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Monatszeitung für Selbstorganisation

 

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10 Jahre BRDDR

10 JAHRE BRDDR:
ZEHN JAHRE VEREINIGUNG IN ZWIST UND ENTZWEIUNG - EIN MÜRRISCHER RUNDGANG

Einigkeit und recht viel Freizeit

 

gregor1.jpg (35521 Byte)Gregor Kunz, Dresden - Das Wort Wende habe ich nie gemocht. Es ist historisch besetzt seit dem Sturz Helmut Schmidts durch Helmut Kohl 1982 und mit jenem 1871er Spruchband über dem Brandenburger Tor verbunden: "Welch Wendung durch Gottes Fügung". Dass es ausgerechnet die Pappnase Krenz war, die diesen Ball ins Feld spielte, macht die Sache doppelt peinlich.

Wende heißt, auf der Stelle kehrtmachen und gegebenenfalls zurücklaufen. Wie denn anders als auf Kommando? Wende klingt blöd und riecht wie Aufschwung nach Turnhalle. Das Wort Wende, soviel dürfte damit klar sein, war die Vokabel der Wahl. Die sprachliche Besetzung von Geschichte ist Inbesitznahme (nicht nur) von Geschichte. Was an Sprachregelungen folgte, entsprach diesem Muster der einvernehmenden Reduktion: Unrechtsstaat, Diktatur, verordneter Antifaschismus, Bevormundung, Altlast, Mitläufer, unbescholten, marode und Schuld, Schuld und marode... Dieser Sprachgebrauch - vor allem in den überregionalen Medien und in der Politik geprägt und gepflegt - läßt weder differenzierte Betrachtung zu, noch die eingeforderte Aufarbeitung der deutsch-deutschen Vergangenheit. Wohl aber taugt er trefflich für Verweise und lässt auf Interessen schließen. Die Grenze zwischen unbescholten und schuldig liegt damit fest und kann in jedem historischen Atlas nachgeschlagen werden. Und nicht nur die: Ost ist wahlweise nostalgisch, trotzig, undankbar, jammrig, unaufgeklärt, demokratieunfähig, rassistisch, gewalttätig, faul, träge und minderwertig ... Deutungshoheiten haben was, wenn man sie hat, und Projektionen desgleichen, wenn man sie loswerden kann.

Günter Gaus, ehedem Ständiger Vertreter der Bundesrepublik in Ost-Berlin, findet für den Prozess Deutsche Einheit harte Worte: "Die deutsche Vereinigung ist als gestaltete Problemlösung gescheitert. Über den geistigen Horizont eines antikommunistischen Kreuzzugs, bei dem Beutemachen zu den Freiheiten gehörte, die man mit sich führte, ist der Vereinigungsprozess kaum je hinausgegangen. Sehr seltene Ausnahmen einer differenzierenden Betrachtung der gestellten Aufgabe bestätigen die Regel. Nach der herrschenden westdeutschen Vorstellung, die sich im Umgang mit den Ostdeutschen auslebte, sind die Menschen in der DDR 40 Jahre lang, soweit sie nicht Verbrecher waren, nichts anderes gewesen als verkappte Westdeutsche, die, nachdem sie endlich die Masken fallen lassen konnten, ganz und gar so sein würden, so denken und empfinden wie ihre westdeutschen Vormünder. (...)

Als die Ostdeutschen nach einer Phase der Besinnungslosigkeit auf ihren ostdeutschen Biografien beharrten, erkannte die Mehrheit der Westdeutschen daran nicht, dass sie sich geirrt hatte, sondern erhob sich, halb beleidigt und halb herablassend amüsiert, über solche angebliche Nostalgie."

Die Anfänge waren schön. Einen dieser Anfänge erlebte ich in West-Berlin. Es war ein Freitagabend im November, die Mauer grad auf und ich etliche Stunden an ihrer anderen Seite entlanggelaufen - eine Mark in der Tasche, sehr viel Neugier und etwas Beklommenheit im Herzen. irgendwann geriet ich in eine Menschenansammlung, die aus trunkenen Berlinern bestand, trunkigen Sachsen, angeheiterten Schwaben ... Jedenfalls nach dem geurteilt, was die Leute so hören ließen: Haut ab, ihr Pfeifen - Wir woll'n feiern - Nasenbär - Wat will'n der hier, ey - Flaschen - Buuh ... Von weiter her übertrug ein Lautsprecher die Stimmen diverser Politgrößen - Momper, Brandt, Genscher, Kohl. Ging es bei Genscher schon leidlich rund, so bei Kohl wirklich zur Sache: Missfallenskundgebungen aller Art und Steigerungsformen, Pfiffe und Geschrei. Als die Politiker auch noch zu singen anfingen - "Einischkeit, Und Rescht. Und Freiheit" - quittierte "das glücklichste Volk auf der Erde" (Momper) diese Zumutung und pfiff die Herrschaften so fröhlich wie geduldig nieder. Wohlgemerkt, es waren nicht etwa nur erprobte Demonstranten, die dieses Pfeifkonzert routiniert und sachdienlich unterhielten, sondern ein Volk jeden Alters und diverser Herkunft. Die Leute wollten feiern und nicht vereinnahmt werden. Das Volk folgte nicht. Mir hat das sehr gefallen.

