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GÖTTINGEN: 164 MENSCHEN ALS TERRORISTEN VERDÄCHTIGT

Einmal verdächtig, immer verdächtig

Das Heimtückische ist: sie sehen aus wie ganz normale Menschen. Doch das ist alles nur Täuschung und Tarnung. Von ziviler Polizei misstrauisch beäugt, versammelten sich Ende März 2000 seltsame Gestalten am und im Arbeitsamt Göttingen.

Dieter Poschen, Redaktion Heidelberg - Nur an den mitgeführten Waffen, Benzinkanister, Bomben, Molotowcocktails und Streichölzer konnte der aufmerksame Bürger diese Gestalten als Terroristen identifizieren. Sie sehen aus wie Du und ich und sie sind nur gekommen, um Göttingen in terror.jpg (95211 Byte)Schutt und Asche zu legen. Denn, wie jeder und sogar das Landeskriminalamt (LKA) weiß, zieht es die Täter immer wieder an den Tatort zurück.

In der Nacht zum 7. November 1997 brannte es im Arbeitsamt Göttingen. Mit furchtbaren Folgen: vier Millionen Arbeitslose mussten monatelang auf ihre Stütze warten und am Hungertuch nagen.

In Zusammenarbeit mit der Göttinger Polizei ermittelte eine Sonderkommission des LKA gegen eine imaginäre "terroristische Vereinigung". Mit dem dicken Knüppel der §§ 129/129a StGB dehnen sich die befugnisse des Staatsschutzes ins fast Unendliche aus. Die §§ 129 und 129a des Strafgesetzbuches waren und sind schon immer Ermittlungsparagrafen, die es rechtfertigen (sollen), über teilweise absurde Konstruktionen einen Fuß in die linke Szene zu bekommen und die Akteure derselben auszuleuchten und auszuschnüffeln.

Die Ermittlungen, die von der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe geleitet werden, entdeckten "gewisse Parallelen" zu einem Anschlag der Revolutionären Zellen (RZ) auf die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg im Jahr 1980. Ins Fadenkreuz der Ermittler gerieten auch bald mutmaßliche MitarbeiterInnen der "göttinger drucksache", da sich diese bekanntermaßen mit "anschlagsrelevanten Themen" wie z.B. dem fortschreitenden Sozialabbau beschäftigt. Der heute 31jährige Journalist soll zur Tatzeit Abonnent der Wiener Zeitung "Standard" gewesen sein, aus der angeblich ein Zitat in dem drei Tage nach dem Anschlag bei den lokalen Medien eingegangenen Bekennerschreiben stammen soll. Der Beschuldigte hatte bei einem Göttinger Presseausschnittsdienst gejobt, der neben ca. hundert anderen Blättern auch den "Standard" auswertete.

Weil zu einer "terroristischen Vereinigung" per Definition mindestens drei Personen und auch die Verabredung zu mehreren Straftaten gehören müssen, wurden in der Konstruktion der Staatsschützer flugs weitere an der Tat beteiligte Personen dazu erfunden sowie auch zurückliegende Anschläge in Göttingen in die Ermittlungen einbezogen.

Dass selbst das in die "Ermittlungen" einbezogene Bundeskriminalamt (BKA) keine Parallelen zwischen z.B. einem Anschlag auf das Göttinger Amtsgericht aus dem Jahre 1995, zwei ausgebrannten Fahrzeugen von Firmen, die am Bau des neuen Göttinger Polizeigebäudes beteiligt waren, dem Brandanschlag auf das Göttinger Arbeitsamt und einen 17 Jahre (!) zurückliegenden auf die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit entdecken konnten, irritierte die niedersächsischen Schnüffler nicht.

Die Zahl der Verdächtigen stieg im Laufe der Zeit auf 164 Personen, weil die Ermittler zu diesem Zweck auch alte Verdächtigen-Listen durchforsteten. In der Spudock-Datei Nr. 74 hatte die Polizei vor 18 Jahren die Namen und Daten von insgesamt 1.313 GöttingerInnen gespeichert - AktivistInnen von Bürgerinitiativen und der damals im Stadtrat vertretenen "Alternativ-Grünen-Initiativen-Liste", mutmaßliche HausbesetzerInnen, linke Rechtsanwälte oder auch einfach nur zufällige BesucherInnen von Kulturveranstaltungen und Szenetreffs.

Nach heftigen Protesten gegen diese maßlose Schnüffelei erklärte der damalige niedersächsische Innenminister Egbert Möcklinghoff (CDU) am 21.11.1983 im niedersächsischen Landesparlament, die Spudok-Datei Nr. 74 sei "gelöscht, das heißt vernichtet". Den Registrierten wurde versichert, es habe gegen sie zu keinem Zeitpunkt ein konkreter Tatverdacht bestanden. Sie seien nun nicht mehr erfasst und wieder unbescholtene BürgerInnen.

Fast 20 Jahre später tauchen eben diese Anfang der 80er Jahre illegal gespeicherten Daten von über 100 GöttingerInnen im Ermittlungsverfahren wegen des Brandanschlages gegen das Arbeitsamt im November 1997 erneut auf, ergänzt und aktualisiert durch 64 neue Namen, die wiederum der "Arbeit" der Sonderkommission 606 des LKA Hannover entstammen dürften, die Anfang der 90er Jahre mit ungeheurem technischen Aufwand, monatelangen Observationen, allein in einem Zeitraum von knapp vier Monaten 14.000 abgehörten Telefongesprächen und ähnlichem gegen Göttinger Linke ermittelte. Weitere Daten entstammen Observationen der Anti-AKW- und Anti-Castor-Bewegung, aber auch ehemalige AStA-Vorsitzende und -Referenten wurden als mutmaßliche Terroristen gespeichert.

