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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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WTO

SEATTLE:

Macht in Frage gestellt!

Proteste gegen die WTO zwischen Erfolg und Lethargie, emanzipatorischen und nationalistischen Tönen

seattle-094.jpg (37947 Byte)Die WTO-Konferenz in Seattle ist gescheitert - zumindest vorläufig. Woran es am Ende lag, kann zwar unterschiedlich bewertet werden, jedoch zeigten sich BeobachterInnen und Presse einig: Der massive Protest hat entscheidend dazu beigetragen.

Jörg Bergstedt, Reiskirchen - Das ist mehr als z.B. beim Scheitern des MAI. Die Proteste aus Basisgruppen sowie den deutlich betroffenen Menschen in ärmeren Randzonen, außerhalb der Metropolen waren dort noch eher bescheiden, aber sie trugen das Thema in die Öffentlichkeit. Bedenken einiger Nationalstaaten stellten das geheim ausgehandelte Investitionsschutzabkommen ist Frage. Über was es dann stolperte, ist schwer zu sagen. Bei der WTO-Sitzung war der Protest bereits deutlich stärker. Hinzu kamen die Uneinigkeit der Industrienationen, z.B. der Streit zwischen der EU und den USA in Agrarfragen und die mangelnde Bereitschaft, Forderungen zu Umweltschutz und Gerechtigkeit einfließen zu lassen. Das reichte. Die WTO scheiterte - und damit wurde etwas wahr, was vorher sowohl von Regierungen und Konzernen als auch von angepassten Verbänden und Organisationen (NGOs) als unmöglich abgetan wurde. Der Widerstand gegen Herrschaft und neoliberale Umgestaltung hat erstmals in einer politisch bedeutsamen Frage eine Sieg errungen - so, wie wenn der Castor-Protest einen Castor zum Umkehren zwingen würde.

Die Proteste gegen die WTO-Konferenz in Seattle sowie zum parallel ausgerufenen Global Action Day haben eine Qualität erreicht, die eine interessante Grundlage für einen neu belebten Widerstand bilden kann. Sie haben sehr vieles deutlich gemacht, aus dem heraus die Debatte um politische Positionen und Strategien weiterentwickelt werden kann. International, vor allem aber in Deutschland geht es nun darum, aus dem Geschehenen zu lernen. Linke, alternative, soziale, ökologische oder sich sonstig bezeichnende Gruppen und Zusammenhänge haben bewiesen bekommen, dass die alten Rezepte linker Kaderstruktur und langweiliger Großaktionen ebenso wenig zum Widerstand und zur politischen Veränderung taugen wie die anbiedernde Haltung der Verbände und Organisation, die meinten, die WTO in Details beraten zu müssen, weil das Gesamte doch nicht zu verhindern sei. Die Realität ist nun das beste Argument gegen NGOisierung und Kaderstrukturen. Radikale und emanzipatorische Aktion ist möglich. Es gibt eine Alternative zu Anbiederung und Kadern. Sie muss weiterentwickelt werden - in ihren politischen Positionen und der Praxis kreativer, direkter Aktion.

