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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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Interview

Schenken Sie uns reinen Wein ein, Herr Pieroth!

Wie es der Berliner Wirtschaftssenator mit den Alternativen hält

Die aufmerksamen Leser werden es schon bemerkt haben. Das Thema des Sommers - die Weinpanscherei - wurde bisher von CONTRÄSTE nicht aufgegriffen. Doch was sollten wir auch berichten? Probleme der selbstverwalteten Weindealer im Zuge der Affäre, einen ökologischen Winzer interviewen oder gleich eine Vertriebsorganisation für ökologische Weine initiieren, samt Qualitätskontrolle. Kurzum: ein schwieriges Thema, das wir vorerst nicht angehen werden.

Anstelle dessen haben wir einen Weinexperten befragt, der inzwischen an anderer Stelle eine wichtige Funktion hat: den Berliner Wirtschaftssenator Pieroth. Er wurde auch nicht zum Weinskandal befragt, sondern zum Thema Selbstverwaltung und Alternativökonomie. Dabei erinnert das, was er uns sagte, durchaus an süßlichen Wein - er verhehlt nicht seine Sympathie für "alternative" Unternehmer und zeigt ernsthaftes Interesse, "diese Initiativen zu fördern". Ob dieser Wein nun auch tatsächlich so gut ist oder ob er doch gepanscht ist mit Ausgrenzungs- und Integrationsstrategien, das muß erst noch untersucht werden.

Das Interview führten Marlene und Michael von STATTwerke

CONTRASTE: Der Alternativsektor ist in den letzten Jahren kräftig gewachsen. Im Bundesgebiet wird die Zahl der selbstverwalteten Betriebe auf 4.000 geschätzt. die Zahl der dort geschaffenen Arbeitsplätze beträgt etwa 24.000. In Berlin - dem Mekka der Alternativen - gibt es rund 300 selbstverwaltete Betriebe mit ungefähr 2.000 Arbeitsplätzen. Wie schätzen Sie die beschäftigungspolitische Bedeutung dieses Sektors ein? Welche Entwicklungschancen räumen Sie den Alternativen ein?

Pieroth: (.) Wenn sich Menschen zusammentun, um gemeinsam eine Firma zu gründen, dann ist das eigentlich das menschlichere Vorgehen, als wenn das nur einer macht und sich seine Leute irgendwo anheuert. Deshalb setze ich gerade für die nächsten Jahre - mit wachsender Gewöhnung an eine post-industrielle Gesellschaft auf mehr Mitbeteiligung vieler, mit wachsendem Erkennen, daß man die wenigsten Probleme hierarchisch lösen kann, doch darauf, daß dieser Gedankengang sich in den verschiedensten Formen, z.B. auch wie hier im alternativen Sektor, sich ausdehnen wird.

CONTRASTE: Selbstverwaltete Betriebe haben erhebliche Finanzierungsprobleme (wegen Eigenkapitalmangel und fehlender persönlicher Kreditwürdigkeit) - ein Phänomen, was man auch bei vielen Kleinbetrieben traditioneller Art findet. Beabsichtigen Sie, selbstverwaltete Betriebe mit in die Wirtschafts- und Förderpolitik einzubeziehen, um dieses Finanzproblem zu lindern und wenn, welche Maßnahmen halten Sie für geeignet?

Pieroth: Alle Betriebe sind — wenn die Kriterien stimmen — in die Fördermaßnahmen mit einbezogen. Wir machen da keinen Unterschied zwischen selbstverwalteten Betrieben und solchen, die durch einen Unternehmer klassischer Prägung geführt werden. (.) Die Unterstützungsmöglichkeiten des Landes Berlin stehen zur Verfugung. Aber es gibt auch neue Hilfen. So, wie ich mit Interesse verfolge, was an Öko-Bank-Gründung und ähnlichen Einrichtungen erfolgt, so ist das gar nicht soweit weg davon, was in den letzten Jahren in Berlin angelaufen ist. Nämlich, daß sich Menschen (.) als sogenannte Venture-Capitalisten beteiligen, an Unternehmen, die einfach zu wenig Eigenkapital aufweisen können. Und nicht alle sind in der Lage, langsam, mühselig ihr Eigenkapital zu verdienen. (.) Manche müssen zu rasch zu Eigenkapital kommen. Das kann man nicht schenken, aber man kann es von solchen bankähnlichen Gruppierungen heute in Berlin viel leichter bekommen. Und ich bin sicher, da wird sich in den nächsten zwei, drei Jahren noch manches öffnen.

