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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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Interview SPD

Aus Wandelsblatt Nr. 1, Oktober 1984, Seite 3

 

Interview:

SPD unterstreicht die Bedeutung selbstverwalteter Betriebe

 

ppp Bonn (va). Der Ansprechpartner für Arbeitsloseninitiativen beim Vorstand der SPD, Rüdiger Reitz, hat seiner Partei dringend empfohlen, sich stärker auf die neuen selbstverwalteten, alternativen Betriebe zu konzentrieren. Reitz erklärte am Mittwoch in einem PPP-Interview, hier entwickle sich aus den sozialen Bewegungen der siebziger Jahre ein eigenständiges Wirtschaftsspektrum, das bald etablierte Unternehmen zu einem scharfen Wettbewerb herausfordern werde. In diesem Bereich würden Traditionen aufgenommen, die eigentlich zur Arbeiterbewegung gehörten. Der Referent beim SPD-Vorstand zog damit zugleich sein Fazit einer Projektmesse '84 die am Wochenende in Oberursel bei Frankfurt zu Ende gegangen ist.

PPP: Herr Reitz, Sie haben die Projektmesse '84 in Oberursel besucht. Welchen Eindruck haben Sie von dieser Messe?

Rüdiger Reitz: Die Projektmesse '84 wurde zum zweiten Mal in dieser Form veranstaltet. Zu dieser Projektmesse kamen circa 125 Selbstverwalter von Kleinbetrieben und alternativen Dienstleistungsunternehmen. Es war eine Art Leistungsschau, wenn man so will.

PPP: Hat sich denn jemand aus der etablierten Wirtschaft in Oberursel blicken lassen?

Rüdiger Reitz: Das kann ich nicht genau beurteilen. Ich habe aber festgestellt, daß unter den Besuchern auch distinguierte Herren in Nadelstreifen auftauchten.

PPP: Was zeichnete die Produkte dieser Messe aus?

Rüdiger Reitz: Das Kennzeichnende an den Gütern war, daß es sich im Wesentlichen um ökologische und sozialverträgliche Produkte handelte. Es gibt Vertreter in diesem Bereich, die diesen Ansatz als die Ökologisierung der Ökonomisierung bezeichnen. Technisch ist Kennzeichen dieser Produkte, daß es vielfach Innovationen sind, patentreife, eine geglückte Anwendung dessen, was als mittlere Technologie bezeichnet werden kann. Ein Beispiel: Da hatte ein selbstverwalteter Fünf-Mann-Betrieb aus München, der sich Sponton nennt, und der als Arbeiterselbsthilfe im Jahre 1975 seine Aktivitäten aufgenommen hat - mit heute circa 250.000 Mark Umsatz, ausgestellt, der Akkus herstellt, Beschallungsanlagen, also elektronisch wertvolles Gerät. Es wurden biologisch verträgliche Häuser gezeigt, biologischer Landbau, alternative Busunternehmen und anderes. Die Palette ist sehr breit. Dies ist meiner Auffassung nach eine Herausforderung an das etablierte Unternehmertum. Vielleicht wäre es deswegen ganz interessant gewesen, wenn diese sich die Messe in Oberursel angeschaut hätten wegen der Innovationsfähigkeit, des Gespürs für sinnvolle Produkte, die auch sozialverträglich sind, und wegen der Risikobereitschaft.

PPP: Wie reagieren Vertreter selbstverwalteter Betriebe, wenn Sie als Sozialdemokrat auf sie zugehen?

Rüdiger Reitz: Es ist überhaupt keine Feindseligkeit festzustellen und keinerlei Abneigung. Sie erwarten vielmehr von uns sehr viel. Ich will zwei Beispiele nennen. Sie erwarten von uns, daß wir die Diskussion über die Zukunft der Arbeit erweitern. Denn diese selbstverwalteten Betriebe praktizieren Vorstellungen von Arbeitsorganisation, die uns fremdgeworden sind. Sie haben Genossenschaften, Kollektive eingerichtet. Das zweite, was sie von uns erwarten, ist, daß die Bereitstellung von günstigem Kapital zur Förderung, zur Aufbau- und Anfangsförderung verbessert wird. Eine geradezu signalhafte Wirkung hat das Sieben-Millionen-Programm des Landes Hessen, das in den Landesetat eingebaut wurde, und aus dem in Zukunft alternativökonomische Projekte finanziert werden sollen.