Gegenmacht von unten
- zur Frage der Aktionsstrategien

Die WTO in Seattle war vom Ereignis her mit dem Weltwirtschaftsgipfel im Juni in Köln vergleichbar. Die Sachfragen, die auftretenden Politgrößen und der Popanz rund um die Veranstaltungen hatten etliche Ähnlichkeiten. Nicht vergleichbar ist jedoch der Protest gewesen. Während in Deutschland (Köln im Juni 1999) einerseits linke Dominanzkultur vorherrschte und von wenigen dominierte Kader zentrale "linksradikale" Demonstrationen planten sowie andererseits bürgerliche und angepasste Verbände in einem zweiten Bündnis ihre Forderungen auf SPD-Programmatik runterdebattierten und sanfte Kongresse und Veranstaltungen durchführen, galt in Seattle das Ziel eines vielfältigen, auf handlungsfähigen Basiszusammenhängen basierenden Aktionskonzeptes. Das war nicht ganz neu: Am vergangenen Global Action Day, eben aus Anlass des Kölner Weltwirtschaftsgipfels, zeigte sich die deutsche politische Bewegung zwar erstarrt und konzeptionslos, in London aber wurde am 18.6.99 schon ausgeführt, was in Seattle dann noch in größerem Maßstab funktionierte. Doch nur wenige politische Gruppen nahmen damals wahr, was in London geschah (siehe unter http://www.j18.org oder dokumentiert im Köln-Reader "Vom Gipfel kann es nur noch aufwärts gehen ..."). Noch schlimmer: Angepasste Verbände oder linke Kadergruppen verurteilten die offenen Aktionsstrukturen mit dem Hinweis, dass dann auch bürgerliche oder rechte Gruppen mitmischen konnten, andere verurteilten die Radikalität. Und sie feierten ihre zentralistischen und überwiegend inhaltsleeren Demonstrationen in Köln als Erfolg ab.

Wenn Seattle in Deutschland gelegen hätte, dann hätte es in der Vorbereitung die klassischen Probleme gegeben:

* Verbände und Organisationen (NGOs) hätten gefordert, sich von Gewalt zu distanzieren und auch nur solche Aktionskonzepte zu fahren, die Gewalt unmöglich machen. Dazu hätten sie ihre Konzepte im Vorfeld mit der Polizei absprechen wollen.

* Über die Aktionsinhalte wäre es zum Streit gekommen, weil gefordert worden wäre, alle beteiligten Gruppen müssten genau die gleichen Positionen haben. Darüber wäre es zum Streit gekommen, das Bündnis hätte sich in mehrere gespalten, innerhalb der Teilbündnisse wäre es zu weiteren Ausgrenzungen gekommen.

* Als Mittel, sich Dominanz zu verschaffen, wären die Androhung des Entzugs von Geldern oder Infrastruktur von Seiten einiger oder aller NGOs, direkte Beschimpfungen oder Ausgrenzungen von Seiten kaderorientierter, linker Gruppen sowie das Einforderung von wichtigen (natürlich den eigenen) gegenüber unwichtigen Politikfeldern ständig vorgekommen.

* Durch die Kooperation erheblicher Teile politische Bewegung mit Presse, Polizei und Staat wäre es letzteren leicht gefallen, selbstorganisierte und kreative Aktionsgruppen abzutrennen und als Splittergruppe nach Belieben zu schikanieren. Vor allem die NGOs hätten sich wahrscheinlich noch öffentlich von Direkten-Aktionsgruppen distanziert.

* Während sich NGOs in Sachen Öffentlichkeitsarbeit vor allem an den Interessen der bürgerlichen Medien ausgerichtet hätten, würden Medien, die sich zur politischen Bewegung zugehörig oder als linke Opposition verstehen, zum großen Teil der konkreten Aktion skeptisch gegenübertreten und sie entweder verschweigen oder statt einer kritischen Begleitung und Mitwirkung vor allem arrogant Missstände zum grundlegenden Übel hochstilisieren und kreativ-vielfältige Aktionsstrategien auszugrenzen versuchen.

Genau so lief es in Köln - und viel davon war auch wieder in der Vorbereitung des Global Action Days in Deutschland bzw. der kritischen Arbeit an der WTO-Tagung zu sehen. Nur ein Höhepunkt: Bundesdeutsche NGOs stimmten ihre Strategie in Seattle vor allem mit Regierungsinstitutionen ab und beauftragten Klaus Töpfer, ihre Positionen in die WTO einzubringen. Töpfer war unter der Regierung Kohl u.a. Umweltminister und ein Befürworter nicht nur der CDU-Politik, sondern im besonderen auch der Atom- und Gentechnik ... Die NGOs forderten Verbesserungen in der WTO und lehnten weitgehendere Forderungen zur Abschaffung der WTO oder die Absage des WTO-Treffens als illusorisch ab.