CONTRASTE: In Österreich wurde durch entsprechende Gesetze die Möglichkeit geschaffen, zur Kapitalisierung des Arbeitslosengeldes, d.h. Gründungswillige können ihr Arbeitslosengeld von einem Jahr im voraus abziehen und sich damit an einem Unternahmen beteiligen. Halten Sie das für eine geeignete Strategie?

Pieroth: Als Politiker unterstütze ich solche Gedankengänge - hoffentlich werden sie Aktivitäten. Die Gegenmeinung ist die, daß man Menschen nicht in ihr Verderben treiben soll, dadurch, daß sie auf ihre Arbeitslosengeldzahlungen für ein Jahr verzichten. Wenn sie in den ersten Monaten nach Geschäftsbeginn pleite machen würden, sie nicht nur pleite sind, sondern auch ihrer Arbeitslosenunterstützung verlustig gegangen sein werden.

Ich würde aber das Risiko schon in Kauf nehmen, denn wer derart mit seinem Geld haftet, seinem Arbeitslosengeld, der rechnet im allgemeinen viel vernünftiger als mancher Großunternehmer. Ich glaube nicht, daß es dort allzu viele Ausfälle geben wird. (.)

CONTRASTE: Können Sie sich vorstellen, daß Merkmale selbstverwalteter Betriebe, wie Kooperativität, lokale Orientierung oder ökologische Verträglichkeit der Produkte in eine wirtschaftspolitische Konzeption mit einfließen könnten?

Pieroth: Die ökologische Orientierung muß in das wirtschaftliche Handeln viel stärker einbezogen werden. Wir können die Umwelt nicht zum Null-Tarif haben, also müssen wir sie marktfähig machen. (.) Wir könnten ja den Unternehmer dazu zwingen, Beiträge abzuführen, in dem Maße, wie er die Umwelt belastet (Und warum tun Sie es nicht?, der Setzer) und die Beiträge gehen dann zurück in dem Maße, wie er durch bessere Produktionsmethoden oder durch Filtereinbau die Umwelt weniger belastet. Dann wird es marktwirtschaftlich. Dann hat er abzuwägen, was kostet mich mehr? (.) Das ökologische Prinzip muß sowieso in jedweder Wirtschaftsfonn miteinbezogen werden. (.) Da kann man wirklich Anleihen machen. Hier sage ich: ja, das ökologische Element muß noch mehr vom alternativen Bereich auf den klassischen Bereich übertragen werden.

In dem Kollektivprinzip, was Sie nannten, sehe ich keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen einem alternativen Wirtschaftsunternehmen und klassischen Wirtschaftsunternehmen. Eine Aktiengesellschaft ist schließlich in hohem Maße ein kollektives Organ. Ich weiß schon, worauf Sie hinaus wollen: die kollektive Führung. (.)

CONTRASTE: Es geht mir bei dieser Frage auch nicht um die kollektive Führung, sondern um das kooperative Verhalten der Betriebe untereinander. Kooperation statt Konkurrenz!

Pieroth: Ja, aber irgendwo haben Sie auch Konkurrenz bei jeder Kooperation. Sie werden nicht eine Weltverflechtung erzielen, daß die ganze Weltwirtschaft nur noch eine Kooperation ist. (.)

CONTRASTE: Unser Anspruch ist es nicht, die ganze Welt in ein kooperatives Geflecht zu verwandeln. Wir fangen ja im Stadtteil an. Bei den Betrieben, die sich im Stadtteil gut kennen. Gemeint ist, daß diese Betriebe anfangen zu kooperieren, gemeinsam Initiativen starten usw.

Pieroth: Das begrüße ich sehr, zumal — ohne Ihnen etwas nehmen zu wollen - das ja nicht ganz neu ist. (.) Das Aufkommen der arbeitsteiligen Industriegesellschaft hat den Eindruck erweckt, daß jeder des anderen Konkurrent sei. In Wirklichkeit sind soviel tagtäglicher Kooperation vom Zulieferer zum Abnehmer entstanden, daß man es gerade an einem Platz, wie Berlin ruhig nennen und ausbauen sollte. Hier das große Gestaltungsfeld für kleinere und mittlere Unternehmen. Wenn Sie einen Schuß mehr Kooperation, in unser wirtschaftspolitisches Denken bringen, dann ist das nur gut so.

CONTRASTE: Ein Projekt in dieser Richtung waren die "Strategien für Kreuzberg" (Auftragsprojekt der Senatsverwaltungen Stadtentwicklung und Umweltschutz sowie Wirtschaft und Verkehr). Wird es weitere Überlegungen, weitere Initiativen aus Ihrem Haus dazu geben?

