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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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Los gehts! 2004

Gruppengründungstreffen in Waltershausen

 

Los gehts 2004

Uli Barth, Kommune Niederkaufungen

Über Pfingsten fand in der Kommune Waltershausen bei Gotha das vierte Los geht’s Treffen mit 250 TeilnehmerInnen statt. Beim ersten Los geht’s, 1999, gründete sich die Gruppe, die dieses Jahr Gastgeberin war. Die Kommune KOWA aus Waltershausen hat zusammen mit der Villa Lokomuna aus Kassel und der Kommune Niederkaufungen das diesjährige Treffen vorbereitet.

Acht bestehende Kommunen waren beim Treffen vertreten und haben in den zentralen Einheiten zu den Themen Ökonomie, soziales Miteinander und Entscheidungsfindung und in unzähligen Gesprächen zwischendurch, ihre Erfahrungen eingebracht.

Wie in den Vorjahren war auch diesmal die Motivation der TeilnhmerInnen unterschiedlich. Leute die bereits eine Gruppe haben und neue Mitglieder oder Anregungen suchen, Menschen, die auf der konkreten Suchen nach Gleichgesinnten für eine neue Gruppe sind und Menschen die ganz allgemein in einer Suchphase stecken. Das Konzept des Gruppengründungstreffens hat in diesem Jahr den Fokus auf die Gründung neuer Gruppen gelegt und ist damit bewusst das Risiko eingegangen, nicht allen TeilnehmerInnen gerecht werden zu können. Am Ende des Treffens haben sich drei neue Gruppen vorgestellt, die so konkret miteinander geworden sind, dass ein neues Treffen vereinbart wurde, Grundlinien der Gemeinsamkeit in den Bereichen Ökonomie, soziales Miteinander und Entscheidungsfindung, geklärt, und eine gemeinsame Wunschregion definiert wurde. Insofern scheint das Konzept aufgegangen zu sein, zumal es Rückmeldungen gab, dass auch die, die aus den Erfahrungen bestehender Gruppen lernen wollten, auf ihre Kosten gekommen sind.

Beim Markt der Möglichkeiten stellten sich 25 neue Projekte(-ideen) vor. Mir kam bei vielen Vorstellungen die gesellschaftliche Dimension zu kurz, häufig fehlt sie völlig. Das heile Gruppenleben und die Sehnsucht nach guten, offenen Beziehungen ist vielfach dominant. So stieß das von den VeranstalterInnen zentral gesetzte Thema Ökonomie auch bei einigen TeilnehmerInnen auf Kritik. In der realen Gesellschaft, der mensch mit Distanz begegnet, wird die Bedeutung des Satzes, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, immer spürbarer. Eine Reaktion darauf scheint zu sein, dies in den Zukunftsträumen umso mehr auszublenden. Aber nicht nur an dieser Stelle wird deutlich, wie wichtig eine Begegnung zwischen Menschen mit Praxiserfahrung und den Menschen, die in einer Planungsphase stecken, sein kann. Vielleicht kann viel Frust erspart bleiben, wenn mensch weiß, dass auch andere nicht in der Lage waren all ihre Ideale zu realisieren. Für einen Neuanfang braucht es Träume, es lohnt sich Energie in ihre Realisation zu stecken. Es wäre aber schade, wenn nach der Erfahrung der eigenen Grenzen und dem Erlebnis der Begrenztheit der Mitmenschen gleich das gesamte Vorhaben scheitern würde, ohne das Erreichte würdigen zu können und ohne die Möglichkeit zu sehen auch unterhalb der Perfektion Entwicklungsschritte gehen zu können.

Am Freitagabend konnten sich, nach dem thematischen Schwerpunkt Ökonomie, 2/3 der TeilnehmerInnen dazu bekennen, dass sie in ihrem Projekt eine gemeinsame Ökonomie wollen.

Am Samstag war das soziale Miteinander der Schwerpunkt. Die TeilnehmerInnen lernten insbesondere Methoden kennen, die hilfreich sein können. Das Begleitheft für das Treffen, das alle bei der Anmeldung erhalten haben, stellte bereits Methoden vor (Zukunftswerkstatt, radikale Therapie, Forum, Forumstheater, gewaltfreie Kommunikation, Fishbowl, Innenkreis/Außenkreis, Stuhlreihe, Brainstorming, Blitzlicht). Es bestand die Möglichkeit mehr über diese Methoden zu erfahren und sie auch auszuprobieren.