NGO-Zeitschriften verschwiegen die Aktivitäten zum Global Action Day, die meisten "linken" Medien ebenfalls. Die Jungle World berichtete zweimal vor allem über rechte Gruppen im Widerstand, ohne die tatsächlichen Aktionen in Deutschland auch nur ein einziges Mal überhaupt zu erwähnen. Flugblätter mit dem Aufruf zum Widerstand am 30.11. wurden von Jungle-World-AnhängerInnen weggeschmissen!

Nur einige Beispiele für viele ... aber das, was trotzdem am 30.11. stattfand, war die beste Antwort!

Der Global Action Day im Überblick

seattle-060.jpg (27017 Byte)Die Auseinandersetzungen in Seattle waren zweifelsfrei der Höhepunkt des WTO-Widerstandes. Bis zu 50.000 Personen aus vielen Organisationen und Gruppen und mit vielfältigen Aktionsideen machten der WTO das Leben schwer. Der AugenzeugInnenbericht zeigt, dass nichts weiter von der Realität entfernt liegen könnte als die Annahme, es handele sich um ChaotInnen, die hier ein Event feierten. Ganz im Gegenteil: Die intensive inhaltliche und strategische Vorbereitung stellt das, was in den letzten Jahren in Deutschland an Aktionsformen zu finden war (vom 1. Mai über X-tausendmal quer bis zum Straßentheater) weit in den Schatten. Das war auch am 18.6. in London so - intensive Vorbereitung und inhaltliche Arbeit waren die Grundlage für den Aktionstag.

seattle-088.jpg (34208 Byte)In etlichen weiteren Städten der USA kam es noch zu kleineren Protestmärschen oder Einzelaktionen. Gleiches gilt international: In vielen Ländern kam es zu Streiks, Demonstrationen oder kleinen Aktionen wie der Anschlag auf die Shellzentrale auf den Philippinen oder Aktionen gegen McDonalds in mehreren Städten. Besonders betroffen war die WTO-Zentrale in Genf. Sie wurde schon vor dem 30.11. symbolisch besetzt und am Global Action Day durch einen Anschlag auf die Stromversorgung gestört.

Der Widerstand war weltweit mit den auch beim letzten Global Action Day sowie den internationalen Treffen und Netzwerken z.B. von PGA (Peoples Global Action) bekannten Schwerpunkten (Lateinamerika, Indien, Westeuropa) und weißen Flecken (u.a. Afrika, Teile von Mittel- und Osteuropa).

Erstmals gab es diesmal auch etwas breiteren Protest in Deutschland. In ca. 10 Städten kam es zu organisierten Aktionen, in einen weiteren zu kleinen oder spontanen Attacken auf Symbole des Neoliberalismus. Die Aktionsspanne reichte von zivilem Ungehorsam im Straßenverkehr (z.B. in Hannover oder Tübingen) über Sachbeschädigung z.B. gegen die Modernisierung von Bahnhöfen, Straßentheater, Aktionen vor ausgewählten Großkonzernen oder anderen Symbolen neoliberaler Ausbeutung (u.a. Siemens, adecco, Expo 2000) sowie gegen Abschiebung und ihre Handlanger (z.B. Lufthansa) bis zu größeren Protestumzügen mit kreativen Aktionen z.B. in Berlin auf der Spackparade oder in Bochum auf der Ruhrpott Action Party, wo neben gelungenen Kleinaktionen allerdings noch viele TeilnehmerInnen das klassische linke "Gelatsche in schwarz" praktizierten und Symbole wie die Lufthansafiliale, Burger King oder die Deutsche Bank geschont wurden. Sehr unterschiedlich waren die TeilnehmerInnenzahlen in den verschiedenen Städten. Die größte Aktion war die Spackparade in Berlin mit ca. 1.000 TeilnehmerInnen.

