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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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September 1999

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20 JAHRE WAGNER & CO, EIN PORTRAIT

Hat Selbstverwaltung heute viele Namen?

Sept.jpg (123290 Byte)Erst selbstverwalteter Pionierbetrieb, dann Marktführer in der Nische Solartechnik sowie einziger Anbieter von Regenwassernutzungsanlagen und nun als innovatives Umweltunternehmen mit mehr als 100 MitarbeiterInnen erwachsen geworden: Wagner & Co im hessischen Cölbe hat seine Firmenstruktur mehrfach umstrukturiert, dennoch mehrere Gründungsprinzipien beibehalten und ist heute einer der größten selbstverwalteten Betriebe in Deutschland. - Gründe genug, ordentlich zu feiern, was im Mai und Juni mit der Eröffnung des europaweit ersten Bürogebäudes mit Passivhausstandard gebührend getan wurde. Grund aber auch, zurückzublicken sowie das Erreichte öffentlich zu diskutieren. CONTRASTE-LeserInnen haben in unserem Schwerpunkt Gelegenheit, Details zur heiklen Suche nach geeigneten neuen MitarbeiterInnen, der laufenden Lohndiskussion sowie zu den heutigen internen Entscheidungsstrukturen zu erfahren. Es sollte kein oberflächlicher Bericht von aussen werden, sondern verschiedene Wagner-MitarbeiterInnen reflektieren selbst ihren Betriebsalltag und geben ihre Diskussionen wieder, denn "selbstverwaltete Großbetriebe haben keine Vorbilder". Spricht daraus bereits der leise Stolz des früheren Pionierbetriebs und jetzigen jungen Erwachsenen, es ohne Vorbild geschafft zu haben? - Den Anfang macht der Bericht vom Treffen einiger ähnlicher Großbetriebe bei Wagner & Co.

Dietmar Schlosser, Cölbe - Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 20-jährigen Firmenbestehen, fand im neuen Passiv-Solarhaus von Wagner & Co ein Symposium mit Betrieben in Selbstverwaltung statt. "Hat Selbstverwaltung heute viele Namen?", lautete das Motto.

Die Betriebe SOLVIS, PSI, die tageszeitung, die Lehrerkooperative, und Wagner & Co
(*) stellten ihre wichtigsten Entwicklungsschritte in den letzten Jahren vor. Das Spektrum reichte von Strukturänderungen, der Kapitalbeschaffung für weitere Investitionen bis zur Gründung einer Aktiengesellschaft. Die Veranstalter haben aus aktuellem Anlass die Veranstaltung auf große selbstverwaltete Betriebe konzentriert, weil diese mit anderen Realitäten beim Kampf ums Überleben befasst sind als z.B. kleinere Handwerkerkollektive und sie keine "Vorbilder" haben. Die Diskussion leitete Burghard Flieger, CONTRASTE-Redakteur und Genossenschaftsexperte.  

Zahlreiche "normale" Betriebe versuchen derzeit, die Motivation und Identifikation Ihrer MitarbeiterInnen mit dem jeweiligen Betrieb durch flache Hierarchien, Investivlohn etc. zu verbessern. Sie steuern ihre Führungsstile und die Organisation hin zu einer stärkeren Mitbestimmung und Partizipation der Angestellten und Arbeiter. Demgegenüber orientieren sich größere selbstverwaltete Betriebe an den kapitalistischen Betrieben und führen Hierarchien und individuelle Verantwortungsbereiche ein, beschaffen Kapital durch Investoren außerhalb des Betriebes und Räumen ihnen teilweise weit reichendeweitreichende Befugnisse ein. Basisdemokratie verliert dabei an Bedeutung und Elemente der repräsentativen Demokratie prägen die Entscheidungsstrukturen. Dadurch sollen die Betriebe innovativer, produktiver und wirtschaftlicher arbeiten, um im Wettbewerb überleben zu können.

Scheitern oder Wandeln?

Das bereits im vergangenen Jahrhundert formulierte Oppenheimer'sche Transformationsgesetz schwebte über den Beiträgen und Diskussionen. (vgl. Kasten Seite 7) Stehen selbstverwaltete Betriebe in verschiedenen Entwicklungsphasen tatsächlich vor der Frage: Scheitern oder Wandeln?

Ali Saghati von PSI betonte, dass von Außen nur der persönliche Vorteil interessiere, interne Unternehmensabläufe und -ziele seien von nachrangiger Bedeutung. Demokratie im Betrieb könne also nur mit einem unmittelbaren Nutzen für den Kunden zum Erfolg führen. "Wollen die Betriebe überleben und ihren MitarbeiterInnen ein gesichertes Einkommen bieten, müssen sie sich professionalisieren d.h. Produkte/Leistungen verkaufen, die von den Nachfragern gewünscht werden," so Saghati weiter. Dabei würden Preis, Qualität, Distribution und die Kommunikation eine wichtige Rolle spielen.