gregor2.jpg (50494 Byte)Was Anfang Oktober 89 begann, war - bislang - die beste Zeit meines Lebens. Das Jahr 90 war großartig. Allein der Januar dauerte ein halbes Jahr - die Tage waren so lang - und zog einen Februar nach sich und einen März, die kaum nachstanden. Freilich, das Straßenfest, das nach dem Rückzug der Staatsmacht ausgebrochen war, verlor viel von seinem Charme und fast alles von seiner Spontaneität: Spätestens mit dem Auftritt Helmut Kohls in Dresden differenzierte sich die Bewegung aus, gaben Politiker und Medien wieder Ton und Richtung vor.

Es blieben freilich immer noch genug Freiräume und Möglichkeiten der Beteiligung übrig. Runde Tische zum Beispiel und ebenso improvisiert funktionale Szenekneipen, Zeitungsprojekte und Spaßguerilla-Aktionen. Der Wahlkampf der "Allianz für Deutschland"-Strategen setzte zynisch und demagogisch auf Anschluss und Ausgrenzung und schüttete in einer widerlichen Materialschlacht die "Bürgerbewegungen" schlicht zu. Mit der Währungsunion waren alle Messen gesungen und jedwede Vorstellung von eigenständiger Entwicklung und vorsichtiger Annäherung Makulatur. Das war auch der Zweck dieser Übung. Was da abgetrieben wurde, werden wir nie erfahren - nicht im Guten und nicht im Bösen. Politik ist die Kunst des Möglichen.

Aber trotzdem: Schwung und Einsicht und Illusionen des 89er Oktober, einmal in der Welt, reichten weiter. Unversehens war aus der Anstalt DDR eine demokratische Republik geworden, ein demokratisches Gemeinwesen im Zustand fieberhaften Experimentierens im weiß Gott weiten Feld zwischen Selbstverwaltung, Basisdemokratie, Staatsumbau und Kompromiss. Als sich das wirtschaftliche und politische System Bundesrepublik Deutschland im Osten - fast 1:1 etabliert hatte, war das neue vor allem das Fremde, Aufgabe und Aufgabe und gab weiter gut zu tun.

Für das Tun und Lassen vieler Leute meiner Generation habe ich mir einen Begriff aus der Soziologie geborgt: nachholende Modernisierung. Als da wären Aktivismus und Bürgerinitiativwerden, Kulturkonstruktivismus und Lebenshandwerkertum, Rückzug wie Aufbruch in die Projekte, Berufserfindung und -aufbau, das Lernen und Lernen und nochmals Lernen - nochmals vor allem und in westdeutsch zu denken, mit den neuen Gegebenheiten, in den neuen Strukturen ...

Das Jahr 91 blieb spannend. Das Jahr 92 hatte schon weniger davon, aber immerhin. Noch weniger machte 93 her. 94 hat stattgefunden und hörte auf und war vorbei mit der Ankunft im Alltag. Auch der Alltag hat etwas für sich.

Minderheiten, so funktioniert die Welt, haben sich zu fügen. Minderheiten, überschreiten sie eine kritische Masse, fügen sich nicht. Wo kämen sie auch hin.

Die Ostdeutschen sind ausgesprochen schlecht ausgerüstet in die Einheit gegangen. Sie hatten nicht die richtige Ausbildung, nicht die richtigen Berufe, die richtigen Konten und Kontostände, sie hatten ein anderes Tempo, andere Vorstellungen, andere Prägungen, berechtigte Anliegen und noch mehr Illusionen. Außerdem und vor allem waren sie schlicht zu wenige. Dass Schäuble in Gestalt von Krause den Einigungsvertrag gleich mit sich selbst aushandelte, war eigentlich nur logisch. Desgleichen, was daraus folgte: eine massive Eigentumsübertragung von Ost nach West und ein radikaler Elitenaustausch. Charme hatte das nun gar nicht mehr - nicht für einen Groschen - und auch nur wenig Größe. Verteilungskämpfe sind so.