Der dritte Schwerpunkt lag auf der Entscheidungsfindung. Im Vordergrund stand Theorie und Praxis der Konsensentscheidung. Wie auch an den Vortagen trafen sich Kleingruppen zusammen mit einer ModeratorIn, die einen Input geben konnte. Die Gruppenzusammenstellung baute während des gesamten Treffens auf den bereits stattgefundenen Kennenlernprozessen auf, sodass die Möglichkeit bestand Schritt für Schritt die Gemeinsamkeiten in der Gruppe zu vergrößern bzw. die Gruppe zu wechseln, wenn an einzelnen Punkten die Unterschiedlichkeiten deutlich wurden. Nachmittags trafen sich die Gruppen, um einerseits offene Themen zu behandeln und andererseits die Frage zu beantworten, wie geht’s weiter. Die TeilnehmerInnen, die statt einer Neugründung eher den Einstieg in eine bestehende Gruppe planten, trafen sich mit dieser und bekamen das weitere Verfahren zum Kennenlernen vorgestellt.

Nach den Erfahrungen mit dem Los geht´s Treffen in den Jahren 1999, 2000, 2001 und 2004 wird es in 2005 wieder eine Veranstaltung geben, die Gruppengründungen unterstützen will, ob mit gleichem Schwerpunkt oder anderem Konzept muss sich noch zeigen und hängt natürlich von der Vorbereitungsgruppe für 2005 ab. Die VorbereiterInnen des diesjährigen Treffens werden sich zum größten Teil wieder engagieren, freuen sich aber auch auf Leute, die mitmachen wollen.

Ab Samstagabend wurde das Treffen von einem Konflikt überschattet. TeilnehmerInnen mit eigenen Missbrauchserfahrungen und viele andere TeilnehmerInnen stießen sich daran, dass sich eine Gruppe vorstellte, die auf Nachfrage sexuelle Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen nicht eindeutig ablehnte. Diese Gruppe wurde von einigen TeilnehmerInnen und einigen aus dem Kreis der Vorbereitungsgruppe aufgefordert ihre Infomaterialien zu entfernen, auf dem Los geht´s sollte solchen Gruppen keine Möglichkeit geboten werden sich vorzustellen. Nach einem Gespräch kam die Gruppe der Aufforderung ihr Material abzuhängen nach. Beim Abschlussplenum wurden die Ereignisse kurz vorgestellt, weil eine Verheimlichung eines solchen Ereignisses dem Anspruch der Veranstaltung nicht gerecht geworden wäre. Der Versuch eine für alle Beteiligten korrekte Darstellung zu finden misslang, vielleicht wäre dies auch gar nicht möglich gewesen. Das Ansinnen das Thema nicht zu hoch zu kochen scheiterte. Der Vorschlag das Thema erst am Montag in einer Kleingruppe zu behandeln wurde nicht akzeptiert, eine großen Gruppe traf sich noch am Sonntagabend, um die Ereignisse zu besprechen. Wobei die BefürworterInnen der Ausgrenzung kaum vertreten waren und ihre Entscheidung erst am Montag erläutern wollten.

Neben der Frage nach dem Umgang mit Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen, stand auch die Frage zur Diskussion, wer ist bei diesem Treffen berechtigt, Infomaterial entfernen zu lassen, kann das eine willkürliche Gruppe, die VorbereiterInnen, die VeranstalterInnen, die Haus"herrInnen" oder nur das Plenum.

In solchen Situationen gelingt es in aller Regel nicht, die Themen zu trennen und so wurde auch am Montagvormittag über beide Aspekte geredet, was es nicht gerade einfacher machte. Für mich war die Diskussion ein echter Höhepunkt des Treffens, im positiven Sinn. Es war so nicht geplant und es ist völlig unstrittig im Vorfeld vieles falsch gelaufen. Aber es ist gelungen über fast drei Stunden mit teilweise 90 TeilnehmerInnen über so ein schweres Thema zu diskutieren, vor dem Hintergrund eigener Missbrauchserfahrungen bei einigen TeilnehmerInnen. Natürlich hatte die Diskussion kein gemeinsames Ergebnis, aber ich hatte sehr deutlich das Gefühl, dass viele von dem Gespräch zutiefst beeindruckt waren und viel gelernt haben.

Ein wichtiges Ergebnis der Diskussion für mich ist, dass Missbrauch sich natürlich nicht an einer Altersgrenze fest macht, da in der Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen Abhängigkeits- und Hierarchieverhältnisse immer eine große Rolle spielen und solange keine besseren Kriterien gefunden werden, ist das Festhalten an einer Altersgrenze der praktikabelste Weg dem Missbrauch etwas entgegen zu setzen.

Auch bei dieser Diskussion ist mir der gesellschaftliche Aspekt wieder etwas zu kurz gekommen. Das persönliche Streben nach einer besseren Welt reicht nicht aus, weil in der gesellschaftlichen Realität sexueller Missbrauch von Kindern an der Tagesordnung ist. Selbst wenn ich mit meiner Gruppe die bessere Welt bereits perfekt leben könnte, kann mensch das nicht ausblenden. Sich selbst eine bessere Welt bauen zu wollen ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse zu beachten, ist an dieser Stelle nicht nur unpolitisch, es ist ein großes Problem.

(Kontakt: uli.barth@gmx.de)

 

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Stand: 07. August 2008