Je nach Genossenschaftstyp und ihrer Ausprägung können unterschiedliche Kriterien definiert werden, wann ein Betrieb in eine Krise gerät - sich wandelt oder scheitert. Weitere Scheiterungsgründe für selbstverwaltete Betrieb und Genossenschaften sieht Burghard Flieger insbesondere in einem entstehenden Wertedissens und einem Generationskonflikt. So gebe es im Grunde zwei Wertegruppen in den Betrieben, die Marktorientierten und die Werteorientierten. In Krisenzeiten gewinne die "Ökonomiefraktion" die Oberhand und innere Strukturen würden zum Nachteil der werteorientierten MitarbeiterInnen geändert. Im Durchschnitt müsse alle sieben Jahre mit ökonomischen Krisen gerechnet werden, die Strukturanpassungen erforderten.

Laut Burghard Flieger entstehen Generationskonflikte oft, wenn neue MitarbeiterInnen nicht eingegliedert werden können: "In selbstverwalteten Betrieben gibt es nie Lob und neue Ideen werden leicht abgebügelt (obwohl sie nach drei Jahren dann doch eingeführt werden). Die "Neuen" brauchen ca. 2-3 Jahre, um anerkannt zu werden. Ohne "breites Kreuz" entstehen Schwierigkeiten, die oft in ein Arbeitnehmerverhalten führen." Es gelte für die Betriebe, die genossenschaftliche Handlungskompetenz zu fördern, indem sich alle MitarbeiterInnen in diese Richtung entwickelten.

Beteiligungsmodell

Ein anderes Problem größerer selbstverwalteter Betriebe ist die Finanzierung von Investitionen, denn Wachstum bedeutet auch in Gebäude, Maschinen und innovative Produkte zu investieren. Reicht die Eigenkapitalbasis nicht aus, dann finanzieren häufig die Banken und machen den Betrieb abhängig von Kreditprüfern. Um diesem Problem aus dem Wege zu gehen, hat SOLVIS ein Beteiligungsmodell entwickelt. Stille Teilhaber kaufen als Kommanditisten der SOLVIS Solarsysteme GmbH Anteile im Wert von mind. 5.000 DM und finanzieren damit die notwendigen Investitionen. Die Interessen der Teilhaber werden über einen Beirat vertreten, der mit der Geschäftsleitung in ständigem Kontakt steht. Das Problem der direkten Einflussnahme der Teilhaber auf das Unternehmen SOLVIS Solarsysteme GmbH, wird durch die Gründung der SOLVIS Energiesysteme GmbH & Co KG gelöst. Das neue Unternehmen ist für den Vertrieb verantwortlich, so dass wesentlichen Bereichen des Betriebes die MitarbeiterInnen selbstbestimmt handeln und entscheiden können.

Demokratisch, solidarisch und erfolgsbeteiligt

Insgesamt waren sich fast alle TeilnehmerInnen dahingehend einig, dass bei größeren selbstverwalteten Betrieben ein ständiger Anpassungsdruck besteht, der über die Jahre zu erheblichen Strukturveränderungen führt. Trotzdem gibt es Betriebe, die einen Betriebsrat einführen, die MitarbeiterInnen nicht mehr am Gewinn beteiligen oder nur noch eine eingeschränkte Transparenz über betriebliche Entwicklungen aufrecht erhalten und dennoch ihren Betrieb als selbstverwaltet erklären. Hat die Selbstverwaltung viele Namen? Eine klare Antwort konnte in der Diskussion nicht gefunden werden. Auf jeden Fall bietet Selbstverwaltung ein breites Spektrum an Möglichkeiten, einen größeren Betrieb nach demokratischen, solidarischen und erfolgsbeteiligten Überzeugungen zu führen.

(*) SOLVIS, Herstellung und Vertrieb von solarthermischen Anlagen, Braunschweig, ca. 65 Mitarb.; PSI AG, Gesellschaftfür Prozesssteuerungs- und Informationssysteme, Berlin, ca. 600 Mitarb.; die tageszeitung, taz-Verlagsgenossenschaft e.G., Berlin, ca. 250 Mitarb.; Lehrerkooperative e.V., Bildung und soziale Projekte, Frankfurt a.M., ca. 200 Mitarb.

 

 

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Copyright © 1999 CONTRASTE Monatszeitung für Selbstorganisation
Stand: 07. August 2008