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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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Hierarchie & Qualifikation

Mein Größenwahn und ich

Im Folgenden ein Standpunkt zur Diskussion "Hierarchie und Qualifikation" auf den Wintertagen 1985.

Um das Thema einzugrenzen: ich beschränke mich auf Kollektive mit einem typischen Werdegang, wie ich ihn bisher (ausschließlich) kennengelernt habe. Ausgangspunkt ist meist eine Gruppe, die die Arbeitstrennung aufheben möchte, das innerbetriebliche Rotationssystem einführt; die einen gleichmäßigen Annteil jedes Mitglieds am Produktionsvermögen und damit an allen wesentlichen Geschäftsentscheidungen fordert - bis hin zum Konsensprinzip.

Bei diesen Voraussetzungen sind drei typische Entwicklungen zu beachten:

1. Obwohl zunächst die Qualifikation sehr ähnlich ist und eine konkrete Arbeitsteilung nicht zwingend, hebt meistens eine Person (männl. !?) ab und es entsteht eine versteckte Hierarchie in zwei, manchmal drei Stufen.

2. Eines der wichtigsten Überlebensregulative im Betrieb ist der Lohn und die Arbeitszeit. Ab einer bestimmten Größe des Betriebes (Umsatz) und einem gewissen Alter entsteht oft ein Drang zur Arbeitsteilung, die die gewünschte Professionalisierung fördert. Dabei liegt dies noch im Entscheidungsbereich der Gruppe. (Merke: es kommt der Tag, da reicht der Idealismus nicht mehr für 1000,- DM im Monat mit regelmäßiger Verspätung).

3. In Abhängigkeit von der Branche kann der Markt zur arbeitsteiligen Produktion zwingen, verbunden mit erheblichen Qualifikationsunterschieden. Ein Nischendasein läßt sich irgendwie nicht mehr durchhalten - die Gruppe wird gezwungen, sich einer scharfen Konkurrenz zu steIlen. Ich kenne in meinem Infokreis kaum ein Kollektiv, das diese Grenze überschritten hat. In der Regel wird - wenn es zu diesem Punkt kommt - das Projekt aufgelöst, eine neue Marktnische gesucht oder versucht, mit "Solidaritätsaufträgen" zu überleben. Ich kenne z.B. (eine Töpferei, die einfach weil sie einen Haufen Leute zu ernähren hat und weil der Kunstmarkt nichts mehr hergibt, sich auf Zweimark-fünfzig-Tassen spezialisiert hat. Denn einerseits verlangt ein solcher Schritt in der Regel enorme Investitionen (und Verpflichtungen) und andererseits führt er zu Arbeitsformen, bei denen den meisten Kollektivisten vor Grauen erst mal die Haare zu Berge stehen - Schicht, Fließband, Trennung von Ankauf, Planung, Produktion, Kontrolle und Verkauf usw.

Nun liegt natürlich genau hier der Knackpunkt, wenn es an die Diskussion um Modellcharakter oder Übertragbarkeit kollektiver Betriebsstrukturen geht. Aber auf diesen möglicherweise tragischen Schlußpunkt eines vielversprechenden Kollektivs möchte ich nachher noch mal kommen. Zunächst zu den beiden ersten Möglichkeiten, die wohl jeder schon mal kennengelernt hat.

Ich gehe davon aus, daß diese Probleme zwar nur im gesellschaftlichen Kontext zu erklären sind, für uns aber ausschließlich auf individueller Ebene angepackt werden können. In der Praxis läuft's ja auch meist so. Es gibt eine ganze Reihe von Ursachen, weshalb bei gleicher Ausgangslage eine oder mehrere Personen plötzlich einen Informations- und in der Folge einen Qualifikationsvorsprung haben. Sofort hat deren Entscheidung mehr Gewicht, sie treten selbstbewußter auf, werden häufiger am Telefon verlangt usw .

Manch einer hat das von Anfang an auch vor - vielleicht nicht bewußt, aber es gibt eben Leute, die überhaupt erst dann zufrieden sind, wenn ohne sie nichts mehr läuft. Andere stecken einfach mehr von dem Engagement in's Kollektiv, das die Kollegen noch für ihr Privatdasein beanspruchen. Das jeweilige Gegenstück gibts auch - Schaffis, die nicht auf die Hufe kommen und sich hinterher über ihren mangelnden Durchblick beschweren. Und natürlich jede Menge Fälle dazwischen.

