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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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Alternativer Wohlfahrtsverband

Konkurrenz belebt die Inhalte - auch im Sozialbereich

Annette Schröhr, Redaktion Bremen - In Hamburg hat sich ein neuer Verband gegründet (wie das?, der Setzer), der als qualitativ neues Moment den Versuch von Konkurrenz in Zielen und Arbeitsweisen gegenüber den traditionellen Wohlfahrtsverbänden wagt: Ein Dachverband als Interessenvertretung von Initiativen im Sozialbereich (siehe CONTRASTE Juli/August).

Daß bereits im Vorfeld die linksüblichen Quengeleien durch unterschiedliche Fraktionen das — gerade in der Sozialarbeit - angestrebte Prinzip gemeinsamen solidarischen Handelns peinlichst diskreditierten und dem etablierten Lager somit wieder einmal erleichternd nachgewiesen wurde, daß linkes Bewußtsein im Menschen nicht notwendig tolerante und reflektierte Gesprächs- bzw. Verkehrsformen bevorzugt — über dies alles möchte ich lieber schweigen (denn schließlich kennen wir Linken uns ja zur Genüge).

Vielmehr scheint es mir interessanter, dazustellen, was ein Wohlfahrtsverband bisher für Funktionen besitzt. In Gesprächen mit "Nichtsozies" wurde mir eigentlich immer deutlicher, daß kaum jemand ausreichend über diese Organisationen informiert ist und daher auch nicht die Probleme eines neuen Verbandes abschätzen kann:

Wohlfahrtsverbände (WV) sind Produkte moderner Industriegesellschaften, in denen der Staat in zunehmenden Maße in die Privatsphäre gesellschaftlicher Subjekte und in den Bereich ihrer Gruppen und sozialen Formen eingreift. Dabei übernimmt er (der Staat) zugleich mit den entsprechenden Rechtsauffassungen die soziale Verantwortung und Leistungsverpflichtung. Innerhalb dieser Entwicklung zum "Wohlfahrtsstaat" kamen und kommen den traditionellen freien Trägem der verschiedenen Branchen von Sozialarbeit (oder auch Wohlfahrtspflege) als Gegengewicht zu staatlichen Alleinansprüchen besondere Bedeutung zu. Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (DPWV), Caritas, Arbeiterwohlfahrt u.a. gehören nun zu den 6 Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege, bilden also die Interessenvertretung, die Lobby von sozialen Einrichtungen gegenüber Staat und Öffentlichkeit.

Als solche sitzen sie in den relevanten Fachausschüssen, sowohl auf kommunaler als auch auf Bundesebene: Zum Beispiel im Jugendwohlfahrtsausschuß (JWA), in dem sie sich anregend und fördernd mit den Aufgaben der Jugendwohlfahrtspflege befassen. Dieser JWA ist zu Entscheidungen und Rechtshandlungen im Bereich des Pflegekinderschutzes, freiwilliger Erziehungshilfe und der Heimaufsicht befugt. In diesem Rahmen arbeiten die WV natürlich eng mit den Behörden zusammen (Jugend- und Sozialämter, Landesbehörden, Bundesministerien). Um einmal die Aufgaben zu konkretisieren: Eine therapeutische WG ist Mitglied im DPWV. Sie kann dann z.B. die komplizierten Pflegesatzverhandlungen mit den Behörden durch den Verband führen lassen, kann sich Wirtschaftlichkeitsrechnungen aufstellen lassen, kann sich Möglichkeiten und Tricks nennen lassen, wie man den Behörden und anderen Finanzquellen mehr Geld aus dem Kreuz leiert, kann sich in allen Rechtsfragen beraten lassen, kann über den Verband in den relevanten Bundesarbeitsgemeinchaften mitarbeiten, in denen Konzeptionen und Richtlinien perspektivisch entwickelt werden usw.

Diese Beispiele mögen auf den ersten Blick befriedigend wirken, doch wer im Sozialbereich arbeitet und die traditionellen Wohlfahrtsverbände näher kennt, weiß auch um deren Unbeweglichkeit. Auf die vielfältigen innovativen Momente der neuen politisch-kulturellen Bewegungen, die sich gerade im Sozialbereich niedergeschlagen haben, reagierten die Wohlfahrtsverbände nur sehr schwerfällig. Konkrete Kritikpunkte, die übrigens einige Ähnlichkeiten mit denen gegenüber den Gewerkschaften aufweisen, sind folgende:

— obwohl die Wohlfahrtsverbände über beste Kontakte zu Behörden und Landesregierungen verfügen, sind sie kaum in der Lage, auf aktuelle Gesetzentwürfe, Umstrukturierungen, neue Richtlinien (z.B. Kürzungen im Sozialbereich, Umwandlungen von stationären Einrichtungen in ambulante) unmißverständlich und in der geforderten Parteilichkeit für ihre Klienten bzw. Mitglieder zu intervenieren.

- zentralistische Strukturen der Verbände behindern eine schnelle Behandlung aktueller Themen, die sich häufig genug in bürokratisierten Arbeitsweisen verhaken und verheddern.

- das Auftreten der Wohlfahrtsverbände in der Öffentlichkeit im Sinne einer Lobby z.B. Aufklärung über Ursachenzusammenhänge der wachsenden Pauperisierung in den Städten und damit verbundenen Probleme für jede Art von Sozialarbeit, geschieht nicht offensiv genug oder unterbleibt völlig.

- neue Erkenntnisse und Erfahrungen aus selbstverwalteten Sozialprojekten werden eher als exotisch behandelt, und nicht angemessen unterstützt oder ausgewertet. Deutlich zu erkennen daran, daß die von den Wohlfahrtsverbänden getragenen Einrichtungen entsprechende Erkenntnisse erst Jahre später konzeptionell aufgenommen werden — sei es die Entstehung von Jugendwohngruppen oder seien es neue Aktivierungsansätze im geriatrischen Bereich.

Der neue Wohlfahrtsverband oder Dachverband sollte also in der Lage sein, diese Defizite zu verändern. Eine Satzung, die bisher von dem alternativen Verband vorliegt, reicht bei weitem nicht. Sie erscheint mir vielmehr als eine Willensbekundung, die sicherlich im Vorfeld des Entwicklungsprozesses wichtig ist. Die Satzung ist allerdings nicht interpretierbar als das Ergebnis einer gemeinsamen, ausführlichen, konfliktfähigen Auseinandersetzung innerhalb der Initiativen und Sozialprojekte. Geschweige denn als Ergebnis von Vorgesprächen mit den Ämtern und Behörden, mit denen die Sozialprojekte notwendigerweise zusammenarbeiten müssen.

Es ist lange an der Zeit, daß die Wohlfahrtsverbände mal den Wind von vorn spüren, vor allem, wenn er aus der gleichen Branche weht, doch sei gewarnt vor dilettantischen Versuchen, ihnen "das Handwerk zu legen".

 

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Stand: 19. Juli 2011