PPP: Verbessert dieses Programm in Hessen die Situation, die Aufbaumöglichkeiten derartiger Betriebe?

Rüdiger Reitz: Ganz eindeutig.

PPP: Wie steht es denn mit den Vorzeige-Einrichtungen der Mittelstandspolitiker, den Existenzgründungsprogrammen? Werden diese in Anspruch genommen, oder gibt es bürokratische Hemmnisse?

Rüdiger Reitz: Es gibt bürokratische und auch einkommensbedingte Hemmnisse. Diese Existenzgründungsprogramme sind ja fast ausschließlich für Leute zugeschnitten, die über eine Mindestausstattung an Eigenkapital verfügen. Die Existenzgründer aus dem alternativökonomischen Bereich verfügen weniger über Kapital, dafür aber über mehr Phantasie. Und insofern muß also hier - analog zum Hessenvorstoß und auch zum Anstoß in Bremen, noch zugelegt werden. Bürokratische Hindernisse gibt es gewiß.

PPP: Worauf beziehen sich diese Betriebe? Ist ihnen bewußt, daß sie einen ganz wichtigen Zweig der Arbeiterbewegung aufgenommen haben?

Rüdiger Reitz: Ich weiß nicht, ob sie sich dessen bewußt sind. Aber sie wissen, wovon sie reden, wenn sie sagen: Genossenschafts-Selbstverwaltung sei die adäquate Form des Produzierens und Miteinanderlebens. Für die SPD muß es befremdend wirken, feststellen zu müssen, daß in diesen, jetzt auch zahlenmäßig wachsenden selbstverwalteten Betriebe, Traditionselemente der Arbeiterbewegung realisiert und praktiziert werden, die es ja auch bei uns nur noch in ganz wenigen Ausnahmen gibt. In pervertierter Form existiert diese Tradition in Coop oder anderem weiter.

PPP: Also in den großen Gemeinwirtschaftsunternehmen?

Rüdiger Reitz: In den großen gemeinwirtschaftlichen Betrieben. Es ist noch wichtig, darauf hinzuweisen, daß uns hier zwar ein Markenzeichen abhanden gekommen ist, und sich plötzlich wiederfindet bei selbstverwalteten Betrieben; daß aber auf der anderen Seite, wenn man näher hinsieht, es auch in der SPD bereits neue Ansätze gibt. Ich kann zwei Beispiele nennen. In Saarbrücken existiert die „Zukunftswerkstatt Saar", und im Bereich des Genossenschaftswesens des Siedlungsbaus gibt es eine Initiative in Hamburg, die Wilhelm-Bröscher-Siedlung, eine eingetragene Genossenschaft. Mit anderen Worten: Was jetzt auf alternativökonomischen Sektor passiert, ist die Zuspitzung von Elementen, die zur Tradition der SPD zählen. Eine Tradition, die sie viel zu wenig pflegt.

PPP: Sie sagten, diese Gruppen seien in einem raschen Aufwachsen begriffen. Ist es denkbar, daß sie in zehn oder 15 Jahren ein ernstzunehmender Faktor der Gesamtwirtschaft geworden sind?

Rüdiger Reitz: Ich kann nur davon ausgehen, was schon da ist und Fragen stellen. Eines ist sicher, auch im Selbstverständnis der Initiatoren: Die sozialen Bewegungen der siebziger Jahre, also Frieden, Öko, Frauen und vielleicht auch noch die Arbeitslosenbewegung, bekommen nun einen eigenständigen ökonomischen Ausdruck in der Selbstverwaltungswirtschaft. Das heißt: Die abstrakten sozialen Bewegungen der siebziger Jahre, die verbaldemonstrativ so stark waren, finden zu der ihnen eigenen ökonomischen Form. Diesen Zusammenhang müssen wir in der SPD aufnehmen und sehr sorgfältig überlegen. Die Zukunftsperspektive? Die Initiatoren der selbstverwalteten Betriebe werden auf gar keinen Fall Hemmungen entwickeln gegenüber den bereits etablierten Branchen. Sie werden einen scharfen Wettbewerb herausfordern. Sie werden auch ganz neue Märkte öffnen, und sie können sich dabei auf ein wachsendes Interesse bei jüngeren Leuten an diesem ganzen alternativ-ökonomischen Bereich stützen. Hier wächst eine ganz neue Käuferschicht.