Der Historiker Rolf Reißig schreibt dazu: "Für den Bruch im Land gibt es mehrere Ursachen: So gingen zum Beispiel 95 Prozent des Firmenvermögens, welches von der Treuhand privatisiert wurde, von Ost nach West, das heißt in die Hände westdeutscher Kapitaleigner. ähnliche Asymmetrien zeigen sich bei der Verteilung von Immobilien, Vermögen, Besitzständen."

Unterrepräsentiert ist die ostdeutsche Bevölkerung aber auch hinsichtlich ihrer Interessen und gesellschaftlichen Vorstellungen. Es ist nun einmal ein westlich dominiertes Parteien-, Verbände-, Wissenschafts-, Forschungs-, Medien- und Sportsystem. Der Anteil der ostdeutschen an der bundesdeutschen Elite liegt in der Wirtschaft und beim Militär bei null, in der Verwaltung und der Justiz bei drei, im Wissenschaftsbereich bei sieben Prozent. Und: Die Zugänge zu den wichtigen Entscheidungsprozessen sind gegenwärtig für die Bürger im Osten der Republik überhaupt mehr blockiert denn geöffnet.

Woran das auch liegt? Im Westen sah man den Osten vor allem als nachhinkendes Sondergebiet. Man empfand sich bereits als das komplette Deutschland. Das Volk der DDR, das das SED-Regime stürzte und die Einheit ermöglichte, schien auf einmal nicht mehr gebraucht zu werden. Mental findet das seinen Ausdruck auch darin, dass sich hier vier von fünf Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse fühlen. Umfragen bezeugen, "dass man sich heute zuerst als ostdeutsch und erst danach als deutsch betrachtet. Vor der Wende war das umgekehrt." (taz vom 2.10.98)

Umfragen bezeugen allerdings auch das: Zwei Drittel aller Ostdeutschen sind mit der Entwicklung in Deutschland nach der Einheit überwiegend zufrieden. Rund jeder Zweite sieht sich als Gewinner der Einheit. (Sächsische Zeitung vom 4.9.99) Wie immer man diese Umfrage sonst bewertet, lässt sich doch eins aus ihnen ableiten: Die Ostdeutschen hatten keine Chance, aber viele von ihnen haben die erstaunlich gut genutzt. Ich nenne das eine Leistung.

Ich hätte den Beruf des Journalisten vor 89 nicht ausüben können noch wollen. Autor freilich bin ich seit 20 Jahren. Was den Dauerarbeitslosen/ABMler angeht, der ich war, wäre da auch nichts drin gewesen. Ist der Wendegewinn demnach an Einkommen und Wohnstandard festzumachen? Und was soll das überhaupt heißen: gewonnen? Wahrscheinlich liegt es in meiner ostdeutschen Herkunft beschlossen, dass ich bei Gewinn und Gewinner zuerst an Lotto denke und weniger an Investition und Profit, mir die Kategorie also nicht recht tauglich erscheint. Mir geht's mal eher gut und mal eher schlecht in vielfältiger Überschneidung, aufs Ganze gesehen also durchwachsen - der Bescheid dürfte sehr häufig sein.

gregor3.jpg (59071 Byte)Ein längeres Gespräch unter Freunden, nachts nach gehabter Einkehr im "Blue Note", bestätigte das und schloß sich in seinen Schlüssen den Trends aller drei zitierten Umfragen an: Besser isses. O-jein! Im Großen und Ganzen. Gewonnen? Je nun. Behandle jeden nach Verdienst, wer ist vor Schlägen sicher! Zur Zufriedenheit bestehen nicht Gründe genug. Nieder mit der hirnbespritzten Mauer des Geldes. Nieder mit den falschen Volksfreunden! Einigkeit und recht viel Freizeit ... Einheit, wenn der Begriff jenseits der Uniformen einen Sinn haben soll, bedeutet ein einigermaßen störungsfreies Zusammenleben, Respekt und Akzeptanz auf allen Seiten, Chancengleichheit, Gleichberechtigung und Gleichbehandlung. Demokratie, ungeachtet des neoliberalen Geredes der "Neuen Mitte", bedeutet Teilhabe und Teilnahme, sozial wie politisch. Im übrigen bleibt es dabei: Wer sich grün macht, den fressen die Ziegen.

Aus: SAX - Das Dresdner Stadtmagazin, Nr. 10/99

Gregor Kunz ist freier Autor und hatte 1990 Beiträge in CONTRASTE veröffentlicht (u.a. "Neonazis in der DDR: Zunehmender Terror der Rechtsradikalen"). Er war maßgeblich an den Vorbereitungen der damals jährlich stattfindenden "Bunten Republik Neustadt" in Dresden beteiligt.

 

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Copyright © 1999 CONTRASTE Monatszeitung für Selbstorganisation
Stand: 07. August 2008