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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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Eugenik

Neue Eugenik:

Humangenetische Beratung

Der bundesweite Zusammenschluß der Krüppel- und Behinderteninitiativen beschäftigte sich auf seinem letzten Treffen im Herbst mit dem Thema „Humangenetische Beratung". In der Diskussion wurde sehr bald klar, daß die humangenetische Beratung dazu beiträgt, Behinderung als etwas Negatives zu bewerten, das es unter allen Umständen zu verhindern gilt. Das gesellschaftliche Verhältnis zu uns Behinderten/Krüppeln wird sich in den nächsten Jahren bestimmt dahingehend wandeln, daß wir noch stärker an den Idealvorstellungen eines gesunden, schönen, leistungsfähigen Menschen gemessen werden, deren „Produktion" die Humangenetiker und Mediziner sich für die Zukunft zur Aufgabe gestellt haben.

Einen Überblick über die Auseinandersetzung mit der humangenetischen Beratung soll folgender Beitrag geben:

Von Anneliese Mayer Seit einiger Zeit setzen sich die verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen mit einer neuen Technologie auseinander. Es vergeht kaum ein Tag, an dem sich die Medien nicht mit neuen Erkenntnissen dieser Wissenschaft zu Wort melden. Ihr „großer Nutzen" für die Landwirtschaft (vor allem in der Dritten Welt) und für den medizinischen Bereich (Stichwort: Insulinbehandlung) wird ständig von den Forschern betont. Auch für die Anwendung in einem möglichen Kriegsfall werden derzeit immer wieder neue Versuche an Bakterien unternommen, die zur Vernichtung ganzer Pflanzenkulturen bestimmt sind. Die Rede ist hier von der Gentechnik.

Auch die Linken — und hier besonders die Frauen — diskutieren dieses Thema. Im April dieses Jahres fand in Bonn der Kongreß „Frauen gegen Gen-und Reproduktionstechnik" statt, an dem über 1.700 Frauen teilnahmen. Dieser Kongreß hatte zur Folge, daß sich in den verschiedensten Städten Arbeitsgruppen bildeten und einzelne Veranstaltungen zur Gentechnik durchgeführt wurden. Im Gegensatz zu den Wissenschaftlern und Politikern sehen die Frauen eine große Gefahr in diesen Bereichen der Molekularbiologie. Sie erteilen zum großen Teil der Gen- und Reproduktionstechnik eine deutliche Absage (vgl. Resolution des Kongresses „Frauen gegen Gen- und Reproduktionstechnik").

Nur in einem Punkt lassen die Frauen ihre kompromißlose Haltung gegenüber der Gentechnik fallen. Sobald sich die Diskussion auf die humangenetische Beratungsstellen ausweitet, ändert sich die Einstellung. Aus einer politischen Sichtweite der Thematik geht frau/man über zu einer individualistischen, ohne zu erkennen, daß hier bereits auf eine Schiene abgefahren wird, die eugenische Züge ausweist und Leben in ,,wert" und ,,unwert" einteilt.

Pränatale Diagnostik

In der Bundesrepublik dürfte es ca. 60 Humangenetische Beratungsstellen geben. (Die Zahl ist sicher zu niedrig geschätzt, da in den letzten Jahren viele hinzukamen. 1977 lag ihre Anzahl bei 41.) Diese bedienen sich verschiedener Methoden, um Erbkrankheiten oder Mißbildungen an den Ungeborenen zu diagnostizieren. Mittels Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese) kann durch eine Chromosomenanalyse festgestellt werden, ob der vier Monate alte Fötus genetische Schädigungen aufweist. (In Indien werden weibliche Föten abgetrieben, nachdem durch eine Fruchtwasserentnahme ihr Geschlecht bestimmt werden kann.) Eine weitere Methode zur Feststellung von Mißbildungen an den Föten ist die Ultraschalldiagnose. Werden Anormalitäten erkannt, wird der Schwangeren in den meisten Fällen zur Abtreibung nach der eugenischen Indikation geraten.

