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Das letzte Wort der Wanderratte

Das letzte Wort der Wanderratte

Die nachfolgende Geschichte stammt aus dem Buch "Das letzte Wort der Wanderratte" von Rafik Schami und ist im Neuen Malik Verlag erschienen. Wir danken dem Neuen Malik Verlag, besonders Thies Ziemke, für die Abdruckerlaubnis.

... Die Stunde des Abschieds naht. Eure Anwesenheit vertreibt meine Angst und erfüllt mich mit Trauer. Ich weiß erst jetzt, welch einen Verlust ich auf mich nahm, als ich beschloß, eure Gemeinschaft zu verlassen. Mein Leben lang habe ich den Tod überlistet, und wenn ich ihn jetzt aufsuche, tue ich es, um die Sicherheit für meine Gemeinschaft zu erkaufen. Überall liegt die Nahrung so reichhaltig wie noch nie, und doch riecht sie verdächtig nach Jasmin. Der Hunger treibt uns zu ihr, doch die Angst hält uns zurück. Meine Absicht ist, die Grenze zwischen unserer Vermutung und der Gewißheit zu durchbrechen.

Ich werde diese Nahrung kosten, und wenn ich sterbe, meidet bitte alles, was nach Jasmin riecht, vermehrt euch und erzählt unermüdlich euren Kindeskindern: nicht alles, was nach Jasmin duftet, ist die begehrte Blüte. Der Tod lauert auch hinter manchem angenehmen Geruch.

Ihr werdet euch schon gefragt haben, warum ich euch zu mir gerufen habe. Ich schaue in diesem Augenblick dem Tod ins Auge und habe vor nichts in der Welt Angst. Mein Wunsch, euch das zu erzählen, bevor ich euch verlasse, ließ mich nicht mehr einschlafen. Er brannte immer stärker in meiner Brust. Behaltet ihn als mein letztes Geschenk in eurem guten Gedächtnis.

Keiner von euch hat mich je gefragt, woher ich komme. Das ist das schönste in unserer Gemeinschaft. Nicht die Herkunft ist wichtig, sondern das Dasein. Heute will ich es euch aber erzahlen: Meine Eltern lebten in Ägypten. Mein Vater starb sehr früh, und meine Mutter war immer sehr ängstlich. Jahrelang regnete es kaum. Die Dürre hat uns und die Menschen gequält. Wir hörten aber, daß im Hafen einige Menschen Mais und Reis horteten. Das ist eine Sitte bei den Menschen. Immer wenn die einen hungern, horten die anderen die Nahrung. Ich wollte, wie viele junge Ratten, zum Hafen laufen. Meine Mutter heulte vor Angst. Der Hafen, sagte sie, verschluckt die jungen Ratten, und der Dämon der Schiffe verzaubert sie, daß sie den Weg vergessen. Aber ich verließ unser kleines Haus im Nildelta und eilte mit einigen Freunden zum Hafen. Ich hatte, ehrlich gesagt, keine Angst. Mein Magen knurrte lauter als eine Katze. Wie sollte ich da vor Dämonen Angst haben. Einige Freunde blieben am Ufer, einige schlichen mit mir in eines der Schiffe. Im großen Laderaum, wo es genug zu essen gab, traf ich ein wunderschönes Weib, und wir verbrachten einige zärtliche Stunden miteinander. Meine Freunde und ich debattierten lange, ob wir auf dem Schiff bleiben oder ans Ufer zurückkehren sollten. Plötzlich donnerte es, und ein fürchterliches Geheul versetzte mich und meine Freunde in Angst. Sofort dachten wir an den Dämon und rannten schnell hinaus, um ans Ufer zu flüchten, aber das Schiff war bereits auf See.

Na schön, sagte ich zu mir, woanders wirst du auch leben können. Wie ihr wißt, ist die Welt die Heimat der Ratten, nur die Menschen werden durch Stacheldrähte getrennt und ausgesiedelt. Über fünf Tage lebte ich im Bauch des Schiffes. Es gab genug Mais, Weizen und Zwiebeln, aber, ich werde es nie vergessen, alles schmeckte ziemlich salzig, als tränkten die Bauern Ägyptens ihre Felder mit ihren Tränen.

Ob auf den Feldern oder in den Kellern der Häuser, überall fand ich Freunde! Welch eine Bereicherung war das für mich, unter und mit euch zu leben. Reich ist unsere Gemeinschaft an Erfahrung der vielen Rattenvölker, die sie bilden. Die Sparsamkeit der Wüstenratten paart sich mit der Großzügigkeit der Weidenbewohner. Wir genießen gerne und hungern nie. Die Erfahrung der Brüder aus dem Norden, mit der sie jede Kälte überleben können, vermischt sich mit den Erfahrungen der Brüder aus dem Süden, wo die Hitze manchmal tödlich wird. Wir sind jedem Wetter gewachsen. Das ist unsere Stärke So nah beieinander und doch so verschieden.

Seht euch unsere Brüder und Schwestern, die Laborratten an. Seitdem sie in die Hände der Menschen gefallen sind, macht sie der Mensch blaß wie der Schnee und pfercht sie in Käfige. Seitdem reden sie nicht mehr miteinander. Sie haben einander nichts mehr zu sagen,weil sie nur noch Spiegelbilder ihrer selbst sind. Sie leben nicht. Sie warten auf den Tod. Sie schlafen nach Uhren, essen und trinken nach Uhren und bekommen Spritzen nach Uhren.