Pieroth: (.) Ich sehe da eine große Gestaltungsmöglichkeit, gerade um neue Arbeitsformen zu entwickeln. Wir dürfen nicht meinen, die Industriegesellschaft würde so, wie sie heute konstruiert ist, die Beschäftigungsprobleme lösen. Wir werden auch neue Beschäftigungsformen bis hin zu Möglichkeiten, die nichtbezahlte Erwerbsarbeit im klassischen Sinne sind, erkennen müssen und gerade bei einem Platz wie Kreuzberg, müssen wir neue Beschäftigungsformen finden, weil die Allgemeinlage dort eben fruchtbarer ist als anderswo. Also, ich komme sehr bald auf die Strategien für Kreuzberg zurück.

Die Politik des Wirtschaftssenates wird mit alternativen Gedankengängen so kombiniert, daß ich auch nicht die alternative Wirtschaftsstrategie vereinnahmen möchte. Man wundert sich nur, wie ökonomische Funktionen letztlich auch vergleichbar werden, wenn man sie auf ihren wahren Kern zurückführt. (.)

CONTRASTE: Zum Phänomen der Belegschaftsbetriebe: Können Sie sich vorstellen, spezielle Unterstützungsmaßnahmen für solche Art von Unternehmen zu entwickeln und anzubieten?

Pieroth: (.) Firmen, die Schwierigkeiten haben, werden im Rahmen der Berliner Förderinstrumente unterstützt. Auf der anderen Seite verabschiedet die Bundesregierung gerade in diesen Tagen einen Gesetzesentwurf, mit dem die Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand (.) erleichtert wird. Aber weil ich dafür bin, daß eines Tages alle Deutschen an ihrem oder anderen Unternehmen beteiligt sind, bin ich dagegen, zwei unabhängig voneinander gute Gedanken - fälschlich - zu verbinden. Ich bin dagegen, daß die Beteiligung der Arbeitnehmer dann plötzlich interessant wird, wenn ein Unternehmen in Schwierigkeiten kommt. (.) Der Gedanke ist mir zu wichtig, als ihn solchen schwierigen Entwicklungen auszusetzen. (.) Ich rate dringend davon ab, die Mitarbeiterbeteiligung einzuführen, wenn das Unternehmen dem Konkurs nahe ist. Dann lieber mit klassischen Mitteln helfen, und mit der Auflage, daß der Unternehmer, wenn er aus der Gefahrenzone raus ist, dann die Mitarbeiter beteiligt.

CONTRASTE: Es geht aber nicht nur um Kapitalbeteiligung, sondern auch um Beteiligung an unternehmerischen Entscheidungen.

Pieroth: Ein Gedanke, der auch unabhängig von der Gewinn- und Kapitalbeteiligung zu sehen ist. Die Mitbestimmung der Mitarbeiter im Unternehmen ergibt sich nicht allein nur aus der Kapitalbeteiligung, sondern durch die Arbeitsbeteiligung. Gut geführte Unternehmen praktizieren das auch, auch wenn Ihnen die Porm, in der es praktiziert wird, als letzte Form kapitalistischer Ausbeutung erscheinen mag. Aber es ist nicht so sehr Ausbeutung, wie es aussieht. (.) Es darf nicht dazu führen, daß die einen, die eine Kapitalbeteiligung ablehnen, sagen, sie machen ja schon Mitbestimmung - warum denn noch Kapitalbeteiligung? Und umgekehrt darf auch nicht gesagt werden, Mitbestimmung darf erst mit der Kapitalbeteiligung beginnen.

CONTRASTE: Es gibt noch erhebliche Wissens- und Erfahrungsdefizite im Bereich "kooperativer Unternehmen". Welchen Stellenwert räumen Sie der Beratung, Weiterbildung und Forschung auf diesem Gebiet ein?

Pieroth: Von der Forschung halte ich nicht soviel, weil da zu viel unternehmerischer Elan verloren geht. Ich halte sehr viel von dem Weitergeben von Erfahrungen, wenn Sie wollen: Beratung. (.) Es bleibt aber eine Frage, die Ihnen kein Berater abnehmen kann. Das unternehmerische Gestalten ist offensichtlich für den, der es kann, recht einfach, für viele schwerer als es von außen zu sein scheint. (.) Und da ist die beste Art Erfahrung zu sammeln, Fehler zu machen und davon zu lernen. Aber die Fehler in möglichst kleinen Portionen zu nehmen, so daß man nicht zu viel dabei draufzahlt. Letztlich kann Ihnen das keiner ersparen. Aber die Fehler so anzulegen, daß sie nicht zu groß werden, kann ein Stück Beratung sein.(.)

 

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Copyright © 1999 CONTRASTE Monatszeitung für Selbstorganisation
Stand: 08. Juni 2011