Aber die Humangenetischen Institute sehen ihre Aufgabe nicht nur in der vorgeburtlichen Untersuchung. Sie werden bereits im Vorfeld einer Schwangerschaft aktiv. Immer häufiger werden sie von Frauen (und ihren Partnern) aufgesucht, um sich über die Risiken einer Schwangerschaft und erblichen „Belastungen“ aufklären zu lassen. Dazu werden von den Humangenetikern Stammbäume erstellt. Ihre Großzügigkeit bei der Feststellung von erblichen Schädigungen hat hier besonders die Hamburger Humangenetikerin Dr. Stoeckenius unter Beweis gestellt. Mit Diagnosen wie „Eltern: sehr einfach", „Vetter: Dauerstudent", „Bruder: Alkoholiker", „Großmutter: überspannt" usw. versuchte sie nachzuweisen, daß ihre Klientinnen „erbkrank" und deshalb von einer Fortpflanzung auszuschließen seien. Sie drängte bei einigen zu einer Sterilisation.

Verhinderung von sozialen Auffälligkeiten

Hier sollte es zumindest klar werden, daß es nicht allein körperliche und geistige Auffälligkeiten sind, die durch die Humangenetischen Beratungsstellen verhindert werden sollen. Auch soziale Abweichungen werden vermehrt genetisch erklärt.

Ein ganz wichtiger Aspekt der hier meines Erachtens nicht ausgeklammert werden darf, sind die Schäden, die durch die Industrie, vor allem der chemischen, verursacht werden. Immer häufiger kommt es zu Unfällen - sie müssen nicht immer Dimensionen wie in Seveso annehmen —, die zu Vergiftungen der Luft und des Bodens führen. Die Auswirkungen dieser rücksichtslosen Profitgier und Wachstumsgläubigkeit auf Kosten der Umweltzerstörung bekommen auch Schwangere zu spüren. Sehr oft lassen sich Mißbildungen bei dem Kind erkennen. Aber kein Unternehmer und Konzernbesitzer fühlt sich veranlaßt, etwas gegen diese massive Form der Körperverletzung zu unternehmen, geschweige denn die Rechtsprechung. Der Umweltschutz hat darin zu bestehen, daß die Frau ihr geschädigtes Kind abtreibt oder - wenn sie es auf die Welt bringt — gefälligst selbst versorgt.

Volkswirtschaftliche Erwägungen

Daß wir in Zeiten leben, in denen die staatlichen Ausgaben im Sozialbereich drastisch eingeschränkt werden, dürfte wohl niemandem verborgen geblieben sein. So verwundert es nicht, wenn sich auch noch Leute finden, die sich zusätzlich Gedanken zu volkswirtschaftlichen Einsparungen machen, daß deren Ideen aufgegriffen und belohnt werden. Nicht übersehen werden kann dabei aber auch, daß eine Aufteilung vorgenommen wird, in Kosten bzw. Investitionen, die auch einen Erfolg erwarten lassen und solchen, die keinen ,,Nutzen für die Allgemeinheit" haben. Deshalb werden auch Kosten-Nutzen-Analysen aufgestellt.

Besonders bekannt geworden ist die Arbeit eines Freiherrn von Stackelberg, die auch vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung mit dem (bezeichnenden) „Gesundheitsökonomiepreis 1981" ausgezeichnet wurde. Der Titel der Arbeit lautet: ,,Probleme der Erfolgskontrolle präventiv-medizinischer Programme, dargestellt am Beispiel einer Effektivitäts- und Effizienzanalyse genetischer Beratung". Stackelberg kommt bei seinen Berechnungen zu dem Ergebnis, daß die Einrichtung von Humangenetischen Instituten für die Volkswirtschaft um ein erhebliches billiger kommt, als die lebenslange Versorgung von behinderten Menschen, deren Existenz für die Gemeinschaft eine große Belastung, auch psychischer Art darstellt. Der Tenor geht dahin, daß behinderte Menschen unzumutbar sind und deshalb unbedingt verhindert werden müssen.