Einst schlich ich vom Garten durch ein offenes Fenster ins Labor. An die hundert Schwestern und Brüder piepsten erbärmlich in einem eisernen Käfig. Ich kochte vor Wut und vergaß meinen Hunger. Stundenlang dauerte mein Kampf mit dem Riegel, bis ich die Tür aufmachen konnte. Verschwitzt rief ich ihnen zu, sie sollten sich beeilen. Denkt ihr, sie hätten sich gefreut, wie eine der Unsrigen, der aus der Falle geholfen wurde und die die Schmerzen eines blutenden Beines im freudigen Jubel unserer Gemeinschaft vergißt? Sie schauten mich nur mit stumpfen, roten Augen an. Und was nun? Rennt doch weg. Die schöne Nacht im Wald wartet auf euch. Die hellen Sterne erleuchten euch den Weg. Und wer wird uns das Frühstück bringen? fragten die einen. Habt ihr Uhren? wollten die anderen wissen. Ich erklärte ihnen, daß die Freiheit besser schmeckt als alle Uhren der Welt. Aber der Mensch hat ihren Geist vergiftet und in ihre Herzen unsichtbare Riegel gepflanzt, die keine Ratte dieser Welt mehr zertrümmern kann. Sie verstanden meine Worte nicht und lachten über meine Freiheit. Ja, einige fingen sogar an, sich lustig über mein verdrecktes Fell zu machen, und sagten mir, lieber blieben sie im Käfig und behielten dafür ihr samtweiches Fell, das ihnen der Mensch geschenkt habe. Was für ein Wahnsinn! Keine Ratte dächte im Traum daran, hochnäsig zu werden, nur weil sie ein rötliches oder braunes Fell hat. Anders der Mensch. Wenn ein Mensch nichts anderes findet, um seine Nase in den Wind zu stecken, schaut er seinen Bruder verächtlich an und ruft mit aufgeblasenen Wangen: Euch Südländern werden wir zeigen, wer Herr im Haus ist. Ja, ihr kichert mit Recht, denn der Mensch ist dumm. Wir werden nur klüger, wenn wir seine Dummheiten vermeiden. Der Mensch hat ein schlechtes Gedächtnis. Er lernt nicht aus seiner Geschichte. Für uns Ratten ist die Vergangenheit die Mutter unserer Gegenwart, die Geschichte ist die Quelle unserer Weisheit. ...

...Der Mensch hält sich für das klügste Wesen aller Zeiten. Sein Hochmut ist grenzenlos. Wenn ein Wesen addieren und multiplizieren, aber nicht sehen kann, daß sein Zuhause zugrunde geht, dann ist dieses Wesen ein Rechenidiot. Wer hat die Flüsse in Kloaken, die Städte in Müllhalden und die Meere in verseuchte Todesfallen verwandelt? Das sind weder die Ameisen noch die Möwen. Wir nicht, meine Lieben. Wir nicht! Vielleicht hat die Mutter Natur eine Weisheit darin gesehen, ein solch gewalttätiges Wesen mit etwas weniger Verstand auszurüsten, denn wenn der Mensch klüger wäre, könnte keine Ratte überleben, dann hätte er unser Geheimnis gelüftet. Welches heimtückische Gift auch der Mensch im Krieg gegen uns einsetzten wird , nichts in der Welt kann unseren Willen zum Überleben vernichten. Erinnert ihr euch an das Gift, das nach Äpfel roch? Es sollen für seine Produktion Tausende von Menschen beschäftigt worden sein. Eine Hausratte aus dem Ruhrgebiet opferte sich, und die Menschen wußten nicht mehr wohin mit den vielen Giftfässern, die ungenutzt herumstanden. Stellt euch vor, unzählige riesige Fässer waren auf einmal verschwunden. Die Menschen bekamen Angst, denn es konnte in jedem Garten Gift gelagert sein. Die Firma, wußte nicht mehr, wo die Fässer abgeblieben waren. Einfach verschwunden. Doch das Gift lauerte - auf die Menschen. Keine Ratte in unserer Gemeinschaft dagegen verschwieg es, wenn sie Gift entdeckt hat. Wir wissen, daß nach dem Leben des einzelnen das Nichts ist, während das Leben der Gemeinschaft eine unendliche Zukunft hat. Die Menschen sind unwissend, deshalb arbeiten sie so, als würden sie bis in Ewigkeit leben, und leben so hastig, als würden sie die Nacht nicht überleben. Wir haben es vom langen Leben unserer Gemeinschaft gelernt, daß eine Ratte nur ein Leben hat, in dem sie arbeiten muß und genießen kann.

Nun, liebe Freundinnen und Freunde, werde ich hinüberschreiten und das Stück Fleisch kosten. Beobachtet mich genau, liebt und vermehrt euch.

Die weise Wanderratte schritt zum Fleischbrocken. Sie drehte sich noch einmal nach den Versammelten um und lächelte. Viele wischten sich eine Träne aus den Augen und starrten traurig den tapferen Freund an. Erst am fünfundvierzigsten Tag fielen der Wanderratte die Haare aus. Die Ratten bedeckten ihren zitternden Leib mit Laub. Am achtundvierzigsten Tag starb sie. Hunderte von Ratten trugen sie zum Fluß und ließen ihren Leichnam von den Wellen des mächtigen Rheins hinabtragen. Sie kehrten zurück, entfernten die nach Jasmin duftende Nahrung, liebten und vermehrten sich.

 

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Stand: 06. Mai 2008