives Verhältnis
zu diesen Entwicklungen hergestellt werden
kann. Eine Idealisierung des Sozialstaats der 70er und
80er Jahre ist eine Verkennung der Realität.
Reanimierungsversuche vernachlässigen nämlich, dass weder
soziale Rechte in Gestalt einer aktiven politischen Teilhabe
noch eine menschenwürdige Existenzsicherung gegeben
waren, da die Vergabe von Sozialleistungen immer mit
Zwang und Disziplinierung verknüpft war. Die Bürokratisierung
der Daseinsvorsorge war ebenso virulent wie die
Ungleichheit der Lebenschancen. Bedürftigkeit bedeutete
immer, bürokratischer Repression ausgesetzt zu sein.

Zum zweiten war das System der sozialen Sicherung
Bismarck'scher Prägung immer erwerbszentriert. Die
Weigerung, eine Stelle anzutreten, war deshalb immer
auch mit der Androhung und Durchsetzung des Leistungsentzugs
gekoppelt, wenn auch im alten Arbeitsförderungsgesetz die
Interessen der Erwerbslosen und ihr
Schutz vor "unterwertiger" Beschäftigung zumindest
Bestandteil der Gesetze waren. 

Weder die Rückkehr zum Sozialstaat der 70er und
80er Jahre, noch die Forderung nach dem Erhalt der sozialen
Sicherung wird uns angesichts des Umstands, dass
es immer weniger existenzsichernde Arbeitsplätze gibt, einem
menschenwürdigen Dasein näher bringen, das eine
Sicherung auch ohne Lohnarbeit ermöglicht. Gleichzeitig muss
aber bedacht werden, dass die Abkehr von der
klassischen sozialen Sicherung bedeuten wurde, dass wir
soziale Rechte dann weder reklamieren noch einklagen
können und mehr oder weniger auf die Mildtätigkeit von
Wohlfahrtsorganisationen und Unternehmensstiftungen
zurückgeworfen sein würden. 

Ein bedingungsloses, ausreichendes Grundeinkommen würde nicht
auf dem Beitragsmodell fußen können, das der jetzigen sozialen Sicherung wesentlich zugrunde liegt. Und es muss begleitet sein von sozialen Grundrechten. Dieser Weg wird uns sicherlich nicht geebnet werden, wir müssen ihn uns erstreiten.

Literatur:
Spindler, Helga in: bag arbeit (Hrsg.), Arbeit statt Stütze?
Ein Streitgespräch, Köln 2000

Dahrendorf, Ralf, Die globale Klasse und die neue
Ungleichheit, in: Merkur 11/2000

Maus, Ingeborg, Menschenrechte als Ermächtigungsnormen
internationaler Politik, in: Brunkhorst, Hauke
et.al., Recht auf Menschenrechte, Frankfurt/M. 1999

Narr, Wolf-Dieter/Roth, Roland/Vack, Klaus, Politische
Korruption - korrupte Politik - am Beispiel: "System Kohl",
Köln 2000

 

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Copyright © 1999 CONTRASTE Monatszeitung für Selbstorganisation
Stand: 07. August 2008