In gleicher Weise argumentiert der Leiter des Instituts für Humangenetik in Marburg, Prof. G. G. Wendt. Auch er stellt Kosten-Nutzen-Berechnungen an und kommt zu dem Ergebnis: „Die gegenwärtige Situation eines Menschen, der sich mit wachsendem Eifer bemüht, das Wasser aus einem Keller zu schöpfen, der aber überhaupt nicht daran denkt, zugleich die defekte Wasserleitung, so gut das geht, zu verstopfen. Aus dieser defekten Wasserleitung kommt der tägliche Zustrom an Kindern, die mit einer Behinderung geboren werden." Im Dritten Reich fand ein Psychiater eine ähnliche Formulierung. Er nannte es „die Quelle verstopfen, aus der all dies fließt."

Die freie Entscheidung

In der Diskussion über die pränatale Diagnostik habe ich sehr oft von den Frauen das Argument gehört, sie könnten durch eine Humangenetische Beratung selbst entscheiden, ob sie ein behindertes Kind wollen oder nicht bzw. während der Schwangerschaft könnten sie ein behindertes Kind verhindern, während sie auf eine spätere Behinderung, etwa durch einen Unfall, keinen Einfluß nehmen könnten. Hier werden zwei Aspekte deutlich:

Zum einen werden sich nur sehr wenige Frauen für ein behindertes Kind entscheiden. Behindert zu sein heißt in unserer bestehenden Gesellschaft, ausgesondert zu sein, bemitleidet zu werden, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu sein. Es bedeutet ein zäher Kampf um finanzielle Unterstützung und soziale Rechte. Eltern behinderter Kinder stehen oft alleine da mit ihrem Versuch, ihr Kind vor einer Nichtaussonderung zu bewahren. Durch das Kind sind sie stigmatisiert.

Eine freie Entscheidung der Frau kann hier nicht stattfinden. Das hieße für mich auf jeden Fall, daß sich der Frau gleichwertige Alternativen stellen. Dies ist aber nicht der Fall. Behinderung ist aber in erster Linie ein gesellschaftliches Problem. Deshalb darf die Lösung nicht die Abwertung und Verhinderung von Behinderung sein, sondern der Einsatz für die Schaffung einer Gesellschaft, in der Krüppel gleichgerecht sind.

Der andere Gesichtspunkt ist der Glaube der Frau, alles in der Hand zu haben. Stellt sich nun heraus, daß dem nicht so ist, stellen sich Schuldgefühle ein. Und da die Frau ja die Verantwortung für ein behindertes Kind hat, muß sie sich dann auch allein um es kümmern. Mit Schuldzuweisungen lassen sich sehr gut gesellschaftliche Verpflichtungen auf die einzelnen abwälzen. Diese Methode wird in naher Zukunft häufiger angewandt werden, je mehr die pränatalen Diagnostik-Beratungsstellen an Bedeutung gewinnen. Die schwangere Frau hat ja gewußt, daß das Kind mißbildet auf die Welt kommen würde, sie hatte ja abtreiben können, aber so....

Anneliese Mayer ist Sozialpolitische Koordinatorin des Behindertenbereichs bei der AG SPAK

Wer sich näher für das Thema interessiert, dem sei ein sehr gutes Buch empfohlen: Udo Sierck/Nati Radtke: „Die Wohltätermafia". Vom Erbgesundheitsgericht zur Humangenetischen Beratung. Zu bestellen bei: Udo Sierck, Borselstr. 15, 2000 Hamburg 50

* Eugenik= Erbpflege, Förderung des Erbgutes

Thesen zur humangenetischen Beratung: 

In Hamburg entzündete sich die Diskussion um genetische Beratung an Veröffentlichungen, die die Arbeit der Beraterin Dr. Stoeckenius ihrer Mitarbeiter(in) in der Beratungsstelle Barmbek beleuchteten. Bekannt gewordene Sterilisationsempfehlungen ließen eine fachliche Kompetenz erscheinen, über die auch Fachkollegen (heimlich) den Kopf schütteln. Aber einmal abgesehen davon, daß Dr. Stoeckenius noch heute beraten darf, ist die Diskussion um die genetische Beratung nicht auf die Frage der fachlichen Kompetenz zu beschränken. Dazu einige Anmerkungen: - Dr. Stoeckenius ist kein abwegiger Sonderfall. Die Grundlagen ihrer Tätigkeit mit der Aufgabe, bestimmte Nachkommen zu verhindern, beinhalten fließende Grenzen.