Resümee:
Ein Erfolg, wenn es ein Schritt zu mehr wird

Der Global Action Day unterschied sich von sonst typischen Ein-Punkt-Bezügen in politischen Bewegungen in Deutschland darin, dass von vorneherein die Idee bestand, den 30.11. als ersten Schritt politischer Praxis hin zur Entwicklung einer breiten Widerständigkeit gegen die Ausbeutung von Mensch und Natur zu begreifen. Solche Debatten haben auch tatsächlich in etlichen Städten stattgefunden. Ziel war und ist es, aus den klassischen Themenfeldern und Ein-Punkt-Bezügen auszubrechen und einen Widerstand zu entwickeln, der die Machtfrage stellt. Den neoliberalen Weltbildern, in denen Mensch und Natur der profitablen Verwertung unterworfen werden, sollen emanzipatorische Gegenbilder entgegengestellt werden. Eigene Visionen, die Verweigerung und der Kampf gegen die Herrschaft der Ökonomie, der Konzerne, der Nationen und aller Institutionen, die sie stützen, gehören zu den Elementen dieses Widerstandes. Er entsteht nicht aus der Retorte, sondern aus der Debatte um Strategien und aus der Realisierung als politische Praxis.

Der 30. November wäre, ohne diese Hoffnung auf eine intensive Weiterentwicklung, kaum von politischer Bedeutung gewesen. Eine öffentliche Wirkung des Widerstandes in Deutschland war nur in einigen Regionen vorhanden. Etliche Aktionen waren immer noch zaudernd oder erstarrt - wie die politische Bewegung in Deutschland halt ist (und sicher nicht nur dort). Wenn aber die Debatte weitergeht, wenn die Bündnisse breiter werden, Grenzen überwunden und kreative Aktionsstrategien gefunden werden, dann ist der 30.11. der erste Tag politischer Praxis eines Stranges geworden, der vielleicht wesentliche Bedeutung erlangen kann. Und darüber gibt es berechtigte Hoffnung: Die ersten Nachbereitungstreffen zeigten gewachsene Entschlossenheit, die gemeinsame Aktionsfähigkeit über Grenzen hinweg weiterzuentwickeln. Weitere Regionen wollen die Debatte aufnehmen.

Die nächsten Schritte:
1.5. und Expo 2000

Die bisherige Diskussion beinhaltet neben den regionalen Aktionen und politischer Praxis zwei weitere Ereignisse als Kristallisationspunkte im Jahr 2000. Am 1.5. findet der nächste Global Action Day statt - und damit die Möglichkeit, Aktionsformen und Bündnisse weiterzuentwickeln. Hauptereignis aber wird dann die Expo 2000 sein. Sie zeigt im Kern eine Welt von morgen - ausgerichtet an Verwertungsinteressen der Konzerne. Das lässt sich nutzen für einen kreativen und direkten Widerstand für eine emanzipatorische Welt, gegen alle (!) Institutionen der Herrschaft von Nationalstaaten über Konzerne, Wirtschaftsinstitutionen, Gefängnissen, Armeen oder den Grenzen mit ihrer Bewachung und gegen alle sozialen Verregelungen der Ungleichheit zwischen Menschen. Die Vision des sich entwickelnden Widerstandes, der auch in seinen inneren Strukturen emanzipatorsicher Ansprüche verwirklicht und Anbiederung an Staat und Konzerne genauso vehement ablehnt wie Dominanz und Kader, könnte der einfachen Losung entspringen: London - Seattle - Hannover ...

Weitere Infos im Internet, u.a. über die deutsche 30.11.-Seite http://come.to/n30.de.
In Berlin hat der Infoladen Daneben einen Pressespiegel erstellt zu Seattle, der für drei DM erhältlich ist: Liebigstr. 34, 10247 Berlin Tel.: (0 30) 42 01 72 79. mail: daneben@mail.nadir.org Das Gegeninfobüro hat ganz viele Bilder (und Berichte) gesammelt: http://www.gib.squat.net/millenium/

 

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Copyright © 1999 CONTRASTE Monatszeitung für Selbstorganisation
Stand: 07. August 2008