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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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Arbeitsgruppe

Warum geht es uns so dreckig?

"Warum geht es uns so dreckig", war das Motto einer Arbeitsgruppe und es muß wohl als bezeichnend und symptomatisch angesehen werden, daß dieser Titel so gründlich mißverstanden wurde und sich die Interessenten flugs auf zwei Räume - und zwei Inhalte verteilten. Verstanden die einen darunter den persönlichen Nerv und Probleme mit den Mitkollektivisten - und das war durchweg der Fall bei Leuten aus „jungen" Kollektiven - so konnte mit dem Titel für die seit etlichen Jahren im Kollektiv schaffenden nur eines gemeint sein: Um das Geld ging es, um die immer leeren Taschen trotz immer höherer Eigenqualifikation und Maloche. Und genau diese Frage mal vom "output" der Kollektivarbeit aufzugreifen, so radikal und überzogen, daß machte diese Arbeitsgruppe spannend.

Was hier in der Runde so einfach gesagt wird, wäre noch vor einem Jahr zwar nicht undenkbar, aber unaussprechlich gewesen: „Der Preis für's Kollektiv war mir zu hoch", resümiert ein Aussteiger und keiner protestiert. Das die Kollektivbewegung in die Jahre gekommen ist, merkt man auch an dem Drang, bislang tabuisierte Fragen zu stellen. Besonders bei jenen, die seit langen Jahren der Utopie nachhetzen, sind seit einem Jahr neue Töne aufgetaucht. Zumindest in den größeren und seit Jahren existierenden Betrieben bestimmen die Marktwirtschaftler die Diskussion, sind Professionalisierung und Effektivität vom Reizwort, zur Betriebsmaxime gewandelt.

Wer lange dabei ist und Kollektivarbeit als Lebensperspektive sieht, spürt den Kräfteverschleiß, sieht die Probleme schärfer und ist nicht länger bereit, sich mit den Werbeparolen von fehlender Hierarchie und selbstbestimmter Arbeit zufrieden zu geben. Können wir uns Kollektivarbeit leisten, ist nach zehnjähriger Erfahrung die ketzerische Frage.

Für etliche ist dies keine Frage mehr; verlassen haben die Betriebe nicht zuletzt jene, die wohl eher der Macherfunktion zuzurechnen sind. Er sei es leid gewesen, immer nur die Hälfte wie im normalen Betrieb zu verdienen, dafür doppelt so lange zu arbeiten und den Betrieb nie aus dem Kopf zu bekommen, umriß ein Aussteiger bündig seine Motive.

Die lockere Arbeitsatmosphäre mit ungezwungener Kaffeepause und oftmaligen Plenas hat abgedankt, jetzt sehnen sich viele nach einem abgegrenzten Arbeitsfeld und Arbeitstag, um endlich wieder anderen Dingen nachgehen zu können – auch politischen Aktivitäten. Effektivere Strukturen und Spezialisierung sind gefordert; Rotation ist längst auf der Strecke geblieben. Im Mittelpunkt der Kritik stehen die Schwachstellen – die leistungsschwachen Mit-Kollektivisten. Hier meint man das Übel geortet zu haben. Denn das in Kollektiven unproduktiver und real weniger gearbeitet wird als bei der kapitalistischen Konkurrenz, sind sich alle einig.

Derweil aber ziehen Leute klammheimlich ihre Konsequenzen und Leine, weil sie es leid sind, den Murks der anderen auszubügeln oder ökonomische Chancen nicht zu nutzen: dabei kristallisiert sich die Frage immer wieder an der Gehaltshöhe und geht doch weit darüber hinaus.