- Die Humangenetik ist die Fortsetzung der sozial- und rassehygienischen Utopien der NS-Eugeniker von der kerngesunden Familie und einem leistungsfähigen Volk. Das läßt sich sowohl in der personellen Besetzung als auch in den theoretischen Aufsätzen der bundesdeutschen genetischen Institute nachlesen.

- Das Akzeptieren genetischer Beratung funktioniert, weil mit der Verhinderung von Leiden - und Leid wird mit „Behinderung" gleichgesetzt - geworben wird. Diese Denkstruktur - Vermeiden von „Behinderten" bzw. ,,Auffälligen" durch Abschaffung solcher Menschen - enthält im historischen Zusammenhang brisante Perspektiven.

- Genetische Beratung fördert die Diskriminierung und Stigmatisierung „behinderter" Menschen. Der Vorwurf, im Grunde „nicht rechtzeitig erkannt worden zu sein", wird bei bekannten behindertenfeindlichen Einstellungen nicht ausbleiben und die Kinder und auch die Eltern (psychisch) zusätzlich belasten.

- Die intensive Unterstützung der genetischen Beratung seitens der Behindertenverbände, der Gesundheitsbehörde, Medizinern oder anderen Institutionen der Fürsorge ist zunächst so zu erklären, daß es allgemein in der Behindertenbetreuung um die Linderung bzw. Angleichung an das „Normale" von „Behinderung" geht. Dieser unreflektierte Ansatz und das oftmalige Scheitern vor dem selbst gesteckten Ziel äußert sich letztlich im Wunsch nach der generellen Verhinderung.

- Andererseits dient die verbreitete Furcht vor ,,Behinderung" nur als Argumentationshilfe für genetische Beratung. Weitere Merkmate können bei dem verbreiteten Mitte) oder Denken - Ungewöhnliches pathologisch zu nennen - folgen (Schwule, Alkoholiker, Kriminelle usw. erwähnen Genetiker in der BRD). Die Grenzen sind fließend.

- Mit dem Verweis auf „Behinderung" werden die eigentlichen Gründe für den forcierten Ausbau genetischer Beratung verdeckt. Humangenetiker erwähnen in Fachkreisen folgende Faktoren:

Geburtenrückgang in deutschen Familien, deren Kinder daher unbedingt „gesund" sein müssen;
Kosten-Nutzen-Analysen, die umfassende genetische Beratung gegen Kosten der Behindertenbetreuung aufrechnen;
Gewinn für Volkseinkommen durch Freiwerden der Arbeitskraft von Pfleger/innen;
medizinischer Fortschritt verhindert zunehmend die natürliche Selektion, die schleichende Degeneration wird befürchtet;
genetische Beratung soll die Folgen der Umweltschäden auffangen.

- Damit individualisiert genetische Beratung das gesellschaftliche Problem der chemischen, radioaktiven usw. Verseuchung der Umwelt, aber auch der Arbeitsplätze.

- Genetische Beratung basiert auf der und forciert die Erfassung persönlicher Daten. Eine zentrale Registrierung ist z.T. vorhanden und wird per EDV-Technik umfassend angestrebt.

- Die Erkenntnisse der Humangenetiker fließen in die Forschung und Verwertung der Gentechnik ein und bestimmen den Weg zum Retortenmenschen. Die freiwillige genetische Beratung ist ein Vorspiel zur späteren allgemeinen Kontrolle von erlaubten Schwangerschaften und somit über die Entscheidungsfreiheit der Frauen.

Die bundesdeutschen Humangenetiker sind nicht unabhängig. Zumindest die Kapazitäten werden finanziell und materiell von Konzernen (Hoechst, Nestle, Milupa ...) gesponsert.

 

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Copyright © 1999 CONTRASTE Monatszeitung für Selbstorganisation
Stand: 28. April 2010