Dummerweise lassen sich solche Prozesse kaum verhindern, weil den "Abhebern" zunächst eigentlich nichts vorzuwerfen ist. Sie tun halt mehr, hängen sich mehr an die Maschine, haben ein paar mal hintereinander gute Job's reingeholt oder sind - wenn auch von falscher - so doch von Kundenseite gelobt worden. Ist das was Schlimmes?

Schlimmstenfalls wird am Ende die so entstandene Führerschaft als ganz angenehm empfunden, der ernannte "Chef" bekommt etwas mehr Lohn (hat ja auch mehr Spesen, oder?), usw. usw.

Bestenfalls jedoch endet all das mit einer kleinen Palastrevolution - die Auseinandersetzung wird schnell persönlich und das Corpus conflicti macht sich beleidigt selbständig" .

Ähnlich persönlich wird die Diskussion im zweiten Fall enden, den ich von meinem Kollektiv (Ingenieure) kenne. Wir würden möglicherweise mehr verdienen oder weniger arbeiten, wenn wir stärker arbeitsteilig vorgehen. Alles in einer Hand ist zwar befriedigend, aber auch sehr zeitraubend. Macht der erreichte Umsatz mehr Arbeit bei der Steuererklärung als nötig, stellt sich ja auch die Frage, ob wir das alles nicht lieber einem Fachmenschen übergeben. Die Kontroverse begann an der Frage, ob wir einen Zeichner einstellen oder nicht. Die eine Seite vertrat dabei, daß es eine gesellschaftliche Berufshierarchie gibt - ganz egal was wir davon halten - und daß in dieser der Zeichner dem Ingenieur untergeordnet ist. Darüber hinaus sei der Zeichner mangels Qualifikation von bestimmten Entscheidungen ausgeschlossen. Dagegen setze ich: 1. Was hilft diese Argumentation dem Zeichner und seiner eigenen Berufsperspektive. 2. Wie weit habe ich diese gegebene Berufshierarchie für mich übernommen? Diese Frage muß ich mir stellen denn sie wird sicher mein Verhalten als Ingenieur dem Zeichner gegenüber bestimmen. Und 3. Was mache ich eigentlich zur Grundlage meiner gesellschaftlichen Entscheidungen? Jedes Argument muß ernstgenommen werden, wenn ich die Person, die dahinter steht ernstnehme. Ist bei der Frage nach der Anschaffung eines Computers das dagegengehaltene Argument, das Ding würde ständig entnervend rumpiepen, ein unqualifiziertes und damit unwichtiges? Ich denke nein - denn natürlich verlangt der Anspruch der Gleichstellung aller Leute im Betrieb auch das Eingehen auf Argumente und Ansprüche von anderer Seite - und zwar nicht nur mildelächelnd.

Summa summarum mündet der Konflikt in der Frage, wieweit ich selbst in der Lage bin, die aufgestellten Ansprüche zu leben. Und er wird, einmal aufgetreten, auf genau der Ebene beackert. Das soll natürlich nicht heißen, daß wir die Arbeitsteilung ruhig einführen können, solange sich alle mögen. Natürlich möchte ich etwas über die an meine Tätigkeit angrenzenden Arbeiten wissen und einmal im Betrieb rotieren. Aber ich werde dies immer an meiner persönlichen Aufnahmekapazität messen und nicht an einem übergeordneten Rotationsanspruch.

Noch mal zurück zu den Grenzen der Lösungsmöglichkeiten. Eine solche persönliche Auseinandersetzung ist ab einer bestimmten Betriebsgröße nicht oder kaum noch möglich (z.B. die TAZ).

Oder der Betrieb hat sich der Konkurrenz gestellt und verschiedene Abteilungen bzw. reale Arbeitsteilung eingeführt. Dann ist die persönlich orientierte Diskussion nicht mehr hinreichend. Die gegebenen Beispiele zeigen, daß sich innerhalb eines Betriebes daraufhin ausreichend kleine Untergruppen bilden, in denen die beschriebene Form der Auseinandersetzung wieder möglich wird. Hierarchie-Konflikte laufen in der Folge zwischen diesen Gruppen ab und sind auf dieser angehobenen und viel öffentlicheren Ebene kaum noch lösbar, solange dort Leute hocken, die den verschiedenen - jeweils für sich unverzichtbaren Tätigkeiten einen unterschiedlich hohen Wert beimessen.

 

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Stand: 06. Mai 2008