Besonders scharf sind die Probleme regelmäßig dort, wo mittlerweile millionenschwere Maschinenparks ausgelastet werden müssen, Termindruck und knochenharte Konkurrenz zu herkömmlichen Betrieben herrscht. Gesucht wird überall die gelernte Fachkraft mit hoher Kompetenz und Einsatzwillen: Die mühsame Entwicklung von vollständigen Kollektiv-Persönlichkeiten können wir uns nicht leisten, hieß es dazu in einer Arbeitsgruppe. Leistung ist der Maßstab; der noch vor wenigen Jahren gepriesene „unproduktive" und trotzdem wichtige Stimmungsmacher ist längst auf der Strecke geblieben. Nicht umsonst erregten sich etliche der auf dem Kongreß Überrepräsentierten Macher in verschiedenen Arbeitsgruppen über die „Jobber": Jene, die einen lässigen Arbeitsplatz haben wollen, ohne sich viel engagieren zu müssen und sich als „Unternehmer" zu fühlen. Mehr-Wissen bedeutet lediglich Mehr-Arbeit und Verantwortung, habe sie herausgefunden. Da tun sich selbstgesetzte Grenzen der Belehrbarkeit auf, an der alle Inhalte kollektiven Daseins selbstbestimmt abprallen.

Sei nicht in solchen Fällen die totale Mitbestimmung verfehlt und selbst unterschiedliche Bezahlung gerechtfertigt? Dies stand als Frage im Raum. 

Man habe viel gelernt, konkurrenzfähige Betriebe aufgebaut, Selbstbewußtsein und Kompetenz erworben, werteten die Anwesenden den persönlichen Erfolg der Kollektivarbeit positiv. Aber jetzt ist der Anfangselan vorbei, wo Begeisterung eine effektivere Arbeitsorganisation ersetzen half. Die „Oldtimer" sind es leid, die gleichen Diskussionsprozesse mit neuen Leuten immer wieder durchzumachen. Eigene kostspielige Lernprozesse werden den „Neuen" nicht mehr zugebilligt.

Glauben wir eigentlich noch, daß Kollektivarbeit eine Alternative für „normale" Menschen sein kann? fragten sich mehrere Selbstverwalter. Müssen wir uns damit abfinden, daß wir durch die Kollektivstruktur „unproduktiver" sind als kapitalistische Betriebe oder liegt vielmehr in der Suche nach immer leistungsorientierteren Leuten der Irrweg? Treiben die geringen Einkommen nicht nur die Leute aus dem Kollektiv, sondern verhindern auch, überhaupt zum möglichen Arbeitsplatz für „Einsteiger" zu werden? Verhindern wir aber nicht zugleich durch die hohen Qualifikationsanforderungen, daß wir Leute finden?

Einzelne Selbstverwaltungsbetriebe haben reagiert. So erleichtert der Frankfurter „Blätterwald" den Einstieg neuer Leute durch bessere Bedingungen, als sie für die Alt-Kollektivisten gelten: begrenzte Arbeitszeiten und Verantwortung. „Wir bekommen nicht die Leute, die wir wollen, deswegen nehmen wir die, die wir kriegen und hoffen, die wachsen rein."

Über die Frage der hemmungslosen Effektivierung, über Hierarchie, dem Ruf nach leistungsstarken Schaffern und – bisher undenkbar – leistungsbezogenen Gehältern wurde freilich wieder die entscheidende Frage deutlich: Ein durchrationalisierter Betrieb stand schließlich als Ziel nicht am Ausgangspunkt der Selbstverwaltungswirtschaft. Wenn aber Kollektivarbeit ihren Preis hat, für welche Inhalte sind wir bereit, zu zahlen? Für die einen bleibt es ein unlösbarer Widerspruch, sozial- und marktwirtschaftlich zugleich sein zu wollen. Für andere ist das längst nicht klar. Sie erwarten von einem funktionierenden Kollektiv immer noch eine höhere Produktivität als vom hierarchisch zerrissenen Normalbetrieb. „Auf wirtschaftlicher Ebene konkurrenzfähig zu sein, reicht mir nicht aus", meinte einer. „Wir müssen leben mit der allseitig unterentwickelten Persönlichkeit", inklusive der sozialen und leistungsmäßigen Unterschiede. Notwendiger als die Suche nach den „Supermännern" sei eine Arbeitsteilung und Spezialisierung – und auch Leistungsfunktionen bei komplexen Arbeitsabläufen. Denn genau durch das tägliche Betriebs-Chaos verlängert sich der Arbeitstag und geht das Geld verloren. Eines aber bleibt neben der Finanz-Transparenz verzichtbar: Egal an welchem Arbeitsplatz jemand stehe, entscheidend sei, das jeder sich „einbringen" und mitentscheiden könne – wer dies will.

Gerd Nowakowski

 

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Stand: 27. Juli 2008