In der ganzen Diskussion muß noch ein Element mitbedacht werden: da ist eine alternative Bankengründung im Gespräch. Die Ökobank, die sich in einer ganz konkreten Vorbereitungsphase befindet, ist auf der Projektmesse gewissermaßen als das wichtigste Projekt und das wichtigste Ziel definiert worden. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird der Verein der Freunde und Förderer der Ökobank nach Aussagen von Experten in der Lage sein, über dezentrale Geschäftsstellen den Bankenbetrieb aufzunehmen. Mit anderen Worten: es existiert nicht nur eine Selbstverwaltungswirtschaft in einem teilweisen noch zerbrechlichen Sinne, es entstehen konkrete Vorstellungen darüber, wie dieser Bereich finanziert werden kann - vorbei an den etablierten Institutionen. Das Stammkapital soll sechs Millionen betragen. Und auch hier appelliert man wieder an das politische Bewußtsein der sozialen Bewegung, nämlich, daß es sinnvoller ist, eine Mark bei dieser genossenschaftlich zu führenden Ökobank anzulegen, als es beispielsweise zu einem Bankinstitut zu bringen, das in Südafrika investiert beziehungsweise irgendwo in einem Rüstungsvorhaben.

PPP: Was raten Sie der SPD?

Rüdiger Reitz: Also zunächst mal müssen wir uns in die Diskussion der Genossenschaftsidee einschalten. Wir haben eine reiche Tradition in der Verwirklichung dieser Idee und wir müssen uns fragen, ob wir jetzt wirtschaftspolitisch gesehen nicht den kleineren und mittleren Unternehmensbereich sehr viel stärker fördern müssen. Nicht nur über die traditionellen Programme, sondern unter Einschluß von Modellen und Projekten, die Pilotfunktion haben, Lernbeispiele für die Partei, welche Möglichkeiten in dem Genossenschaftsgedanken heute stecken. Vor allem muß das Genossenschaftsrecht novelliert werden, damit es für diese selbstverwalteten Betriebe überhaupt ein handhabbares Instrument wird. Mit anderen Worten: Die SPD muß aufpassen, daß ihr nicht in dem Bereich der politischen Kultur, einer anderen Arbeitsorganisation Stichwort chefloser Betrieb - der Boden unter den Füßen weggezogen wird von gesellschaftlichen Gruppen, die sich den Grünen sehr viel näher fühlen als uns. Eine der wichtigsten Aufgaben der SPD wird auch darin bestehen, die Gewerkschaften an den Selbstverwaltungsgedanken heranzuführen, so daß ein differenziertes Bild entsteht. Die Formel Kapitalismus plus Nischenwirtschaft als eine mögliche Orientierung kann so nicht stehen bleiben. Es handelt sich längst nicht mehr um Nischen, sondern es ist eine Schattenwirtschaft, die aus ihrem Schatten herausgetreten ist. Die Gewerkschaften sollten dafür interessiert werden zu prüfen, wie sie auch im Bereich der Wirtschaftsförderung und der Kreditförderung diesen Betrieben helfen können.

PPP: Es ist aber nicht so, daß diese ganze Bewegung den Grünen so als reifer Apfel in den Schoß fällt?

Rüdiger Reitz: Ich kann da nur als Beispiel jemand aus einer Arbeiterselbsthilfe in Frankfurt nennen, der kein Grüner ist, der aber der SPD kritisch gegenübersteht. Er ist bereit zur Zusammenarbeit. Wichtig ist, daß die SPD kapiert, wer in den Arbeitloseninitiativen und in dieser, nennen wir es mal so, Selbsthilfebewegung als Hoffnungsträger betrachtet wird. Hier wird sich für die SPD sehr viel entscheiden. Ich habe den Eindruck, daß es noch Zeit ist, sich einzuschalten. Auf gar keinen Fall sollte aber der Versuch unternommen werden, sich unter taktischen Gesichtspunkten dieser Herausforderung zu nähern.

Interviewer: Klaus Vater

  

 

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Copyright © 1999 CONTRASTE Monatszeitung für Selbstorganisation
Stand: 30. September 2011