68jährige Ehrenbürgerin auf der Liste

Neben vielen anderen, "weniger prominenten" Menschen befinden sich unter den Göttinger Dauerverächtigen auch die 68jährige Göttinger Ehrenbürgerin Else Brätigam, die seit ihrer Kindheit auf den Rollstuhl angewiesen ist; es finden sich zwei Göttinger Rechtsanwälte und ein Hamburger Anwalt; es finden sich vier Journalisten, Arbeiter und Arbeitslose, Angestellte, sogar Beamte und Unternehmer auf den Abschusslisten, die in Zusammenarbeit von Göttinger Polizei und LKA erstellt wurden. Viele der Menschen, deren Daten sich auf der Liste befinden, leben seit Jahren oder mehr als einem Jahrzehnt gar nicht mehr in Göttingen, sondern in anderen Städten, in freundlicheren Ländern und auf anderen Kontinenten.

Die im Februar 1998 vom LKA erneut zusammengestellte Liste wurde in Rahmen der Ermittlungen an das Göttinger Arbeitsamt weitergeleitet. Die Behörde sollte prüfen, "ob diesen Personen Leistungen versagt, gekürzt oder gestrichen wurden" und sie deshalb als mögliche Täter in Frage kämen.

Die Liste wurde auch an das bayerische LKA und das BKA wegen des Anschlages der RZ gegen die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit aus dem Jahr 1980 übermittelt, da es zwischen der Anschlagserklärung vom November 1997 aus Göttingen und der 19 Jahre alten der RZ "gewisse Parallelen" gäbe.

Akte existiert seit dem 9. Lebensjahr

Zwischenzeitlich hat sich der niedersächsische Datenschutzbeauftragte Burckhard Nedden eingeschaltet und in einem Prüfbericht festgestellt, den er dem Landtag in Hannover übersandte, dass die Verdächtigenliste rechtlich auf äußerst fragwürdige Weise entstanden sei. Die Betroffenen erwarten sich nicht viel von dessen Einschaltung. Etliche der chronisch Verdächtigen haben individuell Auskunftsersuchen an die Polizei oder die Bezirksregierung gerichtet. Es liegen auch schon Antworten vor, die aber weniger Wert als Klopapier haben: dem einen teilen sie mit, über ihn seit seinem 9. (!) Lebensjahr eine Akte zu führen, dem anderen, dass sie über ihn reinweg garnichts hätten, während ihm gleichzeitig ein Polizei-Telex über 14 (!) gegen ihn anhängige Verfahren vorliegt. Eine Sammelklage gegen die Datenspeicherungswut der Polizei wird vorbereitet.

Da für die Betroffenen der derzeit aktuellen Abschusslisten des Staatsschutzes kein Zusammenhang - weder in der Auflistung ihrer Namen noch mit einer Tat nach §129a ersichtlich ist - haben sie nun einen Verein gegründet, um sich kennenzulernen und sich mit den Taten auseinanderzusetzen, derer sie verdächtigt werden. Weiterbildungskurse in Sachen Terrorismus bietet ein eigens gegründetes "Institut für terroristische Weiterbildung" an, das wissenschaftlich durch die "Ulrike Meinhof Universität Göttingen" begleitet wird. Gemeinsam most.jpg (51557 Byte)herausgegeben wurde auch schon ein "Handbüchlein zur Anleitung betreffend Gebrauches und Herstellung von Nitroglycerin, Dynamit, Schießbaumwolle, Knallquecksilber, Bomben, Brandsätzen, Giften usw., usw.". Es trägt den Titel "Revolutionäre Kriegswissenschaft" und wurde 1885 von Johann Most herausgegeben.

Außerdem wollen sie - gute Beispiele machen immer Schule - vollständige Einsicht in die Daten, die bei der Polizei über sie gespeichert sind und vollständige Einsicht in die über sie geführten Akten. Wenn sie sich überzeugt haben, was Big Brother alles über sie weiß, besser: meint zu wissen, dann steht die Frage der öffentlich zu kontrollierenden Vernichtung auf der Tagesordnung. Und eines ist jetzt schon klar: Ein billiger Wisch des "Polizeiamtes für Technik und Beschaffung" wird als Beweis für die Vernichtung nicht ausreichen. Dafür haben die Betroffenen mit diesen Behörden zu viele Erfahrungen gemacht, um denen auch nur ein Wort zu glauben.

Most, Johann: Revolutionäre Kriegswissenschaft - ein Handbüchlein zur Anleitung betreffend Gebrauches und Herstellung von Nitro-Glycerin, Dynamit, Schießbaumwolle, Knallquecksilber, Bomben, Brandsätzen, Giften usw. Nachdruck der Ausg. New York, Internat. Zeitungsverein, 1885, Solidaritätsausg. für die Göttinger Dauerverdächtigen / Einleitung der T.Error t.V., Göttingen, AktivDruck und Verlag, 2000. ISBN 3-932210-05-0.

Kontakt:
T.Error t.V., c/o Buchladen Rote Straße, Nikolaikirchhof 7, D-37073 Göttingen
E-Mail: t-error@puk.de
www.puk.de/t-error

 

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Copyright © 1999 CONTRASTE Monatszeitung für Selbstorganisation
Stand